Menschen mit Demenz versorgen

Ein Beispiel der Reproduktion im Kapitalismus

Das Themenfeld "Alter" ist nahezu untrennbar verbunden mit Debatten um Demenzerkrankungen. Es gibt fast keinen Aspekt dieses Themas, der nicht öffentlich behandelt wird. Florian Bödecker diskutiert im Folgenden, was Menschen mit Demenz eigentlich brauchen und warum das Pflegesystem diesen Ansprüchen nicht gerecht wird. Dafür geht er auf die Rolle ein, die Pflege im Kapitalismus spielt.

Es ist bekannt, dass Menschen mit Demenz zu Beginn nicht wegen körperlicher Pflegebedürftigkeit unterstützt werden müssen: Sie brauchen vor allem Hilfe bei den instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens wie z.B. einkaufen oder die Finanzen regeln, müssen angesichts der Verluste durch die Demenz emotional unterstützt werden und brauchen jemanden, der die ganze Zeit zugegen ist, um unterstützen zu können, falls sie sich unsicher und hilflos fühlen.1 Insgesamt müssen pflegende Angehörige einen so hohen Betreuungsaufwand aufbringen, dass die häusliche Pflege als Vollzeitjob gilt.

Durch die Belastungsforschung und den prognostizierten Anstieg der Demenzraten ist in den letzten Jahren Demenz so stark zu einem öffentlichen Thema geworden, dass es kaum noch jemanden zu geben scheint, der davon nicht direkt oder indirekt betroffen ist oder bereits etwas darüber gehört hat. Auf die in den Fokus gerückte Frage der Versorgung von Menschen mit Demenz hat die Politik mit Reformen des Pflegegesetzes reagiert und die Leistungen für Menschen mit Demenz sukzessive erhöht. Ehrenamtliche und kommerzielle Einrichtungen wie Betreuungsvereine, Alzheimer-Gesellschaften, Tagespflegeeinrichtungen bieten Unterstützung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen an. Darüber hinaus scheint es in der Forschung kein Thema zu geben, das mit Demenz nicht in Verbindung gebracht wird: Die Bandbreite reicht von der neurobiologischen Erforschung der degenerativen Pathologien im Gehirn über die Entwicklung von psychosozialen Interventionen, um die Beteiligten zu entlasten, bis hin zur architektonischen Gestaltung von Demenz-Stationen und der Ausrichtung von Gottesdiensten für Menschen mit Demenz.

Widerspruch zwischen Hilfebedarf und Versorgung

Die Literatur zur Inanspruchnahme von Hilfe und zu psychosozialen Interventionen verweist auf den Widerspruch, dass Angehörige trotz der hohen Belastung oft keine Hilfe in Anspruch nehmen2 und dass es auch in reichen Ländern eine Versorgungslücke gibt3. Wenn die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen grundsätzlich anerkannt sind, z.B. die Belastungsforschung auf die gesundheitlichen Folgen der chronischen Pflegebelastung verweist, fragt sich, wie sich dieser Widerspruch erklären lässt: Woran liegt es, dass die vorhandenen Hilfen erstens nicht ausreichen und zweitens auch dann nicht immer in Anspruch genommen werden, wenn sie vorhanden sind?

Übersichtsarbeiten zu den Gründen der Inanspruchnahme von Hilfe4 unterscheiden persönliche, relationale, erfahrungsbasierte Faktoren und Faktoren, die in der Hilfe selbst liegen. Auf das Pflegesystem bezogen werden z.B. der bürokratische Aufwand kritisiert, den man betreiben muss, um Zugang zu erhalten, ferner die Fragmentierung des Pflegesystems, die Kosten, die fehlende zeitliche Flexibilität der Angebote, die mangelnde Kontinuität durch hohe Personalfluktuation, die mangelnde Pflegequalität und der mangelnde Einfluss der HilfenehmerInnen auf die geleistete Hilfe.

