Gelockert in eine neue Normalität der Krise?

Überlegungen zu einer emanzipatorischen Pandemiebekämpfung, Teil 1

Die „allererste Phase“ der Corona-Pandemie sei vorbei, sagte Angela Merkel am 6.Mai, nachdem Bundesregierung und Länder weitreichende Lockerungen der Infektionsschutz-Maßnahmen und einen Fahrplan in eine „neue Normalität“ beschlossen hatten. Tatsächlich ist die akute Gefahr einer katastrophalen Überlastung der Krankenhäuser vorerst gebannt. Der Ansteckungswert R lag in den Tagen vor den Exit-Beschlüssen bei etwa 0,75, also deutlich unter der Grenze von 1, die den Kipppunkt zu exponenziellem Wachstum markiert. Derzeit liegt er mit Schwankungen rund um 1. Die Fallzahlen sind trotz vorsichtiger Öffnungen Ende April bisher niedrig (16.5.: 209/100.000 Einwohner; 28.4.: 188/100.000 Einw.).

Foto: Simon/flickr CC: BY-NC-ND

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In Deutschland verlief diese erste Phase der Pandemie im Vergleich zu Ländern wie Italien, Spanien, Belgien, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden oder den USA eher glimpflich. Zwar wurde die Regierung auch hier von der Pandemie-Dynamik überrollt, und der Versuch einer regionalen Eindämmung misslang, weil erst mit Verspätung konsequent gehandelt wurde. In den Wochen seit Mitte März zeigten die weitreichenden staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen und das verantwortliche Verhalten einer Mehrheit der Menschen im Alltag aber deutlich Wirkung.[1] Der am 6. Mai beschlossene Pfad für eine weitgehende Aufhebung der staatlichen Beschränkungen sieht vor, dass die Entscheidungskompetenz jetzt wieder stärker bei den Bundesländern liegt. Angesichts der regional sehr unterschiedlichen Dynamik der Pandemie, und angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Shut Downs spricht Einiges für eine regional differenzierte und flexible Eindämmungspolitik. Dennoch sind große Zweifel an Tempo, Reichweite und Verhältnismäßigkeit der beschlossenen Lockerungen angebracht.

Unter den Bedingungen einer Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die neoliberal bearbeitet werden, spitzen sich bestehende soziale Ungleichheiten und sozio-kulturelle Polarisierungen zu. Zu Beginn der Pandemie gab es eine Art Schock-Effekt. Ein öffentlicher Diskurs, der alle Mitglieder der Gesellschaft auf Solidarität und sozialen Zusammenhalt orientierte, war stark. Die Zustimmung zum Krisenmanagement der Bundesregierung überwiegt nach wie vor, insbesondere die Unionsparteien und ihre Repräsentanten Merkel und Söder erreichen hohe Beliebtheitswerte. Dies sollte aber nicht mit einem stabilen gesellschaftlichen Konsens über den Umgang mit der Pandemie, der wirtschaftlichen und sozialen Krise, der Einschränkung von Demokratie und Grundrechten verwechselt werden. In den Wochen seit Ostern wurden vermehrt die wirtschaftlichen Nöte und Zukunftssorgen, die Angst vor einer schweren Erkrankung oder die sozialen Belastungen zum Gegenstand von Alltagsgesprächen und öffentlicher Diskussion. Seit einigen Wochen kommt es in vielen deutschen Städten zu Protesten gegen Freiheitsbeschränkungen, gegen überzogene Maßnahmen, oder es werden aus zumeist fragwürdigen Motiven grundsätzliche Zweifel an der Pandemie und den ergriffenen Maßnahmen formuliert. Hier mischen sich Rationales und Irrationales, ernstzunehmende Bedenken, wahnhafte Verschwörungsideologien und rechtsradikale Propaganda. Ängste und Sorgen werden von angeblich um Aufklärung besorgten Talkshow-Moderator*innen oder Social-Media-Influencer*innen geschürt und von unterschiedlichen Kräften instrumentalisiert.

In der Debatte um den sogenannten Exit entfaltete sich die Dynamik der unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen, die für einen kurzen Moment durch die akute Bekämpfung der Seuche vereinheitlicht wurden.

Die ideologische Formierung der Diskussion konzentriert sich darauf, einzelne Aspekte auszugrenzen oder mit enormer Macht zum relevanten Gesichtspunkt zu erheben; auch wird ein Gegensatz zwischen „Exit“, „Lockerung“ und „verantwortungsvoller Normalität“ auf der einen und Beschränkung auf der anderen Seite gebildet. Es ist davon die Rede, dass eine kluge Balance zwischen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten gefunden werden müsse. Dies vereinseitigt die Probleme und bringt falsche Gegensätze mit sich. Verdeckt wird dabei, dass die Politik der Bundesregierung es versäumt hat, die notwendigen Vorrausetzungen für die jeweils gewählten Maßnahmen der Öffnung zu schaffen. Dies gilt für den Gesundheitsschutz ebenso wie für die soziale Absicherung aller.

Auch in der Linken wurde der Umgang mit der Pandemie und die Einschätzungen des Krisenmanagements seit den Diskussionen Anfang März vereinseitigt. Von den einen werden die staatlichen Einschränkungen der Grundrechte kritisiert. Manche legen sogar nahe, dass der Rückgriff auf staatliche Notstandsmaßnahmen vor allem deswegen erfolgt, um mit dem Ausnahmezustand zu regieren. Demgegenüber halten andere Linke die jetzigen Lockerungen einzig für die Folgen des Drucks aus der Wirtschaft, die um ihre Gewinne besorgt ist und sehen daher einen möglichst langen Shut Down als richtigen Umgang mit der Pandemie an. Beides erscheint uns zu schlicht gedacht. Eher zielen die Kalküle im bürgerlichen Lager, das in der Frage der Lockerungen gespalten ist, auf eine Normalisierung der Krise. Wir wollen daher die Frage von Michel Foucault nach einer sozialistischen Gouvernementalität aufgreifen, die Panagiotis Sotiris in Erinnerung gerufen hat.

Wir argumentieren, dass das Regieren und politische Bearbeiten der durch SARS-CoV-2 ausgelösten Gesundheitskrise real mehr als nur Gesundheit oder Wirtschaft und Profit in ein Verhältnis zueinandersetzt, es geht um eine Vielzahl von Einzelrationalitäten. Dazu zählen beispielsweise: Schutz vor der Infektion, Überlastung des Gesundheitsbereichs, demokratische und Grundrechte, staatliche Verwaltung, Erhaltung der öffentlichen Ordnung und polizeiliche Kontrolle, Gewinninteressen der Unternehmen, Sicherung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Infrastruktur, Schuldenregime, Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen, ökologische Perspektiven, soziale Lage der Bevölkerung. Wir sind der Ansicht, dass diese Rationalitäten und die von ihnen formulierten Ziele selbst kritisch in Frage gestellt und auf Alternativen hin überprüft werden müssen. Auch kritische Abwägungen und Gewichtungen zwischen ihnen müssen vorgenommen werden. Einige dieser verschiedenen Rationalitäten geraten in Konflikt miteinander – andere können durch eine in Zukunft auszuarbeitende Regierungskunst in andere Anordnungen und ein positives Verhältnis zueinander gebracht werden. Entscheidend ist also die Frage, wie diese sich teilweise widersprechenden Rationalitäten unter den gegebenen kapitalistischen Verhältnissen umgearbeitet oder miteinander abgewogen werden.

