Die herrschenden Klassen sind in Bezug auf den richtigen Umgang mit der gegenwärtigen Krise und mit Europa uneins: Soll der Euro verteidigt werden, wäre eine Aufspaltung der Eurozone sinnvoller oder sollte der Euro nicht besser vollständig aufgegeben werden? Soll die Europäische Zentralbank unbeschränkt Staatsanleihen aufkaufen, oder würde dies lediglich eine verantwortungslose Ausgaben- und Verschuldungspolitik der Staaten begünstigen und geradewegs in die Inflation führen? Ist die Austeritätspolitik notwendig, um die Krise zu überwinden, oder wäre eine stärker keynesianisch orientierte Investitionspolitik notwendig? Ist eine Rückbesinnung auf den Nationalstaat und seine Kompetenzen oder ist eine Vertiefung der europäischen Integration eine sinnvolle Strategie?
Der Linken kann diese Situation nicht gleichgültig sein. Bislang gibt es kaum eine andere Haltung zur Krise als diejenige der bisher wenig erfolgreichen Abwehr: „Wir zahlen nicht für eure Krise.“ Viele Analysen orientieren sich daran, gute und technische Ratschläge zu geben, wie die Krise vielleicht doch unter Kontrolle gebracht werden könnte. Nicht, dass die Herrschenden und Regierenden darauf hörten, doch selbst wenn sie es täten, ist nicht sicher, ob das auch den erwünschten Effekt einer Krisenbewältigung hätte. Allerdings stellt sich die Frage nach dem emanzipatorischen Moment der Krise. Denn eine Krise eröffnet immer auch Handlungsmöglichkeiten, und das, was bisher so selbstverständlich erschien, kann so nicht mehr weiter gehen. Diese Emanzipationspotentiale treten in den Hintergrund, weil mit der Art und Weise, wie die Krise bewältigt wird, Tendenzen zu einer nationalistischen Spaltung zur Geltung kommen. Auch in linken Analysen der Krise erscheint das Problem als eines zwischen Deutschland und Griechenland, zwischen Frankreich und Deutschland … Die Regierung Merkel erscheint als Zuchtmeisterin, die den europäischen Staaten die Austeritätspolitik aufzwingt. Von diesen Entwicklungen ist nolens volens auch die Linke in Deutschland betroffen, die ihre Kritik an der europäischen Krisenpolitik angesichts der relativ stabilen ökonomischen und politischen Lage hierzulande nur schwer vermitteln kann.
Wir schlagen im Folgenden vor, die gegenwärtige Konstellation im Zusammenhang der Entwicklung des finanzdominierten Akkumulationsregimes zu begreifen. Die Widersprüche, die auftreten, sind spezifisch für dieses. Da es selbst nicht in Frage gestellt wird, reproduzieren sich diese Widersprüche auf immer höherem Niveau und ziehen immer weitere gesellschaftliche Verhältnisse in die Krise hinein. Vor diesem Hintergrund wollen wir einige Überlegungen zur Politik der Linken und der sozialen Bewegungen in der gegenwärtigen Situation anstellen.
1. Das globale, finanzdominierte Akkumulationsregime und seine Widersprüche
Gegenwärtig erscheint die Krise in Europa als Ergebnis staatlicher Verschuldung. Doch dabei handelt es sich um eine der Erscheinungsformen des länger anhaltenden Prozesses der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, deren offener Ausbruch von der Krise des amerikanischen Subprime-Hypothekenmarktes markiert wurde, die dann in eine Krise der Banken, im weiteren in eine Krise der Staatshaushalte und des Euro überging. Anders als es die neoliberale Ideologie seit Jahrzehnten und in der Krise erneut propagiert, haben die Gesellschaften Europas nicht „über ihre Verhältnisse gelebt“. Vielmehr sind die Haushaltsdefizite durch die staatlichen „Rettungspakete“ für die Banken, die „Konjunkturpakete“, die wegbrechenden Steuereinnahmen, die wachsende Arbeitslosigkeit sowie die in der Krise relativ zum Sozialprodukt steigenden Sozialausgaben gewachsen. Wir haben es gegenwärtig, so unsere These, mit einer multiplen Krise der bürgerlichen Gesellschaftsformation und einer großen Krise der kapitalistischen Produktionsweise zu tun. Es handelt sich um die Krise des finanzdominierten Akkumulationsregimes, das die heute bestimmende Form der Kapitalverwertung darstellt und sich seit den 1970er Jahren herausgebildet hat, um die Krise des Fordismus zu bewältigen (vgl. Aglietta 1979, Lipietz 1985). Was Europa angeht, so kommen hier noch die Widersprüche der Europäischen Währungsunion und des Europäischen Stabilitätspaktes hinzu.
Um das finanzdominierte Akkumulationsregime und die mit ihm verbundene Krise zu verstehen, ist es notwendig, die Entwicklung der Kreisläufe des industriellen Kapitals, des zinstragenden Kapitals, des fiktiven Kapitals und der Derivate näher zu betrachten2. Es lässt sich feststellen, dass das zinstragende Kapital, vor allem aber das fiktive Kapital und die Derivate in den letzten Jahrzehnten wesentlich schneller angewachsen sind als das industrielle Kapital. Der Anteil der Profite der Kapitalgesellschaften des Finanzsektors an den Profiten aller Kapitalgesellschaften in den USA ist zwischen 1947 und 2010 von 8 auf 35 Prozent gestiegen (eigene Berechnung nach Daten des U.S. Department of Commerce, Bureau of Economic Analysis, National Income and Product Account - NIPA, Table 1.14).
Die privaten Kredite von Banken und anderen Finanzinstituten stiegen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den USA von 71% im Jahr 1960 auf 202% im Jahr 2007, in Deutschland von 39% auf 105%. Die Marktkapitalisierung der Aktienmärkte stieg im Verhältnis zum BIP in den USA von 58% im Jahr 1989 auf 144% im Jahr 2007, in Deutschland von 23% auf 57% (Daten der Financial Structure Database der Weltbank). Im Jahr 2007 hatte der Markt für amerikanische Staatsanleihen ein Volumen von 4,4 Billionen Dollar, der Markt für verbriefte Hypotheken hatte ein Volumen von 7,1 Billionen Dollar, der amerikanische Aktienmarkt hatte eine Marktkapitalisierung von 21,9 Billionen Dollar. Doch das Wachstum dieser Märkte während des Booms bis 2007 nahm sich noch relativ bescheiden aus im Vergleich zum Wachstum des Marktes für Kreditausfallversicherungen, der in den 1990er Jahren praktisch noch kaum existierte und im Jahr 2007 Kontrakte im Volumen von 45,5 Billionen Dollar umfasste (New York Times, Arcane market is next to face big credit test, 17.2.2008). Im Jahr 2007 summierte sich das in Form von Krediten, Anleihen und Aktien angelegte zinstragende und fiktive Kapital global auf 202 Billionen US-Dollar. Im Jahr 1990 betrugen diese globalen Finanzanlagen 261% des globalen Sozialprodukts, im Jahr 2007 waren es 376% (vgl. McKinsey 2011: 2). Finanzanlagen sind also erheblich schneller gewachsen als das globale Sozialprodukt. Der Zusammenhang der verschiedenen Kreisläufe gleicht einer auf dem Kopf stehenden Pyramide, bei der sich die Basis, der Kreislauf des industriellen Kapitals, relativ klein ausnimmt im Vergleich zu den darauf aufbauenden Kreisläufen des Finanzkapitals, d.h. des zinstragenden Kapitals, des fiktiven Kapitals und der Derivate.
Diese ungleiche Entwicklung der verschiedenen Kapitalformen ist keineswegs zufällig. Um sie zu begreifen, ist es notwendig, historisch bis zur Krise des Fordismus in den 1970er Jahren zurückzugehen. Um der damaligen Profitabilitätskrise zu entgehen, verfolgte das Kapital verschiedene Strategien: Die Verlagerung der Produktion in die kapitalistische Peripherie oder Semiperipherie, den direkten Angriff auf die ArbeiterInnenklasse in den Zentren (Massenentlassungen, Schwächung der Gewerkschaften, Senkung der Löhne, Abbau der Sozialleistungen, Prekarisierung) und die Erschließung neuer Anlagemöglichkeiten für Kapital durch Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung. Infolge dieser Umstrukturierungsprozesse hat sich die Entwicklungsweise des Kapitalismus in vieler Hinsicht geändert.
1. In den kapitalistischen Zentren haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den herrschenden und den beherrschten Klassen massiv zu Ungunsten der letzteren verschoben. Dies lässt sich z.B. an den sinkenden Lohnquoten in den kapitalistischen Zentren feststellen, die als Indikator für steigende Mehrwertraten gelten können. So sank die bereinigte Lohnquote in Westdeutschland von 75,2% im Jahr 1974 auf 67,8% im Jahr 1991. Die gesamtdeutsche bereinigte Lohnquote sank von 69,6% im Jahr 1992 auf 61,7% im Jahr 2007, im Durchschnitt der EU-15 sank sie von 74,2% im Jahr 1974 auf 64,7% im Jahr 2007 (vgl. European Commission 2002, 73f; European Commission 2011, 92f). Die durchschnittlichen Reallöhne in den kapitalistischen Zentren stagnieren seit Beginn der neunziger Jahre. In Deutschland sank das reale Bruttoentgelt pro lohnabhängig Beschäftigtem von 1994 bis 2008 sogar um 3,3% (eigene Berechnung nach BMAS 2009). Produktivitätssteigerungen kommen den Lohnabhängigen kaum noch in Form steigender Kaufkraft zugute. Gleichzeitig nahm die Lohnspreizung, d.h. die Ungleichheit unter den Lohnabhängigen zu (vgl. OECD 2007: 268f.; ILO 2009: 24). Viele Beschäftigte mit niedrigen Löhnen sind demnach von Kaufkraftverlusten betroffen. In den USA lag sogar das reale Durchschnittseinkommen der unteren 90% der Gesellschaft im Jahr 2008 niedriger als im Jahr 1973, Steigerungen der Realeinkommen kamen ausschließlich den obersten 10% der Gesellschaft zugute (Piketty/Saez 2010: Tabelle A4). Der populäre Slogan „We are the 99%!“ der Occupy-Bewegung ist nicht einfach aus der Luft gegriffen, auch wenn der virtuelle Block der 99% aus verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen besteht: In den USA stieg der Anteil des reichsten 1% der Haushalte am gesamten Volkseinkommen von 7,7% im Jahr 1973 auf 18,3% im Jahr 2007 (ebd. Tabelle A1) 3.
