Unterwegs im Text

Kritische Rückfragen zum Begriff Migrationsliteratur

Im Kontext der Übernahme des Vokabulars und Instrumentariums der postcolonial studies in die deutschsprachige Literaturwissenschaft im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde der klassische und weit greifende Begriff der »kosmopolitischen Literatur« vielfach durch den der »Migrationsliteratur« ersetzt. Dieser Begriff belässt den Gegenstandsbereich, den er bezeichnet, zunächst im Vagen. Volker Dörr macht zwei mögliche Bedeutungen aus: »Man kann entweder danach fragen, wie Literatur aussieht, die von Menschen mit Migrationserfahrung geschrieben wird; oder danach, was es bedeutet, wenn es in Literatur um Migration geht.« (Dörr 2008, 17) Die Frage ist, ob das eine vom anderen zu trennen ist und ob diese Trennung wünschenswert wäre.
Für eine spezifische Form der Migration, das Exil, und dessen künstlerische Medialisierung stellt Elisabeth Bronfen in ihrem wegweisenden Aufsatz Exil in der Literatur (1993) fest, dass Exilliteratur auf drei Ebenen dekodiert werden müsse: »biographisch referenziell, thematisch inhaltlich und textästhetisch strukturell« (Bronfen 1993, 171). Überträgt man diese Kategorisierung auf die jüngste Forschung zur »Migrationsliteratur«, so sind in der letztgenannten, der textästhetischen Kategorie die größten Defizite zu verzeichnen – vor dem Hintergrund des Interesses, wer erzählt und was erzählt wird, tritt die Frage danach, wie erzählt wird, in den Hintergrund. Wird Literatur zum Thema Migration jedoch umgekehrt ausschließlich unter textästhetischen Aspekten verhandelt, besteht die Gefahr, dass »Migration« – wie bereits vielfach mit dem Topos »Exil« geschehen – als ein kulturwissenschaftlicher Code benutzt wird, der von der biographischen Erfahrung, dem tatsächlichen Migrationserlebnis, vollständig abstrahiert. Der Begriff »Migration« würde dann auf eine mehr oder weniger beliebig anwendbare Metapher reduziert, welche die immer auch politisch und sozial kodierten Migrationsbiographien ignoriert.
Die aktuelle Forschung zur »Migrationsliteratur« verweigert sich dieser Abstraktion, indem sie das Biographische der inhaltlichen Textanalyse an die Seite stellt. Das »textästhetisch strukturelle« Moment, der Charakter des Textes als autonomes ästhetisches Konstrukt, gerät gleichwohl aus dem Blickfeld, je deutlicher sich die Paratexte in den Vordergrund schieben.1 Gerade Verlagswerbung neigt dazu, die Migrationsbiographie des Urhebers stärker zu betonen als die ästhetischen Qualitäten des Textes. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung für deutschsprachige Texte von Autoren nicht-deutscher Herkunft steht für den Versuch, beides zusammenzubringen; allerdings finden sich der Ausgezeichnete und sein Text auf diese Weise in einer ökologischen Nische des literarischen Feldes wieder, der sie kaum mehr entkommen können.
Es gilt also, zwischen den realen biographischen Erfahrungen des Autors, der erzählten Migration und deren ästhetischer Inszenierung einen gangbaren Weg zu finden. Die Lösung, die in diesem Beitrag vorgeschlagen wird, besteht darin, die narratologische Struktur der besagten Texte genauer in den Blick zu nehmen.2 Zu fragen wäre, auf welche Weise und in welcher Form Migration narrativ inszeniert wird. Auf der Ebene der histoire lässt sich konstatieren, dass in den wenigsten Fällen der Akt des Migrierens selbst erzählt wird, vielmehr handeln viele Texte des Genres von der Ankunft und dem Leben in der neuen Kultur, von der damit verbundenen Neudefinition der eigenen Person/Identität sowie vom Versuch, sich in der neuen Heimat zu etablieren – oder eben vom Scheitern dieses Projekts. Viele der Texte zeichnen sich jedoch durch eine auffallende Ruhelosigkeit ihrer Protagonisten und eine intensive interne Textbewegung aus.
Im Folgenden steht nun die Frage im Zentrum, wie diese Bewegung auf der Ebene des discours erzeugt wird. Die Begriffe »Text« und »Bewegung« widersprechen sich auf den ersten Blick, stellt ein Text doch die in einer bestimmten Form fixierte Ansammlung von Zeichen dar – was dem Moment der Bewegung offenbar entgegensteht. Matthias Buschmeier und Till Dembeck haben jüngst gezeigt, auf wie vielen verschiedenen Ebenen sich gleichwohl Texte ›in Bewegung‹ befinden, ist doch bereits ihrer Linearität ein mobiles Moment inhärent. (Buschmeier/Dembeck 2007) Entscheidend für ihre Überlegungen ist, wie dem beweglichen Blick des Rezipienten, seinem beständigen »Hin- und Herschreiten zwischen Text und Eigenbeobachtung « (15), eine textimmanente Dynamik auf struktureller Ebene entspricht, die sich – so die Ausrichtungen der in ihrem Band versammelten Aufsätze – hermeneutisch, medientheoretisch, strukturalistisch oder semiologisch beschreiben lässt.
Grundsätzlich lässt sich Bewegung in Texten auf drei Ebenen erzeugen: a) Auf der Ebene des Plots, indem von mobilen Helden und deren Unterwegssein erzählt wird. Als Beispiel aus der jüngeren Gegenwartsliteratur ließe sich hier etwa die lange Reihe der Reisetexte (Kracht 2000, Kracht/Nickel 1998, Weiler 2006, Berg 2007) und Pilgerberichte3 anführen.
b) Auf der Ebene des Mediums, indem nicht der Text im engeren Sinne, sondern das ihn präsentierende Medium in Bewegung versetzt wird: so etwa im Fall von Benjamin Steins Roman Die Leinwand (2010), der von zwei Seiten aus gelesen werden kann und während der Lektüre nach jedem Kapitel gewendet wird. Ein weiteres Beispiel wäre Reinhard Jirgls Roman Abtrünnig (2005), der mit einer Verweisstruktur arbeitet, die sich den digitalen Links anzunähern sucht und den Leser, der sich darauf einlässt, entlang dieser Struktur unablässig quer durch das Buch schickt.
c) Auf der Ebene der narrativen Technik, von der im Folgenden die Rede sein wird.