Wir befinden uns in einer Situation des Übergangs. Dieser ist bestimmt davon, ob die herrschaftliche Normalisierung der Pandemie-Krise in Deutschland gelingt. Damit meinen wir nicht nur, dass wir uns alle auf eine „neuen Normalität“ eines Lebens mit der fortbestehenden Gefahr der Corona-Pandemie einstellen müssen, also auf einen Alltag, der weder einen monatelangen Shut Down des gesellschaftlichen Lebens noch eine einfache Rückkehr zur früheren Normalität bedeutet. Unter welchen Bedingungen werden die profitorientierte Wettbewerbsorientierung und ein von Konsumismus getriebener Alltag fortgesetzt werden können? Nachdenkliches zu dieser und anderen Fragen findet sich auch in den Mainstreammedien angedeutet, es bleibt aber vielfach unverbindlich. Aus linker Sicht stellt sich die Frage nach den Zusammenhängen, Ursachen, Folgen und Alternativen. Dazu gehört auch die Frage, wie die herrschenden neoliberalen politischen, ökonomischen und kulturellen Kräfte die Pandemiekrise bearbeiten und nutzen, so dass ein „neuer Alltag“ erzeugt wird, der angesichts der neuen Herausforderungen (partielle Deglobalisierung, Schwächen in den Lieferketten und in der internationalen Nachfrage, Klimawandel) im internationalen Standortwettbewerb „optimal“ ist und auf die komplexen Kosten-Nutzen- und Risiko-Kalküle eingestellt ist. Normalität, also kollektive Gewohnheiten, Vertrauen in den Alltag und das Gefühl der Kalkulierbarkeit von Risiken, wird in hohem Maße herrschaftlich produziert und reguliert. Es stellt sich also die Frage, wie versucht wird, diese Normalisierung zu erreichen, wer den Nutzen hat und wer die Kosten trägt, welche Folgen dies für mögliche Krisenprozesse in der nahen Zukunft haben kann?

Nach unserem Verständnis haben wir es mit einem weltgeschichtlichen Krisenvorgang zu tun, der unsere Begriffe und Analysen sehr weitreichend herausfordert. Deswegen ist Nachdenklichkeit, Vorsicht bei Einschätzungen und kollektive Diskussion gefragt. Dies gilt umso mehr, als die Pandemie ebenso wie die ökologische Krise die Grenzen zwischen Sozial- und Naturwissenschaften für weitere Gebiete in Frage stellt. In die Analyse und Strategiediskussion müssen neue Wissenspraktiken einbezogen werden. Dies bedeutet, dass es zu neuen Verbindungen zwischen den Vertreter*innen verschiedener Disziplinen kommen muss. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie die vielen Vorbehalte zeigen, die auf den sogenannten Hygienedemonstrationen, aber auch in der offiziellen Politik gegen das virologische oder epidemiologische Wissen geäußert werden. Auch die Linke steht vor der Herausforderung, Sorge für die Wahrheit zu tragen, für ein neues Feld des Wahr-Sagens einzutreten, für einen Materialismus, der die Materialität der Viren und ihrer Folgen ernst nimmt, für die Rationalität von Maßnahmen, die auf den ersten Blick den demokratischen Freiheitsrechten zu widersprechen scheinen und sie durchaus auch bedrohen können, die aber doch den Sinn haben, nicht den Eigennutz, sondern die Freiheit und den Schutz der anderen zu garantieren. Für eine sozialistische Gouvernementalität geht es um die Frage der Demokratie, der radikalen Demokratisierung des Wissens und der Entscheidungen über Schritte, wie eine Pandemie und andere Schock-Krisen im gesellschaftlichen Naturverhältnis eingedämmt und wie die Krisen in langer Perspektive demokratisch bewältigt werden können. Es geht also um eine radikale Demokratisierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und um Gesundheitsversorgung als einer umfassenden globalen sozialen Frage.

DIE RATIONALITÄT DES KRISENMANAGEMENTS DER PANDEMIE

Wir befinden uns in einer historisch neuen Krisen-Situation (vgl. Harvey 2020; Davis 2020; IfG 2020). Unter Bedingung einer Weltwirtschaftskrise sind der Umgang mit epidemiologischem Wissen und die Regierung der Gesundheit der Bevölkerung (Public-Health) zu einem wichtigen Feld hegemonialer Auseinandersetzungen geworden, da hier widersprüchliche Tendenzen und Interessen zusammenkommen und sich verknoten. In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es keine Gesamtrationalität und kein Gesamtsubjekt, bei Strafe der Benachteiligung oder des Untergangs müssen die Einzelnen miteinander konkurrieren, sie sind an ein Freiheitsverständnis und Interessen gebunden, die sie den Tod anderer in Kauf nehmen lassen und sie daran hindern, in aller Freiheit vernünftig mit anderen gemeinsam langfristige Lösung zu finden und zu verfolgen. Wir erleben das seit langem in der Konkurrenz der Produktionseinheiten, in der (neo)kolonialen Verfügung über Regionen und Rohstoffen und den militärischen Auseinandersetzungen darum, schließlich in den scheiternden Bemühungen, die zerstörerische Klimaentwicklung abzuwenden. Nun erleben wir es erneut im Verhältnis zur Pandemie, die die Gesundheit und das Leben vieler bedroht. Denn das Krisenmanagement ist national und global alles andere als einheitlich oder auch nur transnational koordiniert. Eher gibt es wechselseitige Beobachtung und Übernahme von Regierungsstrategien und -techniken mit der lauernden Erwartung, dass andere Nachteile erfahren, die sich in der ökonomischen und politischen Konkurrenz ausnutzen lassen.

Unterschiede im Krisenmanagement erklären sich durch die Eingliederung eines Nationalstaats in die globale Arbeitsteilung, durch unterschiedliche nationale wirtschaftliche Ausgangsbedingungen, (fehlende) Kapazitäten nationaler Public-Health-Institutionen und Gesundheitssysteme und die (öffentlich-mediale) Verfügung über wissenschaftliches Wissen. Man denke nur an den Murdoch-Konzern, der in seinen Medien systematisch falsch berichtet oder an die Pharmaunternehmen, die nicht mehr zu Impfstoffen forschen, weil es sich für sie wirtschaftlich nicht lohnt. Unter kapitalistischen und neo-kolonialen Bedingungen sind die Möglichkeiten zur effektiven Eindämmung per se global extrem ungleich verteilt. Die Handlungsspielräume der Regierungen werden maßgeblich durch die Position der jeweiligen Länder in der imperialen Kette, sowie durch wirtschaftliche Abhängigkeit und Verschuldung begrenzt. Auch deswegen kann es aus linker Sicht nicht darum gehen, in die Lobeshymnen auf Merkels Krisenmanagement einzustimmen, die in liberalen und neoliberalen internationalen Medien erklingen. Ein wochenlanger Shut Down der wirtschaftlichen Produktion ist global gesehen überhaupt nur in wenigen wirtschaftlich starken Staaten eine Option. Umgekehrt ist ein effektives und verhältnismäßiges Krisenmanagement (Eindämmung von Infektionen, wenige schwere Verläufe und Tote) längst zu einem wichtigen Faktor im globalen Standortwettbewerb geworden. Ein dauerhafter Shut Down der Wirtschaft ist weder im Interesse der verschiedenen Fraktionen des Kapitals und des neoliberalen Machtblocks, noch im Interesse einer Vielzahl von Lohnabhängigen.