Die Stagnation der Reallöhne wurde zum Teil durch eine zunehmende Verschuldung der Lohnabhängigen kompensiert. Wie Stockhammer (2007, 645) gezeigt hat, ist die Verschuldung der privaten Haushalte im Verhältnis zu ihrem verfügbaren Einkommen nicht nur in den USA, sondern auch in Japan und in einer Reihe von EU-Ländern zwischen 1995 und 2005 deutlich angewachsen. Indem die Lohnabhängigen sich verschuldeten, versuchten sie, ihre Ausgaben für die eigene Wohnung, das Auto, Krankenhausaufenthalte oder das Studium ihrer Kinder zu decken. Die zum Teil auch staatlich subventionierte Verschuldung der Lohnabhängigen ersetzte z.B. den sozialen Wohnungsbau und bezahlbare Mietwohnungen. Die herrschenden Konsumnormen, etwa die Fixierung auf Wohnungseigentum oder den Besitz eines Autos, wurden so reproduziert. In den USA, wo die jüngste Krise ihr Epizentrum hatte, entfiel der größte Teil der Verschuldung der privaten Haushalte auf Hypotheken für Eigenheime. 1983 waren die Wohnungen von 36,9% aller Haushalte mit Hypotheken belastet, 2007 waren es 48,7%. 1998 waren 71,4% der gesamten Schulden der privaten Haushalte durch Eigenheime besichert, 2007 waren es 74,7% (Kennickell/Shack-Marquez 1992: 12; Bucks u.a. 2009: A 37, A 40). Die spezifische Regulation des Hypotheken- und Kreditsektors in den USA führte dazu, dass schließlich auch diejenigen Hypotheken bekamen, die es sich „eigentlich“ nicht leisten konnten, wie sich in der Subprime-Krise gezeigt hat (vgl. Marcuse 2008, Evans 2008). Im Jahr 2001 mussten verschuldete HauseigentümerInnen durchschnittlich 13,9% ihres Einkommens für den Schuldendienst aufwenden, 2007 waren es 15,6%. Der Anteil der verschuldeten HauseigentümerInnen, die 40% oder mehr ihres Einkommens für den Schuldendienst aufwenden mussten, stieg von 14,7% im Jahr 2001 auf 18% im Jahr 2007 (Bucks u.a. 2009: A 50).
Dos Santos (2009) und Lapavitsas (2009) haben nachgewiesen, dass die Profitstrategien von Großbanken in den letzten Jahren zunehmend auf die Kreditvergabe an private Haushalte ausgerichtet wurden. De facto handelt es sich bei der Verschuldung der Lohnabhängigen um einen sekundären Ausbeutungsmechanismus. Die wachsende Verschuldung führt zu einem wachsenden Lohnabzug. Zudem verstärkt die Privatverschuldung das Moment politischer Herrschaft, da die Lohnabhängigen mittels Schulden und Zwang zur regelmäßigen Zurückzahlung diszipliniert werden (vgl. Albo u.a. 2010: 55).
Lohnabhängige sind aber nicht nur als Schuldner, sondern auch als Sparer zunehmend in das Finanzsystem involviert. Der Zufluss von Ersparnissen der Lohnabhängigen im Finanzsektor wird durch verschiedene Quellen gespeist. Zum einen hat es die Lohnbildung in der fordistischen Ära großen Teilen der Lohnabhängigen erstmalig ermöglicht, in relevantem Umfang Ersparnisse zu bilden. Dieses Geld wird seit den 1980er Jahren nicht mehr nur in Sparbüchern angelegt, sondern zunehmend auch in anderen, neu entwickelten und teilweise höher verzinslichen Sparformen wie Geldmarktfonds oder Investmentfonds. So sank der Anteil der Bankeinlagen am gesamten Finanzvermögen der privaten Haushalte in Deutschland nach Angaben der Deutschen Bundesbank von 59,7% im Jahr 1980 auf 35% im Jahr 2005. Eine zweite Triebkraft der Ersparnisbildung besteht in der gewachsenen Lohnspreizung (s.o.). Während die Reallöhne für die ärmeren Schichten der Lohnabhängigen gesunken sind, konnten die besser gestellten Teile der Arbeiterklasse und des neuen Kleinbürgertums durchaus steigende Realeinkommen verzeichnen. Je mehr die Lohnspreizung, d.h. die Ungleichheit unter den Lohnabhängigen zunimmt, desto stärker wird die Bildung von Ersparnissen bei dem wohlhabenderen Teil der Lohnabhängigen.
Die dritte Triebkraft der Bildung von Ersparnissen auf Seiten der Lohnabhängigen besteht in der zunehmenden sozialen Verunsicherung, die mit prekärer Beschäftigung und drohender Arbeitslosigkeit verbunden ist, sowie in der von neoliberaler Politik vorangetriebenen Privatisierung der sozialen Sicherung. Um sich gegen die mit der Lohnarbeit verbundenen Lebensrisiken abzusichern, sehen sich aufgrund einer entsprechenden staatlichen Politik immer mehr Lohnabhängige zur privaten Vorsorge gezwungen. Davon profitieren insbesondere die institutionellen Kapitalanleger, die die Ersparnisse der Lohnabhängigen verwalten. Das weltweit in Pensionsfonds angelegte Vermögen ist von 4,8 Billionen US-Dollar im Jahr 1992 auf 28,2 Billionen US-Dollar im Jahr 2007 angewachsen. Das weltweit in Versicherungen angelegte Vermögen ist im gleichen Zeitraum von 6,3 auf 19,8 Billionen US-Dollar gewachsen (Huffschmid 2009: 39).
Wir können also von einer zunehmenden ökonomischen und politischen Subsumtion der Reproduktion der Lohnabhängigen unter das Finanzkapital sprechen, die einerseits auf der zunehmenden Verschuldung der Lohnabhängigen beruht und andererseits auf der zunehmenden Umleitung von Lohnbestandteilen auf die Finanzmärkte und ihrer Umwandlung in zinstragendes und fiktives Kapital durch institutionelle Anleger.
2. Die Beziehungen zwischen dem industriellen Kapital und dem Finanzkapital haben sich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verändert. Durch die Deregulierung und Liberalisierung des Bankensektors und der Finanzmärkte wurden nicht nur neue Möglichkeiten für spekulative Transaktionen gefördert und zahlreiche neue Anlagemöglichkeiten für (fiktives) Kapital geschaffen. Die Eigentumsverhältnisse selbst haben sich verändert. Institutionelle Kapitalanleger wie Investmentfonds, Pensionsfonds und Versicherungen spielen eine erheblich größere Rolle als Vermittler zwischen den Sparern und Geldvermögensbesitzern auf der einen Seite und den industriellen Unternehmen auf der anderen Seite. Obwohl einzelne institutionelle Kapitalanleger häufig nur Minderheitsbeteiligungen an den Unternehmen halten, sind sie in der Lage, (z.B. durch einen angedrohten Abzug von Kapital) einen erheblichen Druck auszuüben und ihre Interessen am „Shareholder Value“ geltend zu machen, also an der Aktionärsrendite, die sich aus Dividenden und Kursgewinnen zusammensetzt.
Das Shareholder Value-Konzept besagt, dass zunächst einmal die „Kapitalkosten“ (d.h. eine durchschnittliche Verzinsung des vorgeschossenen Kapitals) erwirtschaftet werden müssen, bevor überhaupt von der Schaffung von „Wert“ für die Aktionäre die Rede sein kann. Es genügt also nicht, dass ein Unternehmen schwarze Zahlen schreibt oder einen durchschnittlichen Gewinn erwirtschaftet. „Shareholder Value“ entsteht erst dann, wenn eine Investition überdurchschnittliche Profite abwirft. Es ist klar, dass nicht alle Unternehmen überdurchschnittliche Gewinne erwirtschaften können. Doch in dem Maße, in dem sich die Unternehmen an diesem Ziel ausrichten, wird die Meßlatte für die erwartete Rentabilität höher gelegt (Sablowski 2005: 61ff).
Projekte wie das der New Economy, das auf reale Veränderungen der Produktivkräfte reagiert und diese überhöht hat, produzieren temporär hohe Gewinnerwartungen, die dazu führen, dass große Kapitalsummen in neue Branchen und neue Technologien wie das Internet, den Mobilfunk oder die Gentechnik fließen. Insgesamt dient der Aktienmarkt jedoch weniger der Unternehmensfinanzierung als vielmehr der Unternehmenskontrolle. Investmentbanken und Private Equity-Unternehmen verfolgen seit den 1980er Jahren die Strategie, Industrieunternehmen mittels der Shareholder-Value-Strategien weltweit in Wert zu setzen: Unternehmen oder Unternehmensteile werden selbst zu Waren, mit denen gehandelt wird. Die Reproduktion der Unternehmen wird von den Eigentümern bewusst zur Disposition gestellt: Jeder Arbeitsprozess, jeder Geschäftsbereich, jede Abteilung, jede Immobilie, jede Maschine wird zum Gegenstand einer genauen Kosten- und Gewinnberechnung, die über Verkauf oder Verbleib im Unternehmen entscheidet. Die Renditeerwartungen orientieren sich an der möglichen Verzinsung des eingesetzten Kapitals an den Finanzmärkten.
Aktiengesellschaften sind schon deshalb gezwungen, ihren Aktienkurs nach oben zu treiben, um eine aktive Rolle im Prozess der Konzentration und Zentralisation des Kapitals spielen zu können und einer feindlichen Übernahme zu entgehen. Da in vielen Branchen nur relativ niedrige Profitraten erzielt werden können und die durchschnittliche Profitabilität heute niedriger ist als in den 1950er oder 1960er Jahren, versuchen viele Unternehmen, ihren Aktienkurs durch Methoden des Financial Engineering nach oben zu treiben. Dem Ziel, den eigenen Aktienkurs zu erhöhen, dienen z.B. Aktienrückkäufe, die seit den 1990er Jahren enorm zugenommen haben. Steigende Kapitalausschüttungen an die Anteilseigner in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen führen dazu, dass weniger Rücklagen gebildet werden und dass der Teil der Profite, der reinvestiert wird, sinkt. Die Investitionsquoten sind in den kapitalistischen Zentren seit den 1970er Jahren in den USA ebenso wie in der BRD, in Japan, Frankreich, Großbritannien oder Italien gesunken (Stockhammer 2007, 646).
Die Industrie- oder Handelsunternehmen operieren selbst mit ihren Finanzabteilungen oder eigenen Banken spekulativ auf den Finanzmärkten und erwirtschaften auf diese Weise einen wachsenden Teil ihrer Gewinne. Sie haben wie die Banken und institutionelle Kapitalanleger kein Interesse daran, dass ihre Handlungsfreiheit diesbezüglich durch eine striktere Regulierung der Finanzmärkte eingeengt wird.
Die „Finanzialisierung“ der Unternehmen begünstigt ihre Konzentration auf „Kerngeschäfte“ und „Kernkompetenzen“, führt zur vertikalen Desintegration von Konzernen und zur Fragmentierung von Wertschöpfungsketten. Fixes Kapital gilt zunehmend als Ballast, der auf Zulieferer abgewälzt wird. Die Fertigungstiefe wird verringert und in einzelnen Branchen wie z.B. der IT- und Telekommunikationsindustrie dominieren „fabriklose“ Unternehmen, die durch die Kontrolle strategischer Bereiche wie Produktdesign und Marketing ganze Wertschöpfungsketten kontrollieren. Die Fertigung der Waren wird dabei Kontraktfertigern überlassen, die zumeist an Niedriglohnstandorten operieren (Sablowski 2003, 2005).