In welcher Form Bewegung narratologisch inszeniert wird, möchte ich anhand zweier Texte der »Migrationsliteratur« darstellen: Terézia Moras Roman Alle Tage (2004) sowie Olga Martynovas Roman Sogar Papageien überleben uns (2010). Um dem erwähnten paratextuellen Interesse Genüge zu tun, seien die zentralen biographischen Eckdaten der beiden Autorinnen kurz genannt: Terézia Mora wurde 1971 in Ungarn geboren und lebt seit 1990 in Deutschland. Sie übersetzt aus dem Ungarischen und verfasst ihre eigenen literarischen Texte, die vielfach ausgezeichnet wurden4, auf Deutsch. Olga Martynova wurde 1962 in Sibirien geboren, wuchs in Leningrad auf und zog 1991 nach Deutschland. Sie publiziert Lyrik auf Russisch sowie Prosa auf Deutsch.5

 

Terézia Mora: Alle Tage (2004)

Terézia Moras Roman Alle Tage avancierte nach seinem Erscheinen schnell zu einem bevorzugten Objekt der Migrationsliteraturforschung, operiert er doch gekonnt mit den Schlüsselkategorien des Genres. Erzählt wird die Geschichte eines Migranten mit dem sprechenden Namen Abel Nema,6 der, aus einem nicht näher spezifizierten Balkanland geflohen, durch eine ebenso wenig spezifizierte deutsche Großstadt wandert (wahrscheinlich Berlin), dort immer neuen Menschen begegnet und in immer neue Schwierigkeiten gerät. Die Eigentümlichkeit der Figur besteht vor allem darin, dass Abel Nema, der Heimatlose, Unbehauste, nach einem mysteriösen Gasunfall das Talent hat, neue Sprachen in kürzester Zeit zu lernen und völlig fehler- und akzentfrei zu sprechen.
Die feuilletonistische wie wissenschaftliche Kritik kreiste begeistert um diese Figur, die mit ihrer Rastlosigkeit und Bindungsangst, ihrem merkwürdigen Verhältnis zu Sprachen und ihren Identitätsproblemen alle Erwartungen an einen Migrationstext erfüllt. Die Erzählform des Romans blieb in der Kritik vielfach unberücksichtigt oder hinterließ den Rezipienten ratlos: »Fragen Sie mich nicht, wie sie das macht«, schrieb etwa Volker Weidermann in der FAZ am Sonntag (Weidermann 2012). Im Folgenden soll nun dieser Frage, »wie sie das macht«, nachgegangen und die komplexe narratologische Technik des Romans anhand dreier ausgewählter Beispiele kurz umrissen werden:
1.) Auffallend in Alle Tage ist etwa die ständige Störung des Leseflusses; dies geschieht auf den Ebenen des Plots wie der Form. Immer wieder werden die logischen Zusammenhänge der Geschichte gestört, indem Geschehnisse nicht nur anachronisch, sondern achronisch erzählt werden; an vielen Stellen ist für den Leser eine chronologische Einordnung des Erzählten überhaupt nicht mehr möglich. Auch wo präzise Zeitangaben gemacht werden, wird dem Leser Gewissheit gleich wieder entzogen, indem der Text die Frage aufwirft, wer die zeitlichen und räumlichen Konstellationen eigentlich entwirft: »Der Zeitsprung ist beträchtlich, dennoch, kein Zweifel, er ist es. Im Grunde sieht er noch so aus wie damals. […] Seitdem, eine bemerkenswerte Leistung, quasi um die Ecke gewohnt und trotzdem keine einzige Begegnung mehr. Wer hat das so arrangiert?« (333)7