Auf dem Papier folgt das Krisenmanagement einer Pandemie in Deutschland klaren Kriterien. Nach den Erfahrungen der SARS-Epidemie 2003 hatte die Bundesregierung eine Risiko-Analyse für eine mögliche SARS-ähnliche Pandemie in Auftrag gegeben. Es wurde der Lenkungsausschuss „Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund“ gebildet, in dem alle relevanten Ressorts vertreten sind und der durch das Bundesministerium des Innern (BMI) koordiniert wird. Mit der Federführung bei der Risikoanalyse wurde das Robert Koch Institut (RKI) beauftragt, zahlreiche Bundesbehörden wie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) wurden einbezogen. In dem Bericht von 2013 an den Deutschen Bundestag werden verschiedene Szenarien für den Verlauf einer Pandemie dargelegt. In allen Modell-Szenarien mit einem im Vergleich zur aktuellen Pandemie tödlicheren Virus wurde von hohen Todeszahlen und einer Überlastung des Gesundheitssystems ausgegangen.[2]

Offensichtlich ist heute: Aus der Risiko-Analyse wurden keine ausreichenden politischen Konsequenzen gezogen. Es wurden nicht die Weichen für mehr Personal in Krankenhäusern und Gesundheitsämtern, für einen Ausbau öffentlich organisierter Testkapazitäten oder die Produktion von Schutzkleidung gestellt – denn das hätte bedeutet, den neoliberalen Pfad der Ökonomisierung des Gesundheitssystems (vgl. Dück 2020) und der Sparpolitik bei der kommunalen Infrastruktur zu verlassen. Pandemie-Pläne existieren in Deutschland also seit Jahren, wurden jedoch nicht ausreichend weiterentwickelt, wie auch Wolfram Geier, Leiter der Abteilung Risikomanagement und Internationale Beziehungen im BBK aufzeigt (Geier 2000). Zugleich wird aber deutlich, dass die Bundesregierung im Februar und März auf Vorbereitungen und Wissen im RKI und anderen Bundesbehörden zurückgreifen konnte, was mit dazu beigetragen hat, eine Überlastung des Gesundheitssystems in der ersten Welle der Pandemie zu verhindern.

An der „Risiko-Analyse Bevölkerungsschutz“ lassen sich die politischen Prioritäten einer (neo)liberalen Gouvernementalität der Eindämmung einer Pandemie erkennen: An erster Stelle steht die politische Stabilität durch Aufrechterhaltung einer „kritischen Infrastruktur“ der Gesellschaft (Politik, Sicherheitsapparate und Verwaltung, Lebensmittelversorgung, Gesundheitssystem, Energie- und Wasserversorgung). Es soll möglichst vermieden werden, dass „zunehmende Verunsicherung und das Gefühl, durch die Behörden und das Gesundheitswesen im Stich gelassen zu werden“, die politische Stabilität untergräbt (BBK 2013, 79). In dieser Rationalität des Risikomanagements können durchaus möglichst schnelle Schritte zur Eindämmung und Verlangsamung einer Pandemie Vorrang vor kurzfristigen (!) wirtschaftlichen Erwägungen haben, weil ein Unterlassen von Maßnahmen selbst weit größere wirtschaftliche Schäden verursachen könnte. Es versteht sich jedoch, dass unter kapitalistischen Verhältnissen der Druck hoch ist, Einschränkungen um der Möglichkeit der Profitmaximierung wegen möglichst gering zu halten. Das Krisenmanagement navigiert so zwischen der Abwägung der Stabilität der „kritischen Infrastruktur“, des Gesundheitsschutzes (der Bevölkerung insgesamt), langfristiger ökonomischer Verluste einerseits und andererseits den jeweiligen kurz- und langfristigen wirtschaftlichen Folgen und Kosten (Insolvenzen, öffentliche und private Schulden, Arbeitslosigkeit, Steuerausfälle). Zwischen den Profiten und der Wettbewerbsfähigkeit der in Deutschland dominanten Exportindustrie, dem von der Politik beschworenen Kern der Wirtschaft, und dem Gesamt an Wirtschaftsaktivitäten (Einzelhandel, Handwerk, Kleingewerbe wie Gastronomie oder Clubs) muss dabei unterschieden werden.

Pandemie-Pläne und bisherige Risikoanalysen sagen aber über die Risikoeinschätzungen und Verhältnismäßigkeiten aus Sicht der machtvollen Akteure für den Verlauf einer monatelangen Pandemie wenig aus. Seit Anfang März war es ein mühsamer Koordinationsprozess zwischen den Ländern und der Bundesregierung sowie zwischen den verschiedenen Ministerien, um zu einer relativ einheitlichen Politik zu gelangen. Die pandemische Gefahr wurde bis Anfang März immer noch für zu gering eingeschätzt, um die wirtschaftlichen Aktivitäten entschieden einzuschränken – mit all den Folgen, die dies haben würde für die Aufrechterhaltung der Versorgung, die Gewinne, die Steuern, die Ausgaben zur Unterstützung der Firmen und Lohnabhängigen, die Arbeitslosigkeit und die Existenz der Unternehmen. Schließlich dürfte auch die Einschätzung bestanden haben, dass eine Einschränkung des gesellschaftlichen Lebens bei vielen Bürger*innen eher kritisch gesehen würde. Nach längerem Zögern wurde ab Anfang März die Bevölkerung – koordiniert mit den Unternehmen – auf Beschränkungen vorbereitet. Für Mitte März wurde mit einer gewissen Ungleichzeitigkeit zwischen den einzelnen Bundesländern ein partieller Shut Down beschlossen und durchgesetzt. Ohne dass es in Deutschland zu einem Regieren mit dem Notstand gekommen wäre, ging die Entscheidungskompetenz an ein informelles Steuerungszentrum über, dass aus Bundesregierung, also insbesondere Gesundheitsminister und Kanzlerin, und Landesregierungen bestand, die untere Körperschaften mit Verordnungen regierten. Von besonderer Bedeutung wurde auch die enge Beratung durch das Robert-Koch-Institut und weitere Virolog*innen und Epidemiolog*innen, – und dies verstärkt durch die Endlosschleife der Talkshows (Will, Illner, Maischberger, Lanz) und den Chor der Zeitungen, in denen die immer gleichen Politiker*innen und Wissenschaftler*innen auftraten. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Menschen sich in dieser Schock-Situation von plötzlichen weitreichenden Einschränkungen des Alltags überrollt fühlten. Sie versuchten sich zu orientieren und im Netz Informationen zu finden. Dabei wurden jedoch auch Ressentiments, autoritäre Orientierungen, Bildungsmangel und Wissenschaftsfeindlichkeit durch strategisch gesetzte Fake News, durch populistische Propheten und Demagogen bestätigt.