3. Die Internationalisierung des Kapitals hat sich erheblich weiterentwickelt. So stieg die Zahl der Beschäftigten deutscher Unternehmen im Ausland von 2,2 Mio. im Jahr 1989 auf 5,9 Mio. im Jahr 2008 (eigene Berechnungen nach Daten der Deutschen Bundesbank). Die in mehreren Wellen erfolgende Verlagerung des produktiven Kapitals an die kapitalistische Peripherie oder Semiperipherie (in die asiatischen „Tiger“-Staaten Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur, dann in weitere südostasiatische Länder, nach Lateinamerika, Osteuropa, China und Indien) hat enorme Ströme des Finanzkapitals induziert und neue Ungleichgewichte und Widersprüche geschaffen.
2. Krisenmerkmale des finanzdominierten Akkumulationsregimes
Das finanzdominierte Akkumulationsregime weist spezifische, tiefgreifende Krisentendenzen auf, die sich von denen des Fordismus unterscheiden:
1. Die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnende Tendenz der Überproduktion tritt stärker in den Vordergrund. In den kapitalistischen Zentren ist der Bedarf an langlebigen Konsumgütern wie Autos, Waschmaschinen und Fernsehgeräten weitgehend gedeckt. Diese Sättigungstendenzen werden durch das Sinken der Lohnquoten verschärft, weil die Bedeutung des Lohns als Nachfragefaktor relativ gesehen abnimmt. Auch die staatliche Nachfrage wird durch neoliberale Politiken begrenzt. Gleichzeitig sinkt aufgrund der Orientierung der Kapitalgesellschaften am Shareholder Value der Anteil der Investitionen an den realisierten Gewinnen, somit wird auch die von den Investitionen ausgehende Nachfrage eingeschnürt.
2. Die Subprime-Krise in den USA hat deutlich gemacht, dass die Verschuldung der Lohnabhängigen nicht beliebig ausgedehnt werden kann. Zinsen und Tilgungsraten müssen letztlich aus den laufenden Einkommen bezahlt werden, und diese stagnieren bzw. sind für Teile der Lohnabhängigen sogar nominal und real gesunken.
3. In den 1990er Jahren bestand insbesondere in den USA, aber auch in anderen Ländern die Erwartung, die Lohnabhängigen würden mit Aktienkäufen Gewinne machen oder könnten ihre Immobilien mit Krediten belasten, weil ihr Wert aufgrund eines – auch staatlich angeregten – Baubooms immer weiter steigen würde. Beides sollte die effektive Nachfrage steigern. Denn mit den Gewinnen aus Aktien oder Immobilienverkäufen, so wurde angenommen, könnten die Konsumenten ihre Schulden zurückzahlen. Wieder einmal wurde die Illusion vom selbsttragenden Wachstum genährt. Schon die Krise der New Economy, in der viele Lohnabhängige erhebliche Ersparnisse und Rentenrücklagen verloren, und erst recht die Subprime-Krise in den USA zeigte dann, dass diese Vermögenseffekte begrenzt sind. Die Ersparnisse vieler Lohnabhängiger wurden vernichtet, Haus- und Wohnungseigentum ging verloren, die Zahl der Insolvenzen privater Haushalte nahm zu. Auch die Grenzen privater, kapitalbasierter Formen der sozialen Sicherung wie z.B. der kapitalgedeckten Altersvorsorge wurden offensichtlich. Leistungen wurden nicht erbracht, Versicherungsprämien stiegen an.
4. Überakkumuliertes Kapital ist auf der ständigen Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten. Da ein großer Teil des Geldkapitals im Kreislauf des industriellen Kapitals nicht profitabel angelegt werden konnte, wurde es liquide gehalten bzw. in den Kreisläufen des Finanzkapitals angelegt. Durch die Privatisierung der Altersvorsorge und die Senkung der Steuern auf hohe Einkommen, Kapitaleinkommen und Vermögen vergrößerte sich die Masse des Geldkapitals auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten. Auf diese Weise kamen nicht nur die Spekulationsblase der New Economy oder der Bauboom in Spanien oder den USA zustande. Auch das Anlageverhalten von Banken in Island, Irland, Großbritannien oder Deutschland lässt sich auf diese Weise erklären. Sie investierten in die scheinbar sicheren, hochverzinslichen Finanzprodukte von US-Banken oder auf dem US-Markt operierenden europäischen Banken wie Deutsche Bank oder UBS und wurden Opfer bei der Suche nach immer neuen und noch höheren Gewinnmöglichkeiten. Über längere Zeit konnte dies gelingen, weil immer neues Geld eingeschossen wurden, um hohe Zinsen zu bedienen, doch irgendwann wurde ersichtlich, dass die Schuldner die Zinsen nicht aufbringen würden. Zwar wurde durch die Krise seit 2007 ein Teil der globalen Finanzanlagen entwertet. Von Ende 2007 bis Ende 2008 sank der Betrag dieser Finanzanlagen von 202 auf 176 Billionen US-Dollar. Doch bis Ende 2010 stieg der Betrag wieder auf 212 Billionen US-Dollar und lag damit über dem Niveau vor dem Beginn der Krise (McKinsey 2011, 2).
Die zentrale Frage, die die gegenwärtige Krise aus der Perspektive des Kapitals aufwirft, ist nach wie vor, wie eine weitere Kapitalvernichtung abgewendet werden bzw. wie sie so organisiert und eingedämmt werden kann, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht insgesamt in Frage gestellt wird. Des Weiteren wird die Frage, wessen Kapital vernichtet wird und wer in diesem gewaltigen Konflikt am wenigsten verliert, zum Gegenstand eines erbitterten ökonomischen und politischen Kampfes. Gegenwärtig konzentriert sich die Frage der Kapitalvernichtung vor allem auf die Euro-Region, doch es handelt sich im Grunde um ein globales Problem.
5. Unter den Bedingungen der verschärften internationalen Konkurrenz entwickelt sich der kapitalistische Staat zum „Wettbewerbsstaat“ (Altvater 1994, Hirsch 1995). Steuersenkungen und Subventionen für das Kapital, die Privatisierung öffentlicher Dienste und staatlicher Unternehmen, Erhöhungen der indirekten Steuern und der direkten Steuern für die Lohnabhängigen sowie der Abbau von Sozialleistungen werden zu strukturellen Merkmalen staatlicher Politik. Im Kontext der Massenarbeitslosigkeit und der häufigeren und tieferen Krisen reichen höhere Steuerzahlungen der Lohnabhängigen und der Abbau von Sozialleistungen typischerweise nicht aus, um staatliche Einnahmeausfälle durch Krisen und Steuersenkungen für das Kapital zu kompensieren, so dass strukturelle staatliche Haushaltsdefizite entstehen und die Staatsverschuldung rasch anwächst. Die staatlichen Schuldtitel bieten einerseits eine wichtige und unverzichtbare Anlagemöglichkeit für Kapital. So sind z.B. Pensionsfonds häufig gezwungen, den größeren Teil ihres Kapitals in festverzinslichen Wertpapieren (mit hohen Ratings) anzulegen. Andererseits wird die staatliche Überschuldung selbst zum Krisenfaktor, wie bereits die Schuldenkrise der frühen 1980er Jahre in Lateinamerika, die Argentinienkrise von 1998 bis zum Schuldenschnitt 2004/2005 oder die gegenwärtige Schuldenkrise in Europa zeigen. Bei staatlicher Zahlungsunfähigkeit droht die Entwertung riesiger Beträge von (fiktivem) Kapital. Dies ist unserer Ansicht nach ein Problem, das die gegenwärtige Politik der Krisenbewältigung so uneindeutig macht. Denn für die Vermögensbesitzer stellen festverzinsliche Staatsanleihen eine relativ sichere und bequeme Kapitalanlageform dar. De facto wird die Staatsschuld nicht zurückgezahlt; auslaufende Kredite werden ständig durch neue ersetzt. Mehr noch, im Grunde sind auch die Vermögensbesitzer darauf angewiesen, dass der Staat seine Verschuldung ausweitet, insbesondere dann, wenn die private Verschuldung in eine Krise gerät, wie das ab 2007 der Fall war. Wenn in der Krise die Kreditvergabe an private Akteure reduziert und Kapital aus den Aktienmärkten abgezogen wird, so werden dringend liquidere und sicherere Anlagemöglichkeiten benötigt. Daher steigt auch die Nachfrage nach Staatsanleihen. Die verschiedenen Segmente der Finanzmärkte verhalten sich zueinander wie ein System kommunizierender Röhren. Doch dies setzt voraus, dass das Vertrauen der Kreditgeber in die Staatsanleihen, d.h. die Fiktion der Rückzahlbarkeit erhalten bleibt. Die Kapitalanleger haben also das Interesse, dass die Staatsverschuldung zugleich ausgeweitet und begrenzt wird. Vor allem haben sie das Interesse, dass der Geldwert stabil bleibt. Dies soll durch die Austeritätspolitik gewährleistet werden. In der gegenwärtigen Krise besteht das Problem darin, dass sowohl viele Banken als auch eine Reihe von Staaten überschuldet sind. Überschuldete Banken wurden mit staatlichen Geldern gerettet. Doch die Staaten haben dieses Geld eigentlich gar nicht, sie müssen es sich wiederum bei den Banken leihen. Da nun die Rückzahlung der Staatsschulden in Frage gestellt ist, befindet sich der Interbankenmarkt ähnlich wie 2008 erneut in der Krise. Die Verschiebungen zwischen staatlicher und privater Verschuldung können nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass die Gesamtverschuldung einen derartigen Grad erreicht hat, dass die Reproduktion des Systems insgesamt gefährdet ist und eine massive Kapitalvernichtung unabwendbar erscheint.