Eine narratologische Technik der Störung des Leseflusses auf Satzebene besteht in der Verwendung des Doppelpunktes: »Als das Handy der Anwältin klingelte, waren es nur noch fünf Minuten bis zum Termin, und, natürlich: er war dran.« (11) Oder: »[…] später stand er [Abel Nema] in der Tankstellentoilette vor dem verschmierten Spiegel, sah sein Gesicht, daneben das Foto im Pass, ging hinaus, sah sich um, was sonst noch da war. Nicht viel: Straße, Bäume, weiter weg Häuser. Jetzt: überallhin.« (339)
Diese Verfahren, die eigentlich eine Bewegung, den Lesefluss, hemmen, erzeugen sowohl im Hinblick auf die histoire als auch auf den discours wiederum eine Dynamik, insofern der Leser unablässig genötigt wird, den vom Erzählmedium verweigerten Sinn selbst zu konstruieren, logische Zusammenhänge herzustellen oder Sätze zu vervollständigen.
2.) Eine zweite Technik der inneren ›Mobilisierung‹ des Textes ließe sich als performatives Erzählen (Schöll 2010) beschreiben und wird an dem letztgenannten Zitat deutlich: Der Text erzeugt immer wieder die Illusion von Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit. Der Doppelpunkt evoziert ein Innehalten, als hebe der Leser wie die Figur den Blick und sähe sich gemeinsam mit Abel Nema in der Umgebung um.
»Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier.« (9) So beginnt der Roman, als würde das Folgende den Leser nun unmittelbar angehen, als geschähe es hier und jetzt, zumal Zeit und Ort der Handlung nicht genauer benannt werden und somit vom Leser ergänzt werden müssen – und automatisch ergänzt werden, so ist anzunehmen, weil der Akt des Lesens Bilder evoziert, zumal, wenn der Text diese nicht selbst liefert, sondern bewusst Leerstellen produziert.8
Volker Weidermann weist in seiner Rezension in der FAZ auf eine dieser zu füllenden Leerstellen hin: »Als er dem Jungen die Dose übergab, fi el sein Blick auf die Zahlenreihe, die auf dem Deckel gedruckt war: 05.08.2004. Für einen Moment war ihm, als könnte das das heutige Datum sein.« Er habe, so Weidermann, beim Lesen automatisch das Datum des Tages ergänzt, an dem er den Text las – als wäre das Heute Abel Nemas auch das Heute des Lesers. Dieser Effekt, so ist anzunehmen, verliert jedoch an Wirkung, je größer die zeitliche Distanz zwischen dem im Text genannten Datum und der Gegenwart des Lesers wird.
3.) Ein drittes poetologisches Moment der Bewegung des Textes lässt sich in den ständigen und völlig übergangslos stattfindenden Wechseln der narrativen Perspektive erkennen. Nicht nur wird das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven geschildert, es wird vielmehr sogar innerhalb eines Absatzes, einer logischen Einheit aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Neben einer (zumindest vermeintlich) heterodiegetischen Erzählinstanz, deren Identität allerdings unklar bleibt, treten diverse homodiegetische Erzählinstanzen auf, deren Stimmen in die Aussagen der übergeordneten Instanz hinein montiert werden, ohne dass diese Übergänge gekennzeichnet würden.
In einer Szene des Romans landet die Figur Professor Tibor auf einer Polizeiwache, weil einer seiner Schützlinge in Schwierigkeiten geraten ist. Hier wird das narrative Verwirrspiel auf die Spitze getrieben: Das Geschehen wird aus der Perspektive Tibors, der Polizisten, eines weiteren Unbekannten sowie aus der Sicht der extradiegetischen Erzählinstanz berichtet, ohne dass irgendeine narrative Markierung die jeweilige Sicht kenntlich und somit das Erzählte nachvollziehbarer machen würde:

Dann musste er, abzüglich der zu erledigenden Formalitäten, sage und schreibe weitere zwei Stunden warten. Jede halbe Stunde ging er hinaus rauchen. Insgesamt viermal.

Jeder Zug steigert mein Gefühl, gedemütigt zu werden. Die vierte Zigarette zündete er nur noch an, warf sie gleich weg, marschierte wieder hinein und bot eine filmreife Vorstellung. Er brüllte die Bullen an. Ihnen ist wohl jeder Recht etc.? Was denken Sie, mit wem Sie es zu tun haben etc.?

Beruhigen Sie sich Professor, sagten die Bullen unbeeindruckt. So darf man sich bei uns nicht benehmen. Tibor hörte auf zu brüllen. Er verlegte sich darauf, in schnellem Tempo im Warteraum auf und ab zu laufen.

Hör auf mit dem Scheiß und setz dich!

Er warf einen Blick in die Richtung. Irgend ein fetter Prolet. Er lief weiter.

Setz’ dich, hab ich gesagt! Du machst mich ganz kirre!

Aber das Hutzelmännchen wollte nicht hören, und der Fette spürte deutlich, dass er verzweifeln würde, wenn das so weiter ginge, die einzige Lösung wird sein, den Zwerg aus seinem Anzug zu schubsen. Er stemmte gerade die Hände auf die Knie, um sich vom Sitz hoch zu drücken, da wurde der Herr Professor aufgerufen und (beinahe) alle waren gerettet.« (127f.) [Meine Markierungen; JS]

Moras narrative Strategien fordern den Leser, verlangen ihm ab, permanent einen Sinn zu konstruieren, der ihm in einem herkömmlich erzählten Text automatisch mitgeliefert würde. Das Nicht-Lineare des Textes, die performativen Techniken und die Pluralisierung der Erzählinstanz berauben den Leser seiner Sicherheit im Umgang mit Texten. Die narrative Form vollzieht den Zustand der Hauptfigur nach, jenes Abel Nema, der seine Zeit damit verbringt, ruhe- und orientierungslos durch die Fremde zu irren. Und sie kommunizieren zugleich die Unsicherheit und Verwirrung, die dieser Mensch in seiner Umgebung auslöst, weil er immer das Unerwartete tut, sich jeder klaren Kategorisierung verweigert.