Einen vollständigen Shut Down gab es in Deutschland nicht. Ein erheblicher Teil der beruflichen Tätigkeiten wurde ins Home-Office verlegt. Neben Großhandel, Gastronomie- und Tourismusbetrieben, dem Einzelhandel, dem kulturellen Bereich wie Kinos oder Theater ruhte in wenigen relevanten Teilen der Industrie wie bei VW, Daimler und vielen Zulieferern die Produktion. Handwerksbetriebe, Logistik, Versandhandel wie Amazon, die Chemieproduktion, die Nahrungsmittel- und Fleischindustrie u.a. waren aber keineswegs geschlossen. Der Shut Down wurde in der deutschen Schlüsselindustrie, den Automobilherstellern, ohne großen Widerstand vollzogen, weil ohnehin die Vorprodukte aus anderen Ländern nicht mehr geliefert wurden. Auch das Kalkül, dass ein nennenswerter Teil der eingearbeiteten Lohnabhängigen durch Krankheit oder gar Tod ausfallen könnte, mag für die Unternehmen ein wichtiger Gesichtspunkt gewesen sein. Jenseits von kurzfristigen Gewinneinbußen ging es darum, die Gefahr zu beschränken, dass die fein austarierten Abhängigkeiten zwischen den Einheiten des Produktionsapparats Schaden nehmen, die Wiederaufnahme des Betriebs empfindlich stören, und damit auch Konkurrenznachteile im internationalen Wettbewerb schaffen würden. Der Kern der deutschen Industrie sollte für einen schnellen Aufschwung gesichert werden. Entsprechend wurde auf das Kriseninstrumentarium aus der Finanzmarktkrise zurückgegriffen: es wurde Kurzarbeit ermöglicht. Die Beschäftigten wurden nicht unmittelbar auf den Arbeitsmarkt geworfen, wie das in den USA der Fall ist. Für die Konkurrenz und Wettbewerbsorientierung der Unternehmen in Deutschland ist das maßgeblich. So können sie den Wettbewerbsvorteil nutzen und den richtigen Moment abpassen. Zu früh wieder loszulegen, kann hohe Kosten ohne Gewinne mit sich bringen und die Beschäftigten Gesundheitsrisiken aussetzen; die Wirtschaftsaktivitäten zu spät wieder aufzunehmen, kann zu Konkurrenznachteilen führen. Obwohl von Seiten der Regierung und in den Medien immer wieder der Vorrang der „Gesundheit der Menschen“ betont wurde, so dass alle sich angesprochen fühlen konnten, ging es eben nicht um den Gesundheitsschutz der Einzelnen, sondern darum, für die erste Phase der Pandemie die Risiken gering zu halten und gegeneinander abzuwägen.

Zu dem Kräfteverhältnis, das die ersten Reaktionen auf die Pandemie prägte, gehört auch, dass alle relevanten Akteur*innen der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD ein hohes Interesse hatten, Szenen wie die in Italien zu verhindern. Ein relevanter Teil ihrer Stammwähler*innen ist älter und viele Unions-Wähler*innen dürften selbst zu einer „Risikogruppe“ gehören. Dazu kommt, dass die Union Ende Februar in bundesweiten Umfragen nur noch ganz knapp vor den Grünen lag, nach dem Desaster von Thüringen geschwächt war, und innerlich von Richtungsstreit und Konkurrenzkampf um den Vorsitz zerrissen wurde. Eine verspätete, aber entschlossene Eindämmungspolitik, der schnelle Ausbau der Kapazitäten auf den Intensivstationen, Kredithilfen für Unternehmen und Selbständige, Kurzarbeit und eine zumindest minimale soziale Abfederung für Kleinbetriebe ermöglichten es, die Zustimmung größerer Teile der Bevölkerung zu gewinnen. Zugleich wollte man offensichtlich den am Anfang der Krise in den Umfragen noch sehr starken Grünen und den anderen Oppositionsparteien (die ja bis auf die AfD indirekt über den Bundesrat am Regierungsprozess beteiligt waren), den Medien und der Zivilgesellschaft insgesamt möglichst wenig Ansatzpunkte für Kritik geben: So fielen die Eingriffe in die Grundrechte insgesamt moderater aus als in Ländern wie Österreich, Italien, Frankreich oder Spanien. Auch die politische Kommunikation des Krisenmanagements unterschied sich deutlich von Macrons „Krieg“ gegen das Virus, von Seiten der Kanzlerin wurden seit ihrer Rede am 18. März mehrfach die demokratischen Zumutungen der Pandemie und die Einschränkungen der parlamentarischen Arbeit beklagt, Kritik durch die Gesellschaft gefordert und die möglichst baldige Rückkehr zur demokratischen Normalität angekündigt. So gelang es, einen Konsens innerhalb des neoliberalen Machtblocks[3] herzustellen, zugleich die Regierungskoalition zu stärken, die Opposition weitgehend einzubinden und Zustimmung bei einem großen Teil der Bevölkerung für die umfassend einschränkenden Maßnahmen zu finden.

EIN RISIKOREICHES EXPERIMENT – ZUR EINSCHÄTZUNG DER EXIT-BESCHLÜSSE

Über die Zeiträume und Geschwindigkeiten, mit denen die Einschränkungen, die zum Infektionsschutz verhängt wurden, zurückgenommen werden sollten, wird zu Recht diskutiert. Es ist klar, dass eine Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen ist: der gesundheitliche Schutz nicht nur vor der Infektion, sondern auch vor anderen körperlichen und psychischen Krankheiten, die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung und der Erhalt der ökonomischen Infrastruktur, aber auch Freiheitsrechte der Bürger*innen. Ein Lock-Down produziert soziales und emotionales Leid, und dieses ist sehr ungleich verteilt: enge Wohnungen, häusliche Gewalt, Stress und Belastungen für Kinder, Bildungsbenachteiligung, verlorene Lebenszeit und Einschränkung der sozialen Beziehungen. Vor allem für Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche, die mit psychisch erkrankten oder gewalttätigen Eltern leben, ist dies eine Katastrophe, auch häusliche Gewalt gegenüber Frauen nimmt zu. Die Abwägung der negativen sozialen und gesundheitlichen Folgen in ihrem Verhältnis zueinander ist schwierig – und sie hängt maßgeblich von gezielten sozialpolitischen Maßnahmen ab, die getroffen werden, um die Situation für die in den verschiedenen Hinsichten jeweils schwächsten Teile der Bevölkerung abzufedern. Nur wenn die Pandemie mit einer katastrophalen Überlastung der Krankenhäuser einherginge, die den Tod von Hunderttausenden, darunter auch vielen Gesundheitsarbeiter*innen wahrscheinlich machte, könnte ein sich über mehrere Monate hinziehender Lock-Down ein gebotenes, verhältnismäßiges Mittel sein. Dieser würde einen krisen-getriebenen Umbau der gesamten Wirtschaft und Infrastruktur innerhalb weniger Wochen erforderlich machen und wäre mit großen sozialen und wirtschaftlichen Kosten verbunden. In der epidemiologischen Fachdiskussion spricht kaum jemand von einem solchen monatelangen Lock-Down. Er wird jedoch in der öffentlichen und halböffentlichen Diskussion immer wieder als Zerrbild herangezogen. Im Kern drehte sich die Auseinandersetzung der letzten Wochen darum, ob die Maßnahmen bis Juni oder (teilweise) gar Juli beibehalten werden sollten oder im Laufe des Mai ein weitgehender Exit und die Rückkehr zur Normalität erfolgen könnten.