6. Die räumliche Verlagerung von Kapital, der spatial fix (Harvey 2004), schafft jeweils nur temporäre Lösungen für die Überakkumulation des Kapitals. Die Vernichtung von fixem Kapital in den altindustriellen Zentren vollzieht sich oftmals langsamer als der Aufbau neuer Produktionskapazitäten in der (Semi-)Peripherie, es bestehen also – auch staatlich subventionierte – Überkapazitäten fort. Zudem müssen die in den neuen Produktionsstätten in der (Semi-)Peripherie produzierten Waren oft exportiert werden, denn die Kehrseite der dortigen niedrigen Löhne sind schwach entwickelte Binnenmärkte. Das Problem der Überkapazitäten in vielen Produktionsbereichen verschärft sich also mit der Internationalisierung des Kapitals, mit jeder Erschließung neuer Akkumulationsräume, in denen exportorientierte Entwicklungsstrategien verfolgt werden. In China konkurrieren heute u.a. amerikanische, japanische, europäische, koreanische und taiwanesische Konzerne, wobei gewaltige neue Produktionskapazitäten entstanden sind, die in der Entwicklung des chinesischen Binnenmarktes nur zum Teil ausgelastet werden können. Die chinesischen Produzenten, bei denen es sich zu einem nicht geringen Teil um ausländische Konzerne handelt, sind also nach wie vor auf die amerikanischen und europäischen Absatzmärkte angewiesen. Doch das Gewicht Amerikas und Europas in der Weltwirtschaft schrumpft. Amerika und Europa produzieren relativ gesehen weniger, es entstehen auch weniger Einkommen. China sieht sich gezwungen, international als Kreditgeber aufzutreten, damit die in China produzierten Waren überhaupt exportiert werden können. Die Prosperität in den USA der 1990er Jahre wurde durch Verschuldung finanziert. Das „sozialistische“ China wurde in den letzten 20 Jahren zum Rettungsanker des globalen Kapitalismus, ob seine Kredite jemals beglichen werden oder China nicht einen gewaltigen Tribut an die kapitalistischen Zentren geleistet haben wird, ist eine offene Frage. Zwar erhält China Zinsen für seine Kredite, doch die in US-Dollar oder Euro denominierten Forderungen werden durch die langsame Aufwertung des Renminbi schon heute teilweise entwertet. Die Subprime-Krise zeigt, dass auch die USA sich nicht grenzenlos verschulden können, obwohl der Dollar bislang immer noch als Weltgeld fungiert und die USA sich in eigener Währung verschulden können, bei einer Abwertung der eigenen Währung also nicht unmittelbar wie andere Länder in eine Solvenzkrise geraten (so lange die Kapitalanleger noch am Dollar als Reservewährung festhalten – was aber nicht selbstverständlich ist). Ein wichtiger Aspekt der Krise ist die Auseinandersetzung darum, ob der Dollar Weltgeld bleiben kann oder in der Konkurrenz mit dem Euro an Boden verliert. Gelingt es den USA, die Überakkumulationskrise auf andere kapitalistische Zentren abzuwälzen, so können sie auch weiterhin ihren Anspruch auf ökonomische und politische Führung erheben. Allerdings ist US-Kapital in großem Umfang in Europa angelegt, das durch die Krise in der EU ebenfalls entwertet zu werden droht. Die amerikanische Bourgeoisie hat sich mit der europäischen Integration nicht nur arrangiert, sie hat sie ja ursprünglich mitinitiiert und enorm von ihr profitiert. Nirgends gibt es so umfangreiche und bedeutende Kapitalverflechtungen wie im transatlantischen Raum. Die amerikanische Regierung hat kein Interesse, dass der Euro den Dollar als Weltgeld ersetzt; sie hat aber auch kein Interesse, dass die Eurozone oder gar die EU zerbricht. Die US-Regierung hat deswegen die europäischen Regierungen zu höheren Staatsausgaben und zur „Hebelung“ der European Financial Stability Facility (EFSF) angeregt. Auch private Akteure haben sich über die Konsequenzen der Austeritätspolitik in Europa besorgt geäußert. So begründete Standard & Poor’s seine Herabstufung der Ratings einiger europäischer Staaten im Januar 2012 damit, dass die Politik der Haushaltssanierung zu einer Schwächung der Nachfrage und des Arbeitsmarktes führen könnte. Das ist paradox genug, denn die Abwertung der Kreditwürdigkeit erhöht die Zinsbelastung der Staaten und führt damit zu einer Verschärfung der Austeritätspolitik.
7. Die Finanzmärkte können temporär überakkumuliertes Kapital aufnehmen. Doch können sich die Kreisläufe des Finanzkapitals gegenüber dem Kreislauf des industriellen Kapitals nur begrenzt verselbständigen. Gerade in Krisen wie der gegenwärtigen macht sich deren innere Einheit gewaltsam geltend (Marx). Nachdem die amerikanische Regierung 1971 ihre Verpflichtung, Dollars jederzeit in Gold umzutauschen, aufgekündigt hat, basiert das internationale Währungssystem im Wesentlichen auf ungedecktem Staatspapiergeld und Kreditgeld. Kreditgeld bietet für die Kapitalakkumulation wesentlich größere Spielräume, sie ist nicht mehr alleine durch den bereits realisierten Mehrwert der Vorperiode beschränkt. Allerdings werden mit der Ausweitung des Kredits auch die Widersprüche der Akkumulation in erweiterter Form reproduziert. Kredit wird nur gegeben, wenn darauf vertraut wird, dass in der Zukunft Verwertungsprozesse stattfinden, die den Rückfluss des Kredits nebst Zinsen gewährleisten. Eine schrankenlose Kreditgeldschöpfung ist also nicht möglich, da der Rückfluss des Kreditgeldes an die Verwertung des industriellen Kapitals gebunden bleibt. Die letzten Boomphasen – der New Economy-Boom der späten 1990er Jahre und der Immobilienboom der 2000er Jahre – beruhten in hohem Maße auf einer spekulativen Kreditschöpfung. Um überhaupt noch Wirtschaftswachstum zu generieren, war eine beschleunigte Kreditvergabe notwendig. Und sie war auch möglich, da aufgrund der Überakkumulation im industriellen Sektor, der hohen Sparaufkommen oder der privatisierten Versicherungsgelder ständig Geldkapital vorhanden war, das nach Anlagemöglichkeiten suchte, sich also in zinstragendes Kapital verwandeln ließ. Da das überschüssige Geldkapital tendenziell schneller gewachsen ist als die Anlagemöglichkeiten, stiegen die Wertpapierpreise. Der Rückgang der Inflationsraten seit den frühen 1980er Jahren und der damit verbundene Rückgang der Nominalzinsen hat den Anstieg der Wertpapierpreise noch unterstützt. Für viele Kapitalanleger standen somit nicht die Zinsen oder Dividenden im Vordergrund, sondern die Spekulation auf steigende Wertpapierpreise. Der deflationären Tendenz in der Warenproduktion stand die Inflation des fiktiven Kapitals gegenüber. Während die Möglichkeiten, lebendige Arbeitskraft auszubeuten, begrenzt blieben, türmen sich die im fiktiven Kapital verkörperten Eigentumsansprüche in Bezug auf zukünftige Verwertungsprozesse immer höher auf. 2010 standen einem Weltsozialprodukt von 59 Billionen US-Doller Eigentumstitel mit dem Anspruch auf Verzinsung von 211 Billionen gegenüber. Der Versuch diese enormen Renditeansprüche einzulösen kann nur zu heftiger Konkurrenz und Kapitalvernichtung führen. Die gegenwärtige Krise bringt diese Widersprüche zum Vorschein und macht zugleich die Grenzen des temporal fix deutlich, also des Versuchs, die gegenwärtigen Akkumulationsschranken durch Spekulation auf zukünftig wachsende Akkumulationsmöglichkeiten aufzuheben.
3. Die europäische Krisenpolitik und ihre Widersprüche
Die Krise hat die Eurozone und die EU fest im Griff. Der Eindruck, dass es sich 2008-2009 nur um eine kurze Rezession handelte, konnte ohnehin nur in wenigen Ländern wie Deutschland, Österreich oder den skandinavischen Ländern entstehen. In der Krise wurden mittels öffentlicher Mittel die Banken gerettet; auf diese Weise wurden die Eigentumstitel der Vermögensbesitzer und die Ersparnisse der Kleinanleger gesichert, ebenso die Boni der Bankenmanager und – mit gewissen Einschränkungen – auch ihre Geschäftsmodelle. Zwar wurden die Banken gedrängt, ihr Eigenkapital zu erhöhen. Doch über die Höhe und den Wert der Rücklagen gab es Streit. Stresstests zeigten, wie wenig belastbar diese Eigenkapitalbildung war. Die Einführung der Finanztransaktionssteuer wurde gleich nach dem offenen Ausbruch der Krise in die Diskussion gebracht, doch gab es bis in die jüngste Zeit erhebliche Widerstände vor allem von Seiten Großbritanniens 4. Bei der Absicherung der Banken mit öffentlichen Mitteln wurden ihnen für ihre Geschäftspolitik kaum Auflagen gemacht. Selbst die Höhe der Boni wurde vielfach akzeptiert, weil diese angeblich unumgänglich seien, um sachkompetente Manager zu halten. Die Sicherung der Banken geschieht, indem den Staaten mit Refinanzierungsproblemen mittels Bürgschaften der Euro-Länder über die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Zahlungsfähigkeit garantiert wird. Dies soll ihnen ermöglichen, ihre Schulden zu bedienen und ihre Refinanzierung an den Kapitalmärkten sicherzustellen. Die Europäische Zentralbank (EZB) kauft den Banken Staatsanleihen ab, nimmt ihnen also das Risiko ab, so dass sie die möglicherweise ‚toxischen‘ Papiere nicht mehr in den Bilanzen führen und abschreiben müssen. Die EZB und andere Zentralbanken gewähren auch direkt Kredit zu besonders günstigen Bedingungen, damit der Interbankenverkehr aufrecht erhalten bleibt und nicht das Misstrauen in die Zahlungsfähigkeit von Banken zu einer Unterbrechung der Geldzirkulation führt – mit weit reichenden Folgen für die Zahlungsfähigkeit der Marktteilnehmer, die Refinanzierung der Unternehmen, den Vertrauensverlust der Anleger, Sparer oder KonsumentInnen. Doch unterhalb dieser Ebene dient auch diese Absicherung wiederum der Bereicherung der Vermögensbesitzer. Denn dieses niedrig verzinste Geld der EZB und der anderen Zentralbanken wird von den Banken wiederum mit höheren Zinsen in Staatsanleihen angelegt. Es konnte politisch also durchgesetzt werden, die Zinsansprüche der Vermögensbesitzer zu befriedigen.
Gelten die Staaten und die Banken als krisenhaft, weil sie mit Abschreibungen rechnen müssen, wächst ihr Kapitalmarktrisiko und die Zinsen steigen. Für die Kreditgeber ist das vorteilhaft; nicht zuletzt deswegen wird auch eine Krise dann beschworen, wenn es um Umschuldungs- und Refinanzierungsverhandlungen geht, denn auf diese Weise können die langfristigen Zinsen hochgetrieben werden. Die Kreditgeber können ein Interesse an hohen Staatsschulden und hohen Zinsen haben. Allerdings ergibt sich eine Gegentendenz daraus, dass ab einer bestimmten Höhe der Verschuldung und der Zinsen eine Rückzahlung der Kredite und die Zahlung von Zinsen immer unwahrscheinlicher werden. An diesem Punkt haben die Kreditgeber ein Interesse an Austeritätsmaßnahmen: Sicherung der Geldwertstabilität, Verringerung der Staatsschuld, Konsolidierung des Haushalts, Minderung der staatlichen Ausgaben und einer Erhöhung der Einnahmen – soweit sie nicht die Vermögensbesitzer und Kapitaleigner selbst betreffen.