Umgekehrt gibt es in der Forschungsliteratur weitgehend einen Konsens darüber, wie Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen so unterstützt werden können, dass alle Beteiligten mit Demenz leben können, ohne zu stark in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt zu werden:

  • 1. Die Unterstützung sollte ganzheitlich sein, um der Bandbreite der vielfältigen emotionalen, medizinischen, sozialen und finanziellen Bedürfnisse der Beteiligten gerecht zu werden. Soweit Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen darauf angewiesen sind, kann hierfür ein multidisziplinäres Team hilfreich sein, um die medizinischen, pflegerischen, psychologischen und sozialen Dienstleistungen miteinander zu verbinden. Um die Unterstützung durch Bündelung der Leistung zu koordinieren und den Familien eine Anlaufstelle anzubieten, wird z.B. Case Management vorgeschlagen.

 

  • 2. Als wesentlich gilt die Symmetrie in der Beziehung zwischen Familien und professionellen HelferInnen, d.h. ein partnerschaftliches Zusammenarbeiten mit qualifizierten Fachkräften.

 

  • 3. Die Hilfe sollte über den gesamten Demenzverlauf kontinuierlich verfügbar sein, angefangen von der Diagnose (Auffangen des Diagnoseschocks) bis hin zu schwierigen Entscheidungen am Lebensende (Magensonde legen?). Als entscheidend gilt dabei die Synchronizität der Hilfe, d.h. die Hilfe muss passend sein zum Demenzverlauf, dem Tagesablauf der Betroffenen und ihrer Pflegebiographie.

 

  • 4. Schließlich gilt es als wichtig, dass diese Hilfsangebote aufsuchend angeboten werden, damit Familien die Interventionen angetragen bekommen und sich den Überblick darüber nicht selbst verschaffen müssen.


Pflege als Kostenfaktor

Man sieht, wie umfangreich die Unterstützung sein müsste und wie sehr das bestehende Pflegesystem von diesem Ideal abweicht, auch wenn zweifellos eine massive Entlastung durch Pflegeeinrichtungen stattfindet. Dieser Widerspruch wird deshalb von einigen ForscherInnen zum Anlass genommen, die Belastungsforschung zu reinterpretieren, so sie die Belastung der Angehörigen ausschließlich auf die Pflege des Menschen mit Demenz zurückführt: Nicht die Pflege an sich sei belastend, sondern die durch die Pflegeversicherung produzierte Überlastung einer Hauptpflegeperson und die daraus resultierende Familiendynamik:

  • 1. Der Grundwiderspruch der Pflegeversicherung liegt darin, dass die Ausgaben einerseits begrenzt werden sollen, gleichzeitig aber eine an der Lebenswelt und den Bedürfnissen der Gepflegten orientierte Pflege ermöglicht werden soll. Die Pflege soll dabei vorrangig von der Familie geleistet werden, die aus der Pflegeversicherung nur einen Zuschuss zur Eigenleistung bekommt.5 Wie Kunstmann ausführt, werde die Familie deshalb durch die Pflege überfordert, was für den Gepflegten wiederum im Widerspruch zu einer humanen Pflege stehe. Da die Leistungen aus der Pflegeversicherung von vornherein nicht kostendeckend sind, seien Entlastungsangebote wie Tages- und Kurzzeitpflege zu teuer. Das Pflegegeld für die pflegenden Angehörigen habe Taschengeldcharakter und sei deshalb am Bild der vom vollverdienenden Mann abhängigen zuverdienenden Frau orientiert.6

 

  • 2. Durch die Alleinzuständigkeit einer Hauptpflegeperson schüre, so Kunstmann weiter, die Pflegeversicherung die Dualisierung der Pflege und damit eine Totalisierung der Pflegewelt, weil sich die Pflegedyade vom Rest der Familie abspalten könne. Das Zurückgeworfensein auf diese Dyade könne zu Doppelbindungen und Kollisionen in der Beziehung zum/zur Gepflegten führen. Beim Pflegenden werde die Verarbeitung seiner Emotionen erschwert oder ein Tunnelblick entstehe, der verhindere, dass Hilfe von außen gesucht werde.7