Die Beschlüsse der Bundesländer und der Bundesregierung beinhalten sinnvolle Schritte: die Ausweitung der Notbetreuung für die Kitas[4] sowie die Lockerung der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen dahingehend, dass sich jetzt auch Angehörige aus zwei Haushalten mit Abstand treffen können, war überfällig. Die alte Regelung war von Anfang an zu restriktiv und heteronormativ, da sie von klassischen Paar-, Familien- und Haushaltsmodellen ausging. Damit benachteiligte sie Menschen, die ihre sozialen Zusammenhänge jenseits dieser Modelle leben. Aus sozialen Gründen ist auch die vorsichtige Öffnung der Schulen richtig, denn die Schließung verschärft Bildungsungleichheit. In der Schule erhalten viele Kinder und Jugendliche außerdem eine Mahlzeit, haben die Möglichkeit, das beengte und teils belastende familiären Umfeld für eine gewisse Zeit zu verlassen und ihre eigenen sozialen Beziehungen zu pflegen. Prinzipiell sinnvoll ist es auch, kleine Geschäfte im Einzelhandel oder Dienstleistungsbereich, Cafés und Restaurants, deren Inhaber*innen meist nur über eine geringe Reserve und Absicherung verfügen, mit Abstandsregelungen wieder zu öffnen. Eine entscheidende Frage ist dabei aber die des Zeitraums. Wenn de facto große Teile des Arbeitslebens (bis auf die Bereiche, in denen gut im Home-Office gearbeitet werden kann), der gesamte Einzelhandel, Restaurants, die Schulen und Teile der Kitas wieder öffnen, nehmen Mobilität und Kontakte stark zu.

Mit dem Tempo der weitreichenden Öffnungsbeschlüsse werden nicht zuletzt die Warnungen von Epidemiolog*innen ignoriert. Christian Drosten etwa hat eine vorzeitige Öffnung mehrfach kritisiert.[5] Bemerkenswert war es, dass sich die führenden Forschungsnetzwerke, wie Helmholtz- und Fraunhofer-Institut und Max-Planck-Gesellschaft Ende April zu einer symbolträchtigen gemeinsamen Intervention entschieden. Sie reagierten damit sowohl auf den Druck von Wirtschaftsverbänden und Medien, als auch auf unseriöse Kritik von Politikern wie Armin Laschet. Dieser hatte den Wissenschaftler*innen vorgeworfen, jeden Tag etwas anderes zu sagen und sehr verschiedene Positionen einzunehmen. In beiden Hinsichten wurde diese Kritik von den Epidemiolog*innen zurückgewiesen. Gleichzeitig wundert es nicht, dass angesichts einer dynamischen Pandemie, eines weitgehend unbekannten Virus und der fehlenden medizinischen Erfahrungen mit Covid 19 sich auch die wissenschaftlichen Einschätzungen im Verlauf änderten. Von einer demokratischen Politik muss man erwarten, dass sie keine falschen Ansprüche an wissenschaftliche Diskussionen nährt; Wissenschaften sind notwendig kontrovers und verkünden keine letzten Wahrheiten, ihre Erkenntnisse können widerlegt oder von neuer Erkenntnis überholt werden.

In ihrem Statement schlagen die Institute eine Strategie der konsequenten, aber „adaptiven“ Eindämmung des Virus vor.[6] Diese unterscheidet sich von der Strategie einer Verlangsamung der Epidemie, die vor allem darauf zielt, ein exponentielles Wachstum und eine Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern. Die staatlichen Eindämmungsmaßnahmen – so das Statement – sollten solange in Kraft bleiben, bis es stabil über einige Wochen nur noch wenige Infektionen gibt. Gemeinsam ist beiden Strategien, dass sie feste Kriterien für eine Eindämmung formulieren.[7]

Je nachdem, wie strikt diese Kriterien ausfallen, kann zwischen konsequenter Eindämmung und Verlangsamung ein größerer oder gradueller Unterschied bestehen. Die von den Regierungen gefällten Beschlüsse verfolgen die Strategie der Verlangsamung, wobei als Kriterium festgelegt wurde, dass die regionalen Infektionszahlen 50 Neuinfektionen pro Woche pro 100 000 Einwohner*innen nicht übersteigen dürfen – sonst müssten wieder regionale Eindämmungsmaßnahmen getroffen werden.[8] In der Berichterstattung über die erste Beschlussvorlage für das Treffen von Bundesregierung und Ländern war noch von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen die Rede gewesen. Der Druck zu weniger Vorsicht und mehr Öffnung war wohl bis zuletzt hoch. Beide Zahlen sind willkürlich und folgen nicht dem Ziel einer konsequenten Eindämmung. Bei 35 Neuinfektionen wären die Gesundheitsämter eher in der Lage, die Infektionskette zu verfolgen. Die Forschungsinstitute wiederum hatten einen deutlich niedrigeren Zielwert empfohlen: Als Kriterien für einen schrittweisen, regionalen Exit wurde ein R-Wert eher unter 0,5 und tägliche Neuinfektionen um die 100 Fälle bundesweit vorgeschlagen. Diese Werte waren zum Zeitpunkt der Lockerungen noch nicht erreicht: in der Woche vor dem 6.Mai lagen die täglichen Neu-Infektionen bundesweit laut RKI zwischen 650 und über 1000 registrierten Fällen, die Dunkelziffer dürfte nach bisherigen, umstrittenen Schätzungen um das 5- bis 10-fache höher liegen.

Es besteht somit das Risiko, dass tatsächlich zu früh gelockert wurde und es zu einer neuen, zweiten Infektionswelle kommen kann. Derzeit lassen sich die Auswirkungen der Lockerungs-Beschlüsse vom 6. Mai noch nicht absehen. Jedoch gibt es (Stand 19.5.) bundesweit deutlich weniger als 1 000 Neuinfektionen pro Tag (ca. 665 im Tages-Durchschnitt einer Woche), der Reproduktionswert liegt am 18.5. mit 0,87 unter der kritischen Marke von 1, aber über dem R-Wert (0,65) vom 6.5 (FAZ, 12.5.2020).

Mit den Exit-Beschlüssen wird das Krisenmanagement in die Verantwortung der Länder zurückgegeben und zugleich der Umgang mit der Infektionsgefahr in gewisser Weise individualisiert.  Höhere Infektionszahlen werden in Kauf genommen. Das ist zweischneidig. Selbstverständlich kann es keine hundertprozentige Sicherheit geben, und ein teils sehr niedriges und vor allem regional sehr unterschiedliches Infektionsrisiko kann nicht auf Dauer landesweite Einschränkungen rechtfertigen, die wiederum selbst negative ökonomische, soziale, emotionale und gesundheitliche Folgen für viele Menschen bedeuten. Dennoch bestehen erhebliche Zweifel, ob die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche regionale Eindämmung geschaffen wurden. Einige Gesichtspunkte:

  • Trotz der im April beschlossenen Aufstockung des Personals bei den Gesundheitsbehörden fehlt es weiter an ausreichend qualifizierten Kräften in den Gesundheitsämtern und Verwaltungen.
  • Der im Beschluss erwähnte Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ist nicht überall gegeben. Für umfassende Kontrollen von Unternehmen und Geschäften fehlt es an Personal und politischem Willen.[9] Dies zeigte sich am Aufflammen der Infektionen in Fleisch- und Handelsbetrieben, Call-Centern, bei Erntehelfern in der Landwirtschaft sowie in der Logistik.
  • In Kitas und Schulen bräuchte es deutlich mehr Personal, um kleine Gruppen besser betreuen und Beschäftigten aus Risikogruppen freistellen zu können. In den Schulen sind infolge der Sparpolitik oft die Bedingungen für notwendige Hygiene (Toiletten, Waschbecken, Warmwasser, Seife und Desinfektionsmittel, ausreichende Reinigung der Gebäude etc.) nicht gegeben. Infektionsausbrüche an Schulen haben gleich nach Beginn der Lockerung schon wieder zu Schulschließungen geführt. In der Praxis sind die getroffenen Regelungen und die Kriterien auf Länder- und z.T. kommunaler Ebene sehr unterschiedlich. Das ist sowohl hinsichtlich der Bildungsgerechtigkeit als auch des Infektionsschutzes problematisch. Insgesamt kommt es nicht ansatzweise zu einer vollständigen Wiederaufnahme des Schulbetriebs.[10]
  • Auch in der Pflege fehlt es an Personal, oftmals an Zeit für gute Pflege und konsequente Hygiene und immer noch an ausreichend medizinischer Schutzausrüstung (v.a. medizinische Masken). Für den Schutz der Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen, der mit weitreichenden Öffnungen von Kitas und Schulen wichtiger wird, sind immer noch nicht flächendeckend ausreichende Schutzkonzepte verpflichtend und umgesetzt worden.
  • Insgesamt müssten für Beschäftigte in Bereichen mit höherem Infektionsrisiko und für alle Angehörigen von Risikogruppen medizinische Schutzmasken zur Verfügung gestellt werden. Hier müsste der Staat deutlich mehr Kapazitäten für die gemeinwohl-orientierte Produktion von Schutzmasken zu vernünftigen Preisen schaffen – stattdessen wurde spät gehandelt und private Unternehmen subventioniert.
  • Beschäftigte in der Pflege und den Krankenhäusern, in Kitas und Schulen müssten regelmäßig getestet werden. Zudem wäre das für Kita-Kinder in der Notbetreuung und Schüler*innen sinnvoll. Derzeit werden die Testkapazitäten nicht ausgeschöpft (Der Spiegel, 14.5.2020) und teils falsch eingesetzt, etwa für Tests von Fußballspielern der Bundesliga. Das verzerrt das Gesamtbild der Infektionszahlen deutlich. Sinnvoll sind bei regionalen Ausbrüchen auch repräsentative Stichproben-Tests. Die Test-Infrastruktur wurde zwar massiv aufgestockt, aber für ein flächendeckendes Testen von einer bis fünf Millionen Menschen/Woche fehlen vor allem die personellen Kapazitäten. Streit findet auch darüber statt, wer die erheblichen Kosten der Tests trägt (die Individuen, die Unternehmen, die Krankenkassen, der Staat), was weiter zu Verzögerungen beiträgt.[11]
  • Für Menschen, die in Massenunterkünften leben müssen (vor allem Geflüchtete und Obdachlose), ist noch keine akzeptable Lösung gefunden worden. Teils kam es in solchen Unterkünften zu Infektionsausbrüchen in deren Folge ganze Gebäude unter Quarantäne gestellt wurden, was nach jüngsten Urteilen unterschiedlicher Verwaltungsgerichte rechtswidrig ist. (Leave no one behind nowhere 2020)

Das Prinzip regionaler, „adaptiver“ Eindämmung ist prinzipiell sinnvoll, da die Epidemie regional und lokal verläuft. De facto haben sich im Kräftespiel jedoch verschiedene mächtige Interessen und Interessengruppen durchgesetzt. Auf der Ebene des regionalen Staates wird dies noch stärker werden. Die Bundesregierung hat das Heft des Handelns aus der Hand gegeben. Kanzlerin Merkel ist geschwächt. Zudem findet keine verbindliche öffentliche Lageeinschätzung durch das Robert Koch Institut statt, welches keine regelmäßigen Pressekonferenzen zur Corona-Pandemie mehr durchführt. Die Verlagerung des Krisenmanagements auf die regionale Ebene kann zu einem risikoreichen Vorgehen werden, da es nun ein Moment von kommunaler oder regionaler Standortkonkurrenz wird. Es zeichnet sich eine allgemeine Konkurrenz um die schnelle Öffnung ab: Wirtschaftsverbände, Länder, Kommunen, Fußballvereine usw. versuchen ihre Interessen unmittelbar zur Geltung zu bringen. Einzelne Kommunen, die von Steuerausfällen betroffen sind, aber auch Landkreise und Bundesländer werden möglicherweise Infektionen nicht entschieden genug verfolgen, weil sie damit Maßnahmen gegen die lokale Wirtschaft ergreifen und Nachteile befürchten müssten. Es besteht die Gefahr, dass sich zahlreiche partikulare Standpunkte durchsetzen, die wohl erst dann wieder zurückgedrängt werden, wenn auch große Unternehmen und Einrichtungen betroffen und in ihren Funktionen gestört sein werden. Zu diesem Problemkomplex gehört auch, dass in den Regionen, Institutionen und Vereinen sehr unterschiedlich stark und genau getestet wird, was eine unmittelbare Auswirkung auf die ermittelte Fallzahl und damit auf das Erreichen der „Obergrenze“ hat.

PREKÄRE BALANCE

Die Gesamtentwicklung lässt sich derzeit so zusammenfassen: Die heterogenen Interessenlagen und falsche Einschätzungen der Pandemie haben ein schnelleres Handeln im Februar verhindert. Das wird mittlerweile auch von Beteiligten des Gesundheitsausschusses des Bundestags bestätigt (tagesschau.de, 17.5.2020). In den ersten beiden Märzwochen wurde ein Konsens im Machtblock gefunden, der allerdings nur bis Anfang April gehalten hat. Ab diesem Zeitpunkt erodierte der Konsens der mächtigen Akteure, die nun über die verschiedenen Bundesländer eine Öffnung betrieben. Eine offene, demokratische Diskussion kann angesichts solcher mächtiger Interessen nicht geführt werden – eine solidarische Strategie ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Diese sollte durchaus differenzierter sein. Die Infektionen sind regional sehr ungleich verteilt. Insofern ist es richtig, von einem flächendeckenden Lock-Down abzugehen. Doch die kurze Erfahrung seit dem 6. Mai zeigt bereits, wie riskant es ist, Infektionsschutzmaßnahmen zu früh zu lockern und die Verantwortung an untere politische Körperschaften abzugeben. Diese sind zu leicht unter Druck zu setzen. Es wäre deswegen richtig, an allgemeinen Kriterien festzuhalten: einem niedrigen Grenzwert für Neuinfektionen und klaren Maßnahmen bei Überschreitung. Die Entscheidungskompetenzen über regional und kommunal differenzierte Maßnahmen müssten weiterhin bei der Bundesregierung bleiben, so dass es zu übergeordneten, einheitlichen Entscheidungen kommen kann. Aktuell entsteht ein Flickenteppich von Entscheidungen, bei denen es leicht möglich ist, dass die regionalen Verantwortlichen nicht über die Grenzen der Kommune oder Landkreises hinweg schauen.