Doch diese Maßnahmen selbst sind durchaus umstritten, denn die Folgen sind auch für die Kapitalbesitzer in ihrer Gesamtheit nicht immer klar zu überschauen. Die Sparpolitik trägt derart zur Schwächung der Wirtschaft bei, dass am Ende auch der Schuldendienst in Frage steht. Die mögliche Folge, ein Staatsbankrott Griechenlands, ist in den Konsequenzen auch nicht klar. Zudem können die Interessenlagen sehr unterschiedlich sein. Eine Stabilisierung der Zahlungsfähigkeit Griechenlands kann für Anleger vorteilhaft sein, die ihre Kredite hochverzinst zurück erhalten. Gleichzeitig wird damit jedoch verhindert, dass bei Umschuldungen der Staaten die Zinsen weiter steigen, was wiederum für mögliche Anlagen in der Zukunft schlecht ist. Mit einem Schuldenschnitt würden Anleger Geld verlieren, sofern sie ihre Anleihen nicht schon an die EZB weiterverkauft haben. Andererseits könnte auch ein mit den Banken ausgehandelter Schuldenschnitt am Ende für die Kapitalanleger vorteilhaft sein. Denn der Marktwert griechischer Staatsanleihen liegt ohnehin weit unter ihrem Nennwert, und der Markt ist nicht liquide. Ein Umtausch eines Teils der alten Staatsanleihen in neue bei immer noch hohen Zinsen könnte sich also am Ende als profitabel erweisen. In der Kalkulation vieler Banken und Hedge Fonds spielt allerdings noch ein anderer Aspekt eine Rolle: Viele haben sich mit Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps – CDS) gegen den Fall eines Staatsbankrotts abgesichert. Eine „freiwillige“ Beteiligung an einem Schuldenschnitt könnte bedeuten, dass die CDS dann wertlos sind, weil die Gegenpartei nur bei einem unfreiwillig eintretenden Zahlungsausfall einspringen würde. Insofern haben die Halter der Staatsanleihen möglicherweise auch aus diesem Grund kein Interesse an einem Schuldenschnitt, sondern verlangen entweder die vollständige Rückzahlung oder spekulieren auf die Zahlungsunfähigkeit.
Für die exportorientierte Industrie in Ländern wie Deutschland hat die Austeritätspolitik einerseits negative Folgen, weil die Nachfrage in den betroffenen Krisenländern sinkt. Entsprechend negativ fallen die Wachstumsprognosen für 2012 aus. Andererseits scheinen gerade die Vertreter des exportorientierten industriellen Kapitals in Deutschland Befürworter der Austeritätspolitik zu sein. Der Grund dafür könnte sein, dass wesentliche Teile der deutschen Industrie in der internationalen Arbeitsteilung eine so überlegene Position einnehmen, dass sie nicht auf Währungsabwertungen angewiesen sind, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu verteidigen. Im Gegenteil: Auch schon zu Zeiten, als die D-Mark noch existierte, konnte die deutsche Industrie recht gut mit der Aufwertung der D-Mark leben. Angesichts seiner hohen Exportüberschüsse hat das deutsche exportorientierte Industriekapital ein Interesse an der sicheren Anlage seiner Einnahmen. Daher besteht ein gemeinsames Interesse des deutschen exportorientierten Industriekapitals und des Finanzkapitals an der Wertstabilität des Euro, das sich in der geradezu fanatischen Fixierung der deutschen Öffentlichkeit auf die Haushaltskonsolidierung und Inflationsbekämpfung in Europa äußert. Diese gemeinsame Interessenlage der dominanten Kapitalfraktionen im deutschen Machtblock wird noch durch die folgende Entwicklung verstärkt: In den letzten Jahren sind die deutschen Exporte in Länder außerhalb der Eurozone schneller gewachsen als die Exporte in andere Länder der Eurozone. Viele Unternehmen sehen ihre Zukunft eher in den emerging markets, in Ländern wie China, Indien, Brasilien oder Russland. Ein Markt wie Griechenland fällt demgegenüber kaum ins Gewicht. Viel wichtiger ist die internationale Rolle des Euro, also die Frage, inwieweit der Euro auch außerhalb der Eurozone als Zahlungsmittel und Reservewährung akzeptiert wird. Die global orientierten Kapitalfraktionen in den Ländern der Eurozone profitieren natürlich davon, wenn sie verlangen können, dass in Euro gezahlt wird, da sie sich dann keinem Währungsrisiko aussetzen müssen. Aber dies setzt die Wertstabilität des Euro voraus, die mit der Austeritätspolitik verteidigt wird. Da die Austeritätspolitik aber die Krise in den betroffenen Ländern der Eurozone perpetuiert und verstärkt, entstehen neue Widersprüche und Konflikte im Lager der Herrschenden. So besteht Uneinigkeit darüber, ob Griechenland aus der Eurozone ausgeschlossen werden soll oder nicht, weil unklar ist, wie sich dies auf den Euro und die Stabilität der EU sowie auf die dominanten Fraktionen des Industrie- und Finanzkapitals auswirken würde. Auch eine Aufspaltung der Eurozone oder gar eine Rückkehr zu nationalen Währungen kommen in die Diskussion.
Die Krise der Finanzmärkte und die Strategien zu ihrer Bewältigung verschärfen die Widersprüche und Tendenzen, die mit der neoliberalen Regulationsweise und dem finanzdominierten Akkumulationsregime verbunden sind. Mit den Einschränkungen der öffentlichen Haushalte werden die Überbleibsel des fordistischen Klassenkompromisses grundlegend angegriffen: öffentliche Beschäftigung, öffentliche Dienstleistungen oder Sozialtransfers können nicht mehr im selben Umfang aufrechterhalten werden. Die Austeritätspolitik ist ein direkter Angriff nicht nur auf die Beschäftigten des öffentlichen Diensts und die Empfänger von Sozialleistungen, sondern auf die Lohnabhängigen insgesamt. Der Abbau von öffentlichen Dienstleistungen, die Teil des kollektiven Konsums der Lohnabhängigen sind (z.B. im Bildungs- und Gesundheitswesen, im Öffentlichen Personennahverkehr) verschlechtert die gesellschaftlichen Bedingungen zur Reproduktion der Arbeitskraft und trägt damit zur Senkung ihres Wertes bei. Darauf zielen auch die Lohnsenkungen im privaten Sektor, die mit der Austeritätspolitik angestrebt werden. Außerdem stärken Staatsaufgaben und staatliche Sozialtransfers die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Im Fall von Ländern mit einer hohen Importabhängigkeit hat dies Folgen auch für diejenigen Länder, die dorthin exportieren und bei denen die Nachfrage ausfällt.
Es stellt sich die Frage, warum eine derartige Spekulation auf den Bankrott von Staaten der Eurozone möglich ist. Die Krise in den USA ist nicht bewältigt; und die japanische Regierung nimmt durchaus aufmerksam wahr, dass sich die spekulativen Aktivitäten der global operierenden Anleger auch gegen die japanische Wirtschaft und den Yen wenden könnten. Der japanische Staat ist mit einem Schuldenstand von 230% des BIP einer der am höchsten verschuldete OECD-Staaten, die Hälfte des Staatshaushalts wird durch Kredite finanziert, die Schuldenaufnahme ist seit zwei Jahren höher als die Steuereinnahmen, etwa ein Viertel des Haushalts dient dem Schuldendienst. Der Vorteil der öffentlichen Verschuldung in Japan ist, dass sie zum größten Teil inländisch ist. Die USA wiederum haben den Vorteil, dass hinter dem US-Dollar der amerikanische Staat mit seinen einzigartigen ökonomischen, politischen und militärischen Kapazitäten steht, der die Funktion des US-Dollars als Weltgeld trotz der hohen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite sichern kann. Daher sind amerikanische Staatsanleihen immer noch der Maßstab für alle Arten von Kapitalanlagen weltweit.
In der EU und in der Eurozone sind die Verhältnisse komplizierter. Die gegenwärtige Krise hat nicht nur die Widersprüche des globalen finanzdominierten Akkumulationsregimes deutlich gemacht, sondern auch die inneren Widersprüche der europäischen Integration. Diese ergeben sich aus der internationalen Arbeitsteilung und ungleichen Entwicklung, d.h. den Verhältnissen zwischen den imperialistischen Zentren USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und den peripheren Staaten Europas. Kapital- und Warenexporte der Zentren führen dazu, dass die Länder der Peripherie eine Nettoschuldnerposition einnehmen 5. Dass die gegenwärtige Krise in Europa vor allem Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal betrifft, zeigt auch, dass deren „Entwicklung“ trotz ihrer im Vergleich zu Deutschland hohen Wachstumsraten in den letzten Jahrzehnten nicht zu einer Konvergenz geführt hat. Vielmehr bestehen strukturelle Unterschiede zwischen den Zentren und der Peripherie auch innerhalb der EU fort.
Laut Kostas Vergopoulos (1987-88) war das Wirtschaftswachstum in Griechenland Mitte der achtziger Jahre vor allem von den Rücküberweisungen griechischer Emigranten, dem Tourismus und den Umsätzen der griechischen Handelsflotte abhängig (107) 6. Daran scheint sich bis heute nicht allzu viel geändert zu haben (vgl. Müller/Schmidt 2010). Da Griechenland nicht wie Deutschland über eine breit gefächerte Industriestruktur verfügt, konkurriert es de facto in vielen Bereichen gar nicht mit Deutschland. Daran können auch Lohnsenkungen in Griechenland nichts ändern. Anders sieht es für Produzenten in Ländern wie Italien oder Frankreich aus, die tatsächlich in vielen Industriebereichen mit deutschen Produzenten konkurrieren. Hier ist es bedeutsam, dass die nominalen Lohnstückkosten in keinem anderen Land der EU so langsam gewachsen sind wie in Deutschland (European Commission 2011, 94f). Länder wie Frankreich oder Italien gerieten zunehmend unter Druck und sind mit wachsenden Leistungsbilanzdefiziten konfrontiert.
Die ungleiche Entwicklung und der Anpassungsdruck, der – vor allem in den Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten – auf den Lohnabhängigen lastet, werden durch die gemeinsame Währung verschärft. In der Geldpolitik haben die Länder der Eurozone nur noch einen Status, der dem von Regionen innerhalb von Nationalstaaten vergleichbar ist. Früher, als sie noch eine eigene Währung hatten, konnten Verluste an Wettbewerbsfähigkeit durch die Abwertung der Währung des betroffenen Landes teilweise kompensiert werden. Dieser Mechanismus entfällt für die Länder der Eurozone. Die ungleiche Produktivitätsentwicklung in den einzelnen Ländern der Eurozone führt dazu, dass die Länder mit niedrigerem Produktivitätswachstum an preislicher Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Dadurch steigt der Druck zur Senkung der Löhne, Sozialausgaben und Kapitalsteuern. Es gibt keine europäischen Gewerkschaftsverbände, keine wirksame Koordination der nationalen Tarifpolitiken geschweige denn transnationale Lohnkämpfe, die dem entgegenwirken könnten. Ebenso mangelt es an einer gemeinsamen Fiskalpolitik, d.h. an einer gemeinsamen Steuerpolitik, die dem Steuersenkungswettlauf in Europa entgegenwirken könnte, und an Transfermechanismen, die – ähnlich wie der Länderfinanzausgleich zwischen den deutschen Bundesländern – einen Ausgleich zwischen den sich ungleich entwickelnden Ländern gewährleisten könnten (vgl. Altvater/Mahnkopf 1993; Heine/Herr 2006).