Dass die Pflegeversicherung wegen ihres Teilkaskocharakters die Familie in die Pflicht nimmt und überfordert, lässt sich wiederum nur verstehen, wenn man sich den Zweck gesellschaftlicher Arbeit im Kapitalismus vor Augen führt: Pflege und Fürsorge im weiteren Sinne gehören zur notwendigen gesellschaftlichen Gesamtarbeit, weil es hier um das Aufziehen neuer und den Erhalt des Lebens schon bestehender Gesellschaftsmitglieder geht. Im Kapitalismus ist der Lebensunterhalt der Gesellschaftsmitglieder aber gar nicht der Zweck, weswegen gearbeitet wird, sondern die knapp zu haltende Kost, die der Geldvermehrung grundsätzlich im Wege steht. Da hier nur die Arbeit produktiv ist, deren Anwendung einen Gewinn abwirft, ist die Reproduktion Privatsache und soll das Kapitalwachstum möglichst wenig belasten. Sozialstaatliche Leistungen beruhen deshalb auf zwangskollektivierten Bestandteilen des Arbeitslohns, der für diese Leistungen aber gar nicht kalkuliert wird: Die Lohnhöhe bemisst sich nicht daran, dass sie auch für Zeiten von Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit reicht. Da sozialstaatliche Leistungen über die Sozialversicherungen aber die Lohnkosten verteuern bzw. die Nettolöhne verringern, werden für die Reproduktionsarbeit vor allem die Familien in die Pflicht genommen, hier insbesondere die Frauen.8 Wie diese Reproduktionsarbeit gesellschaftlich geleistet wird, unterscheidet sich von Staat zu Staat, besteht aber in unterschiedlichen Anteilen immer aus einem Mix von Familienarbeit, staatlichen Leistungen und Dienstleistungen, die über den Markt gekauft werden müssen.9 Im Unterschied zur Betreuung von Kindern, die umfassender unterstützt wird, ist die Altenpflege noch zusätzlich dadurch entwertet, dass sie keine neuen Arbeitskräfte schafft. Sie ist deshalb vorrangig den Familien überantwortet, unterstützt durch die Teilkasko-Leistungen der Pflegeversicherung.

Dass der Sozialstaat für die sozialen Leistungen genau die Klasse heranzieht, die sie benötigt, und damit die kapitalistische Eigentumsordnung unangetastet lässt10, erklärt den Grundwiderspruch, dass die Gesundheits- und Pflegeleistungen aus einer mageren Lohnsumme finanziert werden, die dafür von vornherein nicht ausreicht. Entsprechend rationiert werden die Leistungen. Durch dieses Prinzip stiftet der Sozialstaat überdies selbst die Interessensgegensätze zwischen jungen Arbeitenden und RentnerInnen, zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen und zwischen Gesunden und Kranken.11

Die Ausweitung der Leistungen für Menschen mit Demenz, die aus der Pflegeversicherung finanziert werden, steht deshalb vor dem Problem, dass sie durch sinkende Löhne mit einer knapper werdenden Lohnsumme finanziert werden soll. Die Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der insbesondere die geschilderten, zeitintensiven Bedürfnisse von Menschen mit Demenz besser berücksichtigt, ist aus diesem Grund bislang trotz verbesserter Leistungen unterblieben.12

Insgesamt führen die entfesselte kapitalistische Verwertung auf der einen und der Abbau von Sozialleistungen auf der anderen Seite dazu, dass die Pflege in der Familie prekär, weil sie immer schlechter geleistet werden kann, oder auf Migrantinnen ausgelagert wird. Ebenso führt der Kostendruck in der stationären Altenpflege dazu, dass die Pflege rationiert und den Bedürfnissen der Beteiligten nicht mehr gerecht wird.

Fazit: Zeit als Unkost

Gerade bei Demenz sind alle Beteiligten auf Unterstützung von anderen angewiesen. Soziale Isolation kann durch die Totalisierung der Pflege sowohl für den Menschen mit Demenz als auch für die Angehörigen zu einer unguten Beziehungsdynamik führen, weil beide Seiten ihre Bedürfnisse schlechter wechselseitig befriedigen können: Der Mensch mit Demenz braucht z.B. Sicherheit und das Gefühl von Wärme sowie sinnvolle Beschäftigung, was der/ die Angehörige ihm aber nicht permanent geben kann. Der/ die Angehörige steht wiederum in einer sehr engen Beziehung, bei der er/ sie gleichzeitig zunehmend den/ die AnsprechpartnerIn für seine/ ihre eigenen Anliegen verliert, weil die Beziehung trotz der weiter bestehenden Liebe für den Menschen mit Demenz nicht mehr durch die gleiche geistige und körperliche Nähe bzw. Wechselseitigkeit wie früher gekennzeichnet ist.