Die Balance, die derzeit zwischen verschiedenen Zielen mehrheitlich von der Bundesregierung und durchsetzungsstarken Akteur*innen des neoliberalen Blocks in Deutschland versucht wird, herzustellen, ist durch zwei Eckpunkte bestimmt:

  • Es geht nicht um „Herdenimmunität“, sondern um Verlangsamung der Pandemie, um ein flexibles Auf-Sicht-Fahren: die Maßnahmen werden so angepasst, dass die Neu-Infektionen nicht exponentiell zunehmen und der R-Wert rund um 1 liegt.
  • Die Wirtschaft soll möglichst schnell, aber koordiniert und nachhaltig wieder geöffnet werden.[12] Das Kalkül für die nächsten Wochen: strategische Bereiche der Wirtschaft sollen möglichst in mehreren Bundesländern koordiniert wieder hochgefahren, die Grenzen zu den Nachbarstaaten wieder geöffnet werden. Letzteres wird seit dem 15.5. vollzogen.

Das epidemiologische Krisenmanagement soll frühzeitig von moderatem „Hammer“ (partieller Shut Down ohne Ausgangssperren) auf „dance“ umgestellt werden: Massen-Tests, Verfolgung von Kontakten durch eine App und einen personell aufgestockten Gesundheitsdienst, schnelle Quarantäne und ggf. regionale Mobilitätsbeschränkungen. Social distancing im Alltag – aber keine Maßnahmen zum verstärkten Arbeitsschutz und Schutz beschäftigter Risikogruppen.

Zum aktuellen Stand des (Nicht-)Wissens gehört, dass nicht klar ist, ob diejenigen, die die Infektion schon hatten, gegen das Virus wirklich immun sind. Auch ist nicht klar, ob es überhaupt einen Impfstoff geben kann und wie lange dieser wirken würde. Umstritten ist zudem, welche Rolle Kinder bei der Übertragung und Weiterverbreitung des Virus spielen – was flächendeckende und vollständige Kita- und Schulöffnungen zu einem Risiko macht, das eigentlich nur bei einem sehr niedrigen Stand von Neu-Infektionen insgesamt zu verantworten ist. Weitere 4 bis 6 Wochen mit starken Einschränkungen von Mobilität und gesellschaftlichem Leben wären wahrscheinlich notwendig gewesen, um die Infektionszahlen soweit zu reduzieren, dass jede Infektionskette nachvollzogen werden kann. Dies wäre vorsichtiger und wahrscheinlich sinnvoller gewesen.

Diese gesellschaftliche Auseinandersetzung ist aber jetzt entschieden. Aus linker Sicht, ist es wichtig zu verstehen, wie es dazu kam. Nur wenn wir das Ringen der Herrschenden, um Kosten/Nutzen, Risiken und Verhältnismäßigkeit kritisch betrachten, können wir sinnvoll kollektiv an einer anderen, emanzipatorischen Verhältnismäßigkeit arbeiten, die Demokratie und Grundrechte, Gesundheitsschutz, gute Gesundheitsversorgung und soziale Absicherung in einer Krise für alle  zusammenbringt.

Im  zweiten Teil des Textes analysieren wir diese Kräfteverhältnisse in der sogenannten Lockerungs-Debatte, fragen danach, wie die Krise weiter gehen könnte und stellen Überlegungen für eine emanzipatorische Pandemiebekämpfung und Gouvernementalität an.

Erschienen im Online-Dossier zur Corona-Krise der Zeitschrift LuXemburg

Literatur

Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 2012: Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012

Davis, Mike, 2020: In a Plague Year., in: Jacobin, März 2020

Dehning, Jonas et al., 2020: Inferring change points in the spread of COVID-19 reveals the effectiveness of interventions, in Science, 15.5.2020

Demirović, Alex: Kapitalistischer Staat, Hegemonie und demokratische Transformation zum Sozialismus, in: Tobias Boos, Hanna Lichtenberger, Armin Puller (Hg.): Mit Poulantzas arbeiten … um aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, Hamburg 2017

Dück, Julia, 2020: “Whatever it takes”. Warum Spahns Hilfspaket nicht die Krankenhäuser rettet, sondern das neoliberale Fallpauschalensystem, in LuXemburg Online, April 2020,

Geier, Wolfram, 2020: Für eine nachhaltige Risikokultur, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 05/2020,

Harvey, David, 2020: Anti-Capitalist Politics in the Time of COVID-19, in: Jacobin, März 2020,

IfG & Friends, 2020: Ein Gelegenheitsfenster für linke Politik? Wie weiter in und nach der Corona-Krise, in LuXemburg Online, April 2020

IfO 2020: Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft: Eine Szenarienrechnung zur Eindämmung der CoronaPandemie, in: IfO Schnelldienst 6/2020

Krellmann, Jutta, 2020: Krise bei der Arbeitsschutzkontrolle, linksfraktion.de, 13.4.2020, 128ff.

Meyer-Hermann, Michael/Pigeot, Iris/Priesemann, Viola/Schöbel, Anita, 2020: Adaptive Strategien zur Eindämmung der COVID-19-Epidemie, helmholtz.de, 28.4.2020

MDR 2020: Wer trägt die Kosten für mehr Corona-Tests?, in MDR aktuell, 13.5.2020

Sotiris, Panagiotis, 2020: Ist eine demokratische Biopolitik möglich?, LuXemburg 1/2020

GEW, 2020: Stellungnahme zum Rahmenkonzept der KMK zu Schulöffnungen, 6.5.2020, www.gew.de/presse/pressemitteilungen/detailseite/neuigkeiten/stellungnahme-von-gew-vbe-und-ber-zum-rahmenkonzept-der-kmk-zu-schuloeffnungen-es-gibt-weiteren-klae

ANMERKUNGEN

[1] Dies zeigt sich in der Verlangsamung der Infektionsdynamik. Da eine katastrophale Zuspitzung der Krise ausgeblieben ist, werden die Maßnahmen aber verstärkt in Frage gestellt. Zur statistisch geschätzten Wirkung der verschiedenen zeitlichen Phasen der Eindämmung, vgl. science.sciencemag.org/content/early/2020/05/14/science.abb9789.

[2] „Zum Höhepunkt der ersten Erkrankungswelle nach ca. 300 Tagen sind ca. 6 Millionen Menschen in Deutschland an Modi-SARS erkrankt. Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können. Unter der Annahme, dass der Aufrechterhaltung der Funktion lebenswichtiger Infrastrukturen höchste Priorität eingeräumt wird und Schlüsselpositionen weiterhin besetzt bleiben, können in den anderen Infrastruktursektoren großflächige Versorgungsausfälle vermieden werden. Nachdem die erste Welle abklingt, folgen zwei weitere, schwächere Wellen, bis drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen ein Impfstoff verfügbar ist.“ (BBK 2013, 5)

[3] Machtblock bezeichnet in der marxistischen Staatstheorie die politisch-ideologisch über den Staat und seine Apparate organisierte Einheit unterschiedlicher Kapitalfraktionen. Bündnisse von Unternehmern verschiedener Branchen oder Vermögensbesitzende finden ihre Repräsentation in konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien und den verschiedenen Staatsapparaten. Vgl. Alex Demirović: Kapitalistischer Staat, Hegemonie und demokratische Transformation zum Sozialismus, in: Tobias Boos, Hanna Lichtenberger, Armin Puller (Hg.): Mit Poulantzas arbeiten … um aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstehen, Hamburg 2017.