 

Olga Martynova: Sogar Papageien überleben uns (2010)

Martynovas Roman ist aus der Ich-Perspektive der Protagonistin Marina erzählt, die aus Petersburg stammt und als Literaturwissenschaftlerin in Deutschland zu Gast ist, um auf einer Tagung über den russischen Avantgarde-Autor Daniil Charms (1905-1942) zu referieren. Marina berichtet ihre persönliche Geschichte, die sich immer wieder von Russland nach Deutschland und umgekehrt bewegt und die zugleich die Geschichte ihrer schwierigen On-off-Liebesbeziehung mit dem Deutschen Andreas ist, der zwanzig Jahre zuvor mit ihr in Leningrad studierte. Dies alles wird so souverän präsentiert und inszeniert, dass schwer zu glauben ist, dass dies der erste – und der erste auf Deutsch geschriebene – Roman der Lyrikerin ist. An diesem Text sind drei narrative Strukturelemente besonders auffallend: die zeitliche Ordnung der Handlung, die Aufspaltung des Erzählten in kurze, blogartige narrative Einheiten sowie die sprachliche Form.
1.) Wo Moras Roman mit dem Verschwimmen der zeitlichen Ordnung sowie der Grenzverwischung zwischen intra- und extradiegetischer Perspektive arbeitet, was dem Geschehen etwas Traumartiges verleiht,9 setzt Martynovas Text auf Präzision. Es ist an jedem Punkt des Romans klar, wer spricht – oder zumindest ergibt sich keine Dissonanz in der Sinnkonstruktion, wenn man annimmt, dass ausschließlich die Stimme der Ich-Erzählerin Marina zu hören ist. Auch Martynova erzählt nicht chronologisch linear, doch im Gegensatz zu Mora benutzt sie eine Technik, die den jeweiligen zeitlichen Standort explizit und betont exakt markiert. Jedem der zahlreichen Mikrokapitel ist der gleiche Zeitstrahl vorangestellt, auf dem das jeweilige Jahr der Handlung durch Fettdruck markiert ist:

5. Jh. v. Chr. • 1453 • 1529 • 1714 • 1787 • 1871 • 1917-1933-1934-1937-1941-1942-

1943—1944-1945 • 1955 • 1973 • 1976 • 1982 • 1986 • 1987 • 1988 • 1989 • 1990 • 1991

• 1992 • 1995 • 2001 • 2002 • 2005 2006« (65)10

In einigen Fällen taucht dieser Zeitstrahl auch noch einmal innerhalb des Kapitels auf (z.B. 123ff, 139). Schon an dieser auffallenden temporalen Kodierung wird deutlich, dass es sich bei Sogar Papageien überleben uns nicht nur um einen transkulturellen Liebesroman, sondern vor allem auch um einen historischen Roman handelt, der die Geschichte Russlands und der Sowjetunion erzählt, sowie um einen kulturphilosophischen Roman; die Zeitangabe »5. Jh. v. Chr.« etwa markiert kein politisches Ereignis, sondern den Rekurs auf die Parabel von Achilles und der Schildkröte (188f).
Die Erzählform kodiert das Geschehen also bereits als ein historisches, bevor diese Ankündigung von der histoire eingeholt wird. Die Figuren bewegen sich nicht nur durch topographische Räume, sondern – über die eigene oder fremde, individuelle oder kollektive Erinnerung – auch im historischen Raum, und diese Bewegung lässt sich im Text über den Zeitstrahl abbilden. Nur zwei Teilkapiteln wird der Zeitstrahl vorangestellt, ohne dass eine Jahreszahl markiert wäre; von diesen wird noch zu handeln sein.
2.) Das zweite textuelle Bewegungsmoment offenbart sich an der Textstruktur. Christoph Keller bezeichnete Martynovas Roman in seiner Rezension in der ZEIT als einen »Blog zwischen zwei Buchdeckeln« (Keller 2012). Die zu sieben größeren Sinneinheiten zusammengefassten 88 Mikrokapitel erzählen jeweils knapp und szenisch, so dass der Eindruck der Aneinanderreihung von Momentaufnahmen entsteht. Dieser Eindruck eines Blogs entsteht auch durch die strikt monoperspektivische Fokalisierung. Wir hören ausschließlich die Stimme Marinas, die eigenes Erleben im fiktiven Jetzt11 sowie eigene Erinnerungen,12 außerdem Geschichten des