Dadurch zeigt sich das Phänomen Demenz im Kapitalismus gerade dann als Politikum, wenn man Zeit für das kostbarste Geschenk hält, was man Menschen mit Demenz geben kann.13 Zeit, um sich in haltenden Beziehungen sicher, wertgeschätzt und geliebt zu fühlen14, ohne dass diese Beziehungen trotz der notwendigen Fürsorge das Bedürfnis nach Freiheit durch "fürsorglichen Zwang"15 untergraben. Da diese Zeit für Menschen, die mehr Unterstützung und Fürsorge brauchen als andere, nicht Geld ist, sondern Geld kostet, zeigt sich an der Kostenform der Pflegebedürftigkeit bei Demenz zugespitzt, dass die Versorgung von Menschen im Kapitalismus nicht Zweck ist, sondern eine knapp zu haltende Größe.

Anmerkungen

1) Zank, Susanne / Claudia Schacke 2007: Projekt Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger von demenziell Erkrankten (LEANDER). Abschlussbericht Phase 2: Längsschnittergebnisse der LEANDER Studie 2007: 34-37.

2) Mast, Merle E. 2013: "To Use or Not to Use: A Literature Review of Factors that Influence Family Caregivers' Use of Support Services", in: Journal of Gerontological Nursing 39 (2013), H. 1: 20-28; hier: 20.

3) Gallagher-Thompson, Dolores / Yuan Marian Tzuang / Alma Au / Henry Brodaty / Georgina Charlesworth / Rashmi Gupta / Sang E. Lee / Andrés Losada / Yea-Ing Shyu 2012: "International Perspectives on Nonpharmacological Best Practices for Dementia Family Caregivers: A Review", in: Clinical Gerontologist: The Journal of Aging and Mental Health 35 (2012), H. 4: 316-355; hier: 317.

4) Mast, Merle E. (wie Anm. 2).

5) Klie, Thomas / Annett Böhm 2009: Sozialgesetzbuch XI. Soziale Pflegeversicherung; Lehr- und Praxiskommentar. 3. Ausgabe, Baden-Baden: 97-98.

6) Kunstmann, Anne-Christin 2010: Familiale Verbundenheit und Gerechtigkeit. Fehlende Perspektiven auf die Pflege von Angehörigen, Wiesbaden: 284, 383-389.

7) Ebenda: 228-233.

8) Haug, Frigga 1996: "Knabenspiele und Menschheitsarbeit. Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse", in: Frauen-Politiken, Berlin: 125-151.

9) Winker, Gabriele 2008: "Neoliberale Regulierung von Care Work und deren demografische Mystifikationen. Älterwerden neu denken", in: Buchen, S. / M. S. Maier (Hg.): Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel, Wiesbaden: 47-62; hier: 50.

10) Decker, Peter / Konrad Hecker 2002: Das Proletariat. Politisch emanzipiert - sozial diszipliniert - global ausgenutzt - nationalistisch verdorben; die große Karriere der lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende, München: 118.

11) Ebenda: 142-143.

12) Rothgang, Heinz / Klaus Jacobs 2011: "Substanziell und solidarisch - Zur Zukunft der Pflegeversicherung", in: Gesundheits- und Sozialpolitik. Zeitschrift für das gesamte Gesundheitswesen (2011), H. 4: 9-18, hier: 12-13.

13) Pointon, Barbara 2010: "The view of the family carer", in: Hughes, J. C. / M. Lloyd-Williams / G. A. Sachs (Hg.): Supportive care for the person with dementia, Supportive care series, Oxford, New York: 27-32; hier: 32.

14) Jansen, Sabine 2011: "Gesichter der Demenz. Eine Demenzerkrankung hat viele Aspekte", in: forum sozialarbeit + gesundheit (2011), H. 3: 11-14; hier: 14.

15) Wojnar, Jan 2009: "Was bleibt ... Lebensqualität trotz Demenz", in: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. (Hg.): "Aktiv für Demenzkranke". Referate auf dem 5. Kongress der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz. Erfurt 9.-11. Oktober 2008, Tagungsreihe der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, Bd. 7, Berlin: 475-481; hier: 480.

Florian Bödecker ist Doktorand im Graduiertenkolleg Demenz des Netzwerks Alternsforschung an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit den Paarkonflikten bei Demenz.  Kontakt: boedecker@nar.uni-heidelberg.de.