Mit der Europäischen Währungsunion und dem Europäischen Stabilitätspakt wurden auch Normen für die maximal zulässige Staatsverschuldung (60% des BIP) und die maximal zulässige jährliche Neuverschuldung des Staates (3% des BIP) vereinbart. Diese Schuldengrenzen wurden willkürlich und vor allem auf Druck der deutschen Regierung festgelegt. Bereits bei der Bildung der Eurozone wich man aus politischen Gründen von den vereinbarten Regeln ab. So wurde z.B. Italien mit einem Schuldenstand von über 100% des BIP in die Eurozone aufgenommen, weil es politisch undenkbar erschien, das Land, das zu den Mitbegründern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zählte, außen vor zu lassen. Ökonomisch ging es vor allem darum, die Eurozone von Anfang an nicht zu klein zu dimensionieren, um dem Euro international ein genügend großes Gewicht zu verleihen. Nach der Krise der Jahre 2000-2002 zeigte sich, dass große Länder wie Deutschland und Frankreich mit ihren niedrigen Wachstumsraten selbst die Regeln des Stabilitätspakts nicht einhalten konnten. Der Stabilitätspakt erwies sich schon damals als Makulatur, weil Deutschland und Frankreich erreichten, dass die eigentlich vertraglich vorgesehenen Sanktionen gegen sie selbst als „Defizitsünder“ nicht verhängt wurden. An den aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive dysfunktionalen Normen des Stabilitätspakts wird dennoch weiterhin festgehalten, zum einen weil sie ein probates Mittel zur Disziplinierung der Lohnabhängigen in der Eurozone sind, zum anderern aufgrund der relativen Autonomie des Ideologischen. Gerade in Deutschland gibt es z.B. in den Wirtschaftswissenschaften kaum Positionen, die von der neoliberalen pensée unique abweichen.
Das starre Festhalten der europäischen Regierungen an den Normen des Europäischen Stabilitätspakts begünstigt die Spekulation auf den Bankrott schwächerer Staaten. Die transnationalen Kapitalanleger können dabei scheinbar nur gewinnen: Zunächst dadurch, dass die Zinsen auf Staatsanleihen steigen. Die privaten Gläubiger verlieren auch durch einen ausgehandelten Forderungsverzicht wie im Falle Griechenlands nicht unbedingt, da der Marktwert der Staatsanleihen ohnehin weit unter ihrem Nominalwert liegt, auf den der Forderungsverzicht prozentual berechnet wird. Sie tauschen dabei alte Staatsanleihen gegen neue Staatsanleihen ein, deren Verzinsung noch über dem Niveau vor der Krise liegt und die nun auch noch durch die Rückzahlungsgarantie des EFSF bzw. des ESM abgesichert sind. Haben sie ihre alten Staatsanleihen ursprünglich zu einem Kurs gekauft, der unter dem der neuen lag, so machen sie sogar einen Gewinn. Eine einseitige Verweigerung des Schuldendienstes in den Krisenländern konnten die Kapitalanleger durch ihre ökonomische und politische Macht bisher verhindern.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich gegenwärtig all die Widersprüche des globalen finanzdominierten Akkumulationsregimes und der europäischen Integration hier verdichten und als Krise der staatlichen Refinanzierung und des Euro erscheinen. Verschiedene Teile der EU driften zunehmend auseinander. Es stellt sich die Frage, ob die Eurozone (oder gar die EU) auseinander bricht oder ob es zu einer Vertiefung der europäischen Integration kommt, die in der Lage ist, die EU zu stabilisieren. Der Status quo ist jedenfalls nicht haltbar.
4. Deutschland und die Krise des Krisenmanagements
Deutschland hat in der Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte und in der gegenwärtigen Krise eine besondere Rolle eingenommen. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat sich Deutschland enorm verschuldet, um Strukturpolitik zu ermöglichen, die Folgen der Deindustrialisierung Ostdeutschlands zu mildern und die öffentliche Infrastruktur auszubauen. Die Zahl der Arbeitslosen war sehr hoch, das duale System der gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretung der lohnabhängig Beschäftigten wurde zunehmend ausgehöhlt, insbesondere in Ostdeutschland. Die Öffnung Osteuropas, die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte und die Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen nach Osteuropa übten Druck auf die Beschäftigungsverhältnisse aus. Geschah der systematische Umbau des Modell Deutschland nach Gesichtspunkten des finanzdominierten Akkumulationsregimes unter der sechzehnjährigen Regierung von Helmut Kohl eher schleichend, so wurde dieser Prozess unter der Regierung von Gerhard Schröder durch eine Vielzahl von Gesetzen seit 1998 erheblich beschleunigt. Hatte bereits die schwarz-gelbe Koalition die ersten Finanzmarktförderungsgesetze eingeführt und auf die Vermögenssteuer verzichtet, so setzte Rot-Grün die Finanzmarktförderung fort, förderte Private Equity-Unternehmen und Hedge Fonds, begünstigte die bei der Veräußerung von Kapitalbeteiligungen entstehenden Gewinne steuerlich, senkte die Erbschaftssteuer und den Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer und vieles mehr. Neuen Unternehmensformen und Geschäftsmodellen wurde politischer Raum gegeben mit dem Argument, dass Deutschland auch im Bereich der Finanzmärkte wettbewerbsfähig sein müsste und Kapitalanleger angezogen werden sollten.
Mit den Maastricht-Kriterien konnte von deutscher Seite eine neoliberale Geldpolitik durchgesetzt werden, die den Spielraum der staatlichen Wirtschaftspolitik, der öffentlichen Investitionen und der politischen Steuerung sehr einschränkte. Durch die Schuldenbremse und den Fiskalpakt wird dies weiter verstärkt. Die Einführung des Euro war für die deutschen Unternehmen vorteilhaft. Früher folgte auf die steigende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen eine Aufwertung der D-Mark, die zumindest zum Teil verhinderte, dass die deutschen Produzenten ihre europäischen Nachbarn niederkonkurrierten. Innerhalb der Eurozone ist diese Dämpfung der Konkurrenz durch den Wechselkursmechanismus nun ausgeschaltet. Die nominalen Lohnstückkosten sind in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre erheblich langsamer gewachsen als in allen anderen EU-Ländern, und zwar überwiegend nicht aufgrund größerer Produktivitätssteigerungen, sondern aufgrund größerer Lohnzurückhaltung in Deutschland (Lapavitsas u.a. 2011: 15f). Der Druck, den die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt auf die Beschäftigten und Gewerkschaften ausübte, wurde politisch von den Unternehmen, den Parteien und der Regierung noch weiter verstärkt. Angriffe auf die Gewerkschaften drängten diese in die Defensive. Deutschland gilt seit langem im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern als relativ streikarmes Land, und die Zahl der Ausfalltage durch Streiks und Aussperrungen ist seit Mitte der 1980er Jahre noch deutlich zurückgegangen (Dribbusch 2010: 147, 159). Die Disziplinierung der Lohnabhängigen in Deutschland durch die Agenda 2010, die Hartz-Gesetze und die Ausweitung des Niedriglohnsektors ist die Voraussetzung für die Durchsetzung der Austeritätspolitik gegenüber den Lohnabhängigen in ganz Europa. Umgekehrt werden die Angriffe auf die Lohnabhängigen in Griechenland, Spanien, Portugal usw. voraussichtlich schon bald auf die Lohnabhängigen in Deutschland zurückschlagen und möglicherweise zu einer weiteren Runde des Sozialabbaus und der Lohnsenkungen führen.
Kurzfristig ist Deutschland Krisengewinner. Das ökonomische und politische Gewicht Deutschlands in Europa ist weiter gewachsen. Die Nachfrage nach deutschen Staatsanleihen ist in dem Maße gestiegen, in dem die Kapitalanleger die Staatsanleihen anderer europäischer Länder abgestoßen haben. Deutschland erscheint als sicherer Hafen für die transnationalen Kapitalanleger. Daher sind die Zinsen für deutsche Staatsanleihen gesunken, während sie für die Staatsanleihen der meisten anderen Länder Europas gestiegen sind. Der deutsche Staat kann sich also günstiger refinanzieren.
Die Härte der deutschen Regierung beim europäischen Krisenmanagement ist auf den ersten Blick nicht nur unverständlich, sondern widerspricht sogar gewichtigen Kapitalinteressen. Nicht nur angloamerikanische Kapitalanleger fordern seit langem, dass die EZB unbeschränkt Staatsanleihen aufkaufen soll, um die Zinsen für die von der Refinanzierungskrise betroffenen EU-Staaten zu senken und das Vertrauen in deren Staatsanleihen wiederherzustellen. Auch in anderen europäischen Ländern werden eine flexiblere Haltung der EZB sowie die Einführung von Eurobonds gefordert. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass die brutale Sparpolitik, die Griechenland und anderen Krisenstaaten unter Führung der deutschen Regierung von der Troika der EU-Kommission, der EZB und des IWF aufgezwungen wird, diese Länder nur noch tiefer in die Krise treibt. Ist die herrschende Krisenpolitik also selbst aus der Perspektive der Reproduktion des Kapitals irrational?
Die Austeritätspolitik und die Forderungen nach monetärer Staatsfinanzierung oder Vergemeinschaftung der Schulden scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. Während die Austeritätspolitik auf den Abbau der Staatsverschuldung zu zielen scheint, würden eine Ausweitung der Rolle der EZB als lender of last resort für die Staaten der Eurozone oder eine Vergemeinschaftung ihrer Schulden z.B. durch Eurobonds Voraussetzungen für eine noch stärkere Ausweitung der Staatsverschuldung schaffen. Allerdings besteht nur vordergründig ein Gegensatz zwischen diesen Maßnahmen. Die Sparpolitik wird letztlich auch nicht zum Abbau der Staatsverschuldung führen, sondern bestenfalls die Voraussetzung dafür schaffen, dass das Vertrauen der Investoren in die europäischen Staatsanleihen wiederhergestellt wird. Treibt die Sparpolitik die Länder noch tiefer in die Rezession, wie gegenwärtig in Griechenland, so brechen die Steuereinnahmen weg und die Staatsverschuldung wächst weiter rasch an. Kann eine Rezession vermieden werden und bleibt es „nur“ bei einer Stagnation, so führt die Sparpolitik vielleicht zu einem langsameren Anstieg der Staatsverschuldung. Aber selbst der IWF rechnet damit, dass die durchschnittliche Staatsverschuldung in der Eurozone, die im Jahr 2010 bei 85,8% des BIP lag, im Jahr 2016 bei 86,6% des BIP liegen wird. Letztlich wird also – trotz oder wegen der Austeritätspolitik – ein noch größerer Teil des Sozialprodukts bzw. der Steuereinnahmen für den Schuldendienst bereitgestellt werden. Die Sparpolitik dient ebenso wie die viel diskutierte Vergemeinschaftung der Verschuldung dazu, eine noch stärkere Entwertung des fiktiven Kapitals zu verhindern, das die Staatsanleihen verkörpern. Es geht nicht um den Abbau der Staatsverschuldung, sondern um ihre Nachhaltigkeit. Die Staatsanleihen sind als Anlagesphäre für das globale Finanzvermögen, das seit vielen Jahren schneller wächst als das globale Sozialprodukt, unverzichtbar.