[4] Zunächst waren umfassende soziale Prioritäten bei der Öffnung der Kitas vorgesehen, nun wird je nach Bundesland unterschiedlich eine schrittweise Kita-Betreuung für alle Kinder angestrebt. Soziale Kriterien wie die Größe der Wohnung und Vorhandenseins eines Kinderzimmers, betreuende Personen im Home-Office, Bildungshintergrund der Eltern etc. sind aus linker Perspektive prinzipiell sinnvoll. Gleichzeitig lässt sich das angesichts des Verwaltungsaufwands kaum umsetzen und würde die Gleichheitsnorm verletzen. Eine sozial gestaffelte Öffnung kann angesichts der hohen Belastungen für die meisten Eltern auch zu Konkurrenzsituationen führen und dazu, dass sich Spaltungen zwischen Familien aus der Mittelklasse und denen in prekären Lagen eher vertiefen.

[5] Drosten warnte davor, dass eine mögliche zweite Welle verheerender sein könnte, weil das Virus dann mit anderen saisonalen Krankheiten zusammenwirke. Die Grundvoraussetzungen der Pandemie würden sich verändern, da das Virus sich auch unter der Oberfläche der Maßnahmen weiter im ganzen Land verbreite. Aufgrund von Lockerungen könnten dann plötzlich an vielen Orten gleichzeitig neue Infektionsketten ihren Ausgang nehmen. (vgl. Tagesspiegel, 22.4.2020).

[6] „Eine konsequente Eindämmung von SARS-CoV-2 ist aus epidemiologischer Sicht derzeit die einzig sinnvolle Strategie. Da weder die Eradikation [vollständige Auslöschung] des Virus noch eine schnelle oder langsame Durchseuchung der Bevölkerung gangbare Wege sind, empfiehlt es sich, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 weiterhin einzudämmen. Es ist möglich, dass die Anzahl der Neuninfektionen N binnen Wochen so weit zurückgedrängt wird, dass umfangreiche Kontakteinschränkungen durch effiziente Kontaktnachverfolgungen ersetzt werden können. Je konsequenter Maßnahmen umgesetzt werden, desto kleiner wird R und desto schneller kann dies erreicht werden.“ „In einer ersten Phase werden die Kontakteinschränkungen – soweit tragbar – beibehalten und gleichzeitig werden Testing- und Tracing-Kapazitäten weiter ausgebaut. Diese Phase geht in eine zweite Phase über, wenn die Neuinfektionen soweit zurückgegangen sind, dass eine effektive Kontaktnachverfolgung möglich ist. Indem die Kontaktnachverfolgung Infektionsketten unterbricht, kann sie die Kontakteinschränkungen nach und nach ersetzen und wird durch diese nur noch adaptiv flankiert“( Meyer-Hermann, Pigeot, Priesemann, Schöbel 2020).

[7] Durch regional sehr unterschiedliche Epidemieverläufe könnten „auch lokal unterschiedliche Maßnahmen im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Eindämmung von COVID-19 sinnvoll sein“, entscheidend sei aber, dass diese an bundesweit verbindliche Kriterien gebunden sind und regional wie bundesweit die Vorrausetzungen für eine Nachverfolgung von Infektionsketten durch die Gesundheitsämter gegeben seien (vgl. ebd.).

[8] Bayern hat diese Grenze am 18. Mai bereits auf 30 Neuinfektionen pro Woche pro 100 000 Einwohner*innen gesenkt.

[9] Von 2008 bis 2018 haben sich die Kontrollen halbiert, wie eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab. Nach Aussage der Bundesregierung hat in den letzten 15 Jahren ein Personalabbau im Bereich der Arbeitsschutzaufsicht stattgefunden. Vgl. www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/krise-bei-der-arbeitsschutzkontrolle/

[10] In einer gemeinsamen Erklärung betonen die Bildungsgewerkschaft GEW, der Verband Bildung und Erziehung sowie der Bundeselternrat (BER): „Die klare Ansage, dass Personen, die Risikogruppen angehören, weiterhin nicht in der Schule lernen oder lehren müssen, ist notwendig und begrüßenswert. Allerdings wird den Bundesländern viel Ausgestaltungsspielraum eingeräumt. Wir befürchten, dass dies dafür genutzt werden kann, Personen aus der Risikogruppe in die Schulen zu holen.“ In NRW etwa sollen Vorerkrankte, ältere und schwangere Lehrer*innen zurück an die Schulen (vgl. TAZ). GEW und BER weiter: „Theoretisch ist das Abstandhalten im Bus nur möglich, wenn deutlich weniger Kinder befördert werden. Wie dann mehr Busse organisiert werden können, ist aber noch nicht geklärt.“ Klassen zu teilen, so dass Schüler*innen in kleineren Gruppen abwechselnd vor Ort unterrichtet werden, ist richtig. Dafür fehlt es aber oft an Personal und bei Familien mit geringen Einkommen oft an digitaler Ausstattung. „Entsprechend der Situation vor Ort wird es aber in der Regel zwei oder drei Gruppen geben, die parallel zu unterrichten und zu begleiten sind. Hier fehlen noch Antworten auf die Frage, wie dies sinnvoll und ohne die Lehrkraft permanent zu überlasten gelingen kann.“ www.gew.de/presse/pressemitteilungen/detailseite/neuigkeiten/stellungnahme-von-gew-vbe-und-ber-zum-rahmenkonzept-der-kmk-zu-schuloeffnungen-es-gibt-weiteren-klae

[11] Vgl. MDR-aktuell, 13.5.2020. Die Forschungsnetzwerke empfehlen eine „Frühwarn-Infrastruktur auf Basis von gezielten Querschnittstests. Um die Zahl versteckter Infektionen außerhalb von nachverfolgten Infektionsketten zu kontrollieren und lokale Infektionsherde zu erkennen, könnten Querschnittstests insbesondere in Bereichen mit erhöhtem Infektionsrisiko durchgeführt werden.“ Die Bedingungen dafür halten sie aber noch nicht für gegeben: Soll dies im großen Maßstab erfolgen, ist ein Ausbau der Testkapazitäten erforderlich (vgl. Meyer-Hermann, Pigeot, Priesemann, Schöbel 2020).

[12] Eine gemeinsame Studie des neoliberalen Ifo-Instituts und des Helmholtz-Zentrums verdeutlicht das Risiko-, Kosten- und Nutzenkalkül, die statistische Suche nach der „richtigen“ Balance von wirtschaftlichen und gesundheitlichen Zielen. Je schneller die Wirtschaft insgesamt vollständig geöffnet werde, desto höher sei auch das Risiko für höhere wirtschaftliche Schäden. Die „leichte, schrittweise Lockerung der Beschränkungen (sei) der Weg mit den niedrigsten wirtschaftlichen Kosten“ (IfO 2020). Lockerungen, die zu einer Reproduktionszahl von etwa 0,75 führen, könnten nach den Berechnungen zu einer höheren Wertschöpfung von etwa 26 Milliarden Euro führen. Weitere Lockerungen bis zum Erreichen einer Reproduktionszahl von 0,9 seien auch aus ökonomischer Sicht nicht sinnvoll. Dies zeigt, dass es verkürzt wäre, alle neoliberalen Kräfte über einen Kamm zu scheren, ebenso, wie sich epidemiologische Expertise des Helmholtz-Zentrums, das für Vorsicht bei den Lockerungen und konsequente Eindämmung geworben hatte, auch an dem Ziel einer Normalisierung der Krise innerhalb der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen orientiert. Die verschiedenen epidemiologischen und wirtschafts-wissenschaftlichen Einschätzungen und Kalküle werden eben in der Praxis von unterschiedlichen politischen Akteuren in ihren Strategien artikuliert.