Wenn aber die Sparpolitik und die Vergemeinschaftung der Staatsschulden bzw. die monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB nur verschiedene Wege sind, um das Vertrauen in die europäischen Staatsanleihen wiederherzustellen und eine nachhaltige Verschuldung zu garantieren, warum gehen die Regierungen der Eurozone dann nicht den bequemeren Weg, lockern die Sparpolitik und konzentrieren sich auf die Vergemeinschaftung der Verschuldung? Sicher, ohne Sparpolitik würde die Staatsverschuldung in der Eurozone noch schneller wachsen. Aber warum wäre das so problematisch? Italien hat seit Jahrzehnten eine Staatsverschuldung von mehr als 100% des BIP, und sie war kein Problem, weil sie wie in Japan eine überwiegend interne Verschuldung war (vgl. Grasse 2012). Warum wird sie gerade jetzt zum Problem? Auch die USA können sich eine Staatsverschuldung von mehr als 100% des BIP leisten, Japan sogar eine Staatsverschuldung von mehr als 200% des BIP. Wozu also die Härte der deutschen und europäischen Sparpolitik? Wäre die Verschuldung allein eine interne innerhalb der Eurozone, könnte die Situation entdramatisiert werden.
Die Austeritätspolitik zielt nicht nur darauf, die Staatsausgaben zu senken oder die Steuereinnahmen durch Abgaben der unteren sozialen Klassen zu erhöhen. Es geht darum, das Lohnniveau auch im privaten Sektor abzusenken, die Arbeitszeit zu verlängern, also die Ausbeutung der Arbeitskraft insgesamt zu erhöhen. Die Austeritätspolitik löst die Krise nicht, aber sie ermöglicht die Durchsetzung von alten Forderungen der Kapitalseite, die bisher nicht durchsetzbar waren. Die Austeritätspolitik dient nicht nur der Bankenrettung (die könnte auch erfolgen, indem die EZB den Banken ihre Staatsanleihen abkauft), sie dient vor allem dem industriellen Kapital, insbesondere dem exportorientierten Industriekapital, dessen Profitabilität auf diesem Wege erhöht wird. Entsprechend ist viel Sozialdemagogie im Spiel, die Probleme werden nationalisiert und kulturalisiert: arbeitsame Deutsche und faule, verschwenderische Südländer scheinen sich gegenüber zu stehen. Über die Verhältnisse leben, das ginge nicht mehr. Dabei wird gerade das Wesentliche zur Seite geschoben: dass die Reichen in Ländern wie Griechenland oder Italien praktisch keine Steuern zahlen, dass der gesellschaftliche Reichtum in Griechenland ebenso wie in Deutschland von den oberen sozialen Klassen angeeignet wird. Der Verschuldung des griechischen Staates entspricht eine Bereicherung auf der anderen Seite; und dabei handelt es sich um die Reichen und Superreichen, die den Staat ausgeplündert haben mittels Korruption, Steuerhinterziehung, Subventionen oder überteuerten Staatsaufträgen. Erhebliche Mengen Geld wurden ins Ausland gebracht (Schweiz, Zypern, Singapur). Schuldentitel werden von Schweizer Konten in die Euro-Zone übertragen, um entsprechende Hilfsmittel in Anspruch nehmen zu können.
Die Austeritätspolitik hat noch eine andere Bedeutung: Es geht nicht nur darum, den Euro zu verteidigen, sondern vor allem die internationale Rolle des Euro. Der Euro fungiert nicht nur als Zirkulations- und Zahlungsmittel innerhalb der Eurozone, er fungiert auch als Weltgeld, als internationale Reservewährung, auch wenn er nur an zweiter Stelle hinter dem US-Dollar als Leitwährung steht. Nicht von ungefähr publiziert die EZB jährlich einen besonderen Bericht über die internationale Rolle des Euro. Gerade in der Währungskonkurrenz ist die Stabilität des Euro als Maß der Werte und als Zirkulations- und Zahlungsmittel sowie als Medium der Akkumulation von Bedeutung. International tätige Banken und transnationale Konzerne, die in der Eurozone angesiedelt sind, profitieren besonders, wenn sie Kredite in ihrer eigenen Währung vergeben können und wenn ihre Geschäftspartner in Euro zahlen. Dies reduziert ihr Währungsrisiko. Insofern ist für die Banken und Konzerne der Eurozone von Interesse, inwieweit Akteure außerhalb der Eurozone bereit sind, den Euro als Geld zu benutzen. Dies ist von umso größerer Bedeutung, je mehr die finanziellen Verflechtungen mit Akteuren außerhalb der Eurozone anwachsen. Für Deutschland lässt sich z.B. feststellen, dass die Exporte in Länder außerhalb der Eurozone in den vergangenen Jahren schneller angewachsen sind als die Exporte in die Eurozone. Die auf die Austeritätspolitik gestützte Verteidigung des Euro ist also nicht nur Resultat der Europastrategien des deutschen Kapitals, sondern vor allem Resultat seiner Globalisierungsstrategien. Aber die deutsche Regierung spielt den Zuchtmeister Europas nicht nur im Interesse des deutschen Kapitals, sondern auch im Interesse dominanter Kapitalfraktionen in anderen Ländern der Eurozone. Nur so ist zu erklären, dass Sarkozy inzwischen weitgehend auf die Linie von Merkel eingeschwenkt ist. Und selbst die griechische Regierung will auf keinen Fall die Eurozone verlassen, obwohl die Austeritätspolitik den Binnenmarkt zerstört und die primär auf den Binnenmarkt angewiesenen Teile des Kapitals schädigt.
5. Was tun?
1. Zuallererst ist es die Aufgabe der Linken, die Mechanismen zu verstehen und zu erklären, die dazu dienen, die gesellschaftlichen Prozesse derart zu organisieren, dass am Ende der gesellschaftliche Reichtum bei einigen wenigen hängen bleibt. Tatsächlich haben die seit den 1980er Jahren in Gang gesetzten neoliberalen Veränderungen der OECD-Staaten zu einer immensen Umverteilung geführt. Das Vermögen einer winzigen Zahl von Reichen ist enorm gewachsen. Auf der anderen Seite kam es zur härteren Ausbeutung der Lohnabhängigen und zu einer Zunahme der Armen, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten. Es geht also darum, den Einschüchterungsversuchen mittels dem Argument, die Finanzkrise sei so komplex, die Kraft ebenso zu nehmen wie falschen Deutungen (alles sei Resultat der Gier, des Strebens nach Zins, des deutschen Imperialismus) entgegen zu treten, weil sie falsche praktische Implikationen haben.
2. Die Wirtschafts- und Finanzkrise weist auf den Doppelcharakter der Arbeit hin: diese schafft nicht nur Gebrauchswerte, sondern ist Grundlage der Aneignung von Wert. Das Ausmaß der Überakkumulation ist gewaltig, die kapitalistischen Gesellschaften sind zu reich geworden, um diesen Reichtum immer noch weiter verwerten zu können. Zur Kapitalvernichtung gibt es keine Alternative. Diese kann in Prozessen der Zerstörung ganzer Volkswirtschaften, einzelner Unternehmen oder Schuldentitel stattfinden, in einem Prozeß der schleichenden Inflation oder aber in einem demokratisch organisierten Prozess, in dem über Eigentumsansprüche kollektiv nachgedacht und entschieden wird, um sie gezielt zu annullieren oder zu bestätigen. Dies kann in der Schließung von Industriebetrieben oder Banken bestehen, in der Einführung von Zwangsanleihen oder in der Überführung von Privateigentum in öffentliches Eigentum. Auf eine demokratisch organisierte Annullierung von Eigentumstiteln und Vernichtung von (fiktivem) Kapital zielt unter anderem die Kampagne für ein Schuldenaudit in Europa.
3. Der Euro war kein Projekt der Linken, im Gegenteil gab es vor seiner Einführung Kritik (vgl. Altvater/Mahnkopf 1993; Glawe/Schröder 1997); er war aber auch kein Projekt nur Deutschlands (vgl. Bieling/Steinhilber 2000, Bieling 2010). Vielmehr wurde er unter anderem eingeführt, weil flexible Wechselkurse für das europäische Kapital angesichts der hohen Dichte von Transaktionen in Europa eher dysfunktional waren und weil vorangegangene Versuche der Stabilisierung der Wechselkurse wie das Europäische Währungssystem (EWS) letztlich auch an den Widersprüchen der internationalen Arbeitsteilung und der ungleichen Entwicklung gescheitert sind. Eine Rückkehr zu nationalen Währungen würde lediglich die Möglichkeiten der Währungsspekulation in Europa vergrößern. Es ist eher unrealistisch, dass Länder wie Griechenland durch den Austritt aus der Eurozone größere Handlungsspielräume gewinnen würden7. Der Förderung der Exporte durch die Abwertung der eigenen Währung würden steigende Importpreise und eine Erhöhung der realen Außenverschuldung gegenüberstehen. An den extrem ungleichen Produktionsstrukturen würde sich vermutlich wenig ändern, Griechenland oder Portugal hätten wenig zu exportieren. Die Inflation würde zunehmen; Sparguthaben und Rentenansprüche der Lohnabhängigen würden entwertet werden. Eine Verstärkung der Armut, der Abwanderung, des Transfers von Sparguthaben und der Abhängigkeit wären die Folgen. Die Frage ist auch, ob ein Abschied vom Euro nicht letztlich das Ende der europäischen Integration bedeuten würde und nationalistischen sowie autoritären oder faschistischen Kräften in Europa noch erheblich stärkeren Auftrieb geben würde.
In der Krise ist es nicht die Aufgabe der Linken, den Euro zu verteidigen oder umgekehrt gegen den Euro zu mobilisieren. Hauptaufgabe der Linken ist es, zur besseren Verteidigung der subalternen Klassen gegen die Austeritätspolitik beizutragen. In Deutschland geht es darum, in den anstehenden Tarifauseinandersetzungen die Forderung nach Lohnsteigerungen unterstützen, die höher sind als die Summe von Produktivitätssteigerungen und Zielinflationsrate. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung, die Rücknahme der Rente ab 67, die Erhöhung des Eckregelsatzes beim Arbeitslosengeld II, Einführung eines allgemeinen, existenzsichernden Mindestlohnes, Erhöhung der Spitzensteuersätze und eine Dynamisierung der Progression, Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Vermögensabgabe und Zwangsanleihe, Ausbau der öffentlichen Infrastruktur im Bereich der Kinderbetreuung, der Pflege, des Bildungswesens, der Lehre und Forschung an den Hochschulen, die Übernahme der Bahn durch den Staat und die Förderung des ÖPNV stellen wichtige Ziele dar.
4. Was die Europapolitik angeht, so kämpft die Linke an zwei Fronten. Sie muss zum einen den neoliberalen Zuschnitt der Europäischen Union deutlich kritisieren und alle Angriffe der herrschenden Klassen auf die Demokratie, die Arbeitsbedingungen und die sozialen Errungenschaften der Lohnabhängigen, die über die europäische Ebene erfolgen, zurückweisen. So war es richtig, den EU-Verfassungsvertrag, der die Wirtschafts- und Sozialordnung auf ein neoliberales Modell festlegen wollte, abzulehnen. Ebenso ist es richtig, den „Euro-Plus-Pakt“, den so genannten „Sixpack“ und die „Fiskalunion“ abzulehnen, da alle diese Maßnahmen darauf zielen, die neoliberale Ausrichtung des Europäischen Stabilitätspaktes noch zu verschärfen und die haushaltspolitische Souveränität der nationalen Parlamente weiter einzuschränken, ohne im Gegenzug die Demokratie auf europäischer Ebene zu stärken. Zum anderen sollte die Linke sich gegen nationale bzw. nationalistische (auch gegen links-nationalistische) Argumentationsmuster und Strategien wenden. Die besondere Herausforderung besteht darin, überzeugende Strategien gegen rechtspopulistische Kampagnen und autoritär-staatliche Prozesse zu entwickeln. Es ist notwendig aus dem Spiel von Identifikation und Gegenidentifikation auszubrechen; es geht hier nicht um Gegenidentifikation, sondern um Entidentifizierung (Pêcheux 1984).
Es geht weder um eine Verteidigung der heutigen EU, noch um eine Rückkehr zum Nationalstaat. Ziel müsste es sein, die Einheit der subalternen Klassen in Europa durch gemeinsame Kämpfe herzustellen. Vorbildlich sind z.B. Solidaritätsstreiks bei Angriffen auf Beschäftigte multinationaler Konzerne an einzelnen Standorten, wie etwa die Streiks an verschiedenen europäischen Standorten von General Motors im Jahr 2001, als der Konzern das Werk Luton in Großbritannien schließen wollte. Des Weiteren müsste dringend eine europäische Koordinierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik verwirklicht werden. Der Europäische Metallgewerkschaftsbund hat bereits Regeln zur Koordinierung der Tarifpolitik aufgestellt, doch sind diese in der Praxis bisher kaum beachtet worden. Schließlich müsste die Tariffähigkeit auf europäischer Ebene erkämpft werden. Die Gewerkschaften müssen auf europäischer Ebene als Verhandlungspartner anerkannt werden und Veto- und Mitspracherechte dort erhalten, wo ArbeitnehmerInnenrechte betroffen sind. Supranationale, handlungsfähige Gewerkschaften und politische Parteien der subalternen Klassen sind bisher auf europäischer Ebene kaum existent und müssten dringend gestärkt werden.
Perspektivisch sollte die Linke auf eine politische Union orientieren, die demokratisch strukturiert ist und einen sozialen Ausgleich innerhalb von Europa gewährleisten kann. Eine demokratische Verfassung ist erforderlich, die den sozial-ökologischen Umbau ermöglicht. Entsprechend sollten die Politik der EZB und die Hilfen für die Schuldnerländer auf soziale und ökologische Ziele verpflichtet werden und nicht auf Austeritätsmaßnahmen, die am Ende zur Verschlechterung der Lebens- und Umweltbedingungen beitragen werden. Ohne parlamentaristische Illusionen zu nähren, ist es doch sinnvoll, dafür einzutreten, dass das europäische Parlament endlich alle relevanten Rechte eines Gesetzgebers erhält und die Europäische Kommission und ihre gesamte Verwaltung wenigstens formell kontrolliert. Eine europäische Öffentlichkeit muss gestärkt werden, in der auch über europäische Fragen diskutiert und eine entsprechende europäische Willensbildung vorangetrieben werden kann. Das alles ist auch notwendig, um der Erosion der Demokratie und der häufigen Inanspruchnahme notstandsstaatlicher Politikmuster (technokratische Kabinette, multilaterale Verträge, Außerkraftsetzung von Parlamentskompetenzen) politische Institutionen entgegenzustellen. Es bedarf einer gemeinsamen Steuerpolitik, um dem Steuersenkungswettlauf in Europa Einhalt zu gebieten. Soziale Mindeststandards bei den Arbeits- und Lebensbedingungen sollten durchgesetzt und schrittweise angehoben werden. Korridore für den Anteil der Sozialausgaben am Pro-Kopf-Einkommen der europäischen Staaten könnten vereinbart werden, um einem Sozialdumping entgegenzuwirken. So könnte eine europäische Sozialunion entstehen.
5. Auch wenn die Defensive gegen die Austeritätspolitik erfolgreich wäre und es gelingen würde, die oben genannten Forderungen auf nationaler und europäischer Ebene durchzusetzen, würden die Widersprüche, die in der kapitalistischen Produktionsweise wurzeln, nicht verschwinden. Die Krisentendenzen würden lediglich wieder andere Formen annehmen. Ähnlich wie in den 1970er Jahren könnten dann inflationäre Prozesse in den Vordergrund treten. Im Übrigen wäre jede linke Reformpolitik sofort mit der Drohung der Kapitalflucht konfrontiert, wie dies z.B. bei der französischen Linksregierung Anfang der 1980er Jahre der Fall war. Die Größe des europäischen Wirtschaftsraums und seine ökonomische Macht lassen Kapitalflucht sicherlich nicht ganz so attraktiv erscheinen. Zudem zeigen die Maßnahmen, die die USA gegen die Schweiz ergriffen haben, dass es erhebliche Mittel gibt, gegen Kapitalflucht vorzugehen. Insgesamt ist dies ein weiterer Grund dafür, über die unmittelbar anstehenden Schritte hinauszudenken und Reformen mit einer sozialistischen Perspektive zu artikulieren. Die meisten europäischen Länder sind zu klein und zu stark mit anderen Ländern verflochten, um alleine mit der kapitalistischen Produktionsweise brechen zu können. Umgekehrt wird ein „europäischer Frühling“ aber auch nicht auf ein Land beschränkt bleiben. Ein von unten neu aufgebautes, sozialistisches Europa könnte der Rahmen sein, um den Übergang zu einer anderen Produktions- und Lebensweise in Europa und darüber hinaus einzuleiten.
6. Eine wichtige Aufgabe der Linken ist es, eine umfassende Perspektive der Emanzipation zu entwickeln, die nicht die eine oder andere Herrschaftsform ignoriert. Dies schließt den sozial-ökologischen Umbau und Formen der solidarischen Ökonomie und Wirtschaftsdemokratie8 ebenso ein wie die Überwindung von sexistischen Verhältnissen oder Rassismus. Die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa wären auch nur eine Form des Übergangs hin zur Vereinigung der gesamten Menschheit, zu einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft, in der der Staat abstirbt.
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Fußnoten:
(1) In diesen Text sind u. a. Ergebnisse einer Diskussion des Arbeitskreises kritische Europaforschung (AkE) der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) eingeflossen. Wir danken Hans-Jürgen Bieling, Pia Eberhardt, Axel Gehring, Fabian Georgi, Mathis Heinrich, Niko Huke, John Kannankulam, Daniel Keil, Anika Kozicki, Roland Kulke, Malte Lühmann und Lukas Oberndorfer für wichtige Anregungen.
(2) Industrielles Kapital ist das in der Produktion von Waren angelegte Kapital; zinstragendes Kapital ist Kapital, das verwertet wird, indem es gegen die Zahlung von Zinsen verliehen wird (MEW 25, 350ff); fiktives Kapital sind Wertpapiere, die den Rechtsanspruch auf Teilhabe am zukünftig zu produzierenden Wertprodukt in Form von Zinsen oder Dividenden verkörpern (MEW 25: 482ff); Derivate sind abgeleitete Finanzgeschäfte, die sich auf erwartete Preisänderungen von Waren oder Wertpapieren in der Zukunft beziehen. Vgl. zur Bedeutung des Geldes, des Kredits und der Finanzmärkte im Kapitalismus allgemein Itoh/Lapavitsas 1999, zur historischen Entwicklung des Geldes und des Kredits aus regulationstheoretischer Perspektive Guttmann 1994.
(3) Dabei sind die Buchgewinne aus der Steigerung von Wertpapierpreisen noch nicht eingerechnet. Schließt man diese ein, dann erhöhte sich der Anteil des reichsten 1% der Haushalte am Volkseinkommen von 9,2% im Jahr 1973 auf 23,5% im Jahr 2007 (ebd. Tabelle A3). Die Berechnungen von Piketty und Saez beruhen auf einer Auswertung der Einkommensteuerstatistik. Aufgrund der hohen Kapitalmobilität und Steuerhinterziehung gerade bei den reichen Haushalten kann man davon ausgehen, dass die reale Einkommensungleichheit noch weitaus höher ist, als in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt.
(4) Die Wirkungen einer Finanztransaktionssteuer hängen von ihrer konkreten Ausgestaltung ab. Ist der Steuersatz sehr niedrig, so hat sie möglicherweise keine Lenkungseffekte, weil spekulative Finanztransaktionen nicht unterbunden werden. Je höher aber der Steuersatz ist und je mehr Transaktionen dadurch unprofitabel und verhindert werden, desto geringer sind am Ende das Steueraufkommen und damit der Umverteilungseffekt. Der Gesetzentwurf der französischen Regierung vom 8. Februar 2012 zur unilateralen Einführung einer Finanztransaktionssteuer erfasst nur bestimmte Transaktionen (Sekundärhandel mit Aktien französischer Unternehmen ab 1 Mrd. Euro Marktkapitalisierung und deren Derivaten, Kauf von Kreditausfallversicherungen für Staatsanleihen durch französische Unternehmen, die nicht selbst Gläubiger dieser Staaten sind, bestimmte Transaktionen im Hochfrequenzhandel ab einem noch nicht definierten Schwellenwert).
(5) Ob die Zahlungsbilanzungleichgewichte innerhalb der EU eher durch den Warenhandel oder eher durch den Kapitalverkehr bestimmt werden, ist in der kritischen sozialwissenschaftlichen Diskussion strittig. In der deutschen Linken werden zumeist die Leistungsbilanzungleichgewichte in den Vordergrund gerückt. Milios und Sotiropoulos (2010) argumentieren dagegen, dass z.B. die Leistungsbilanzdefizite Griechenlands nicht Ursache, sondern Folge hoher Kapitalimporte sein. Unserer Ansicht nach gibt es allgemein keine eindeutige Kausalität in der Zahlungsbilanz, diese ergibt sich als Resultat einer Vielzahl privater und staatlicher Transaktionen in den verschiedenen Kapitalkreisläufen. Je nach der konkreten Einbindung eines Landes in die internationalen Kapitalkreisläufe kann die Zahlungsbilanz unterschiedlich bestimmt sein.
(6) Vergopoulos diagnostizierte auch bereits eine „Rekompradorisierung“ Griechenlands (ebd. 116ff) – im Gegensatz zu der Analyse von Poulantzas (1977), der ein Jahrzehnt zuvor noch eine Schwächung der Kompradorenbourgeoisie und eine Stärkung der „inneren“ Bourgeoisie festgestellt hatte.
(7) Die Gegenthese hat Costas Lapavitsas mit seinen Mitarbeitern mehrfach vertreten, zuletzt in Lapavitsas u.a. 2011. Zur Kritik an Lapavitsas vgl. Onaran 2011.
(8) Unsere Überlegungen zur Wirtschaftsdemokratie und zur Produktionsweise eines Vereins freier Menschen finden sich u.a. in Demirović 2007 und Sablowski 2010.
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Dieser Text erschien zuerst in Prokla Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 166, 42.Jg., 2012, Nr. 1 und ist unter folgender Adresse auch als PDF verfügbar:
http://www.prokla.de/2012/03/06/editorial-prokla-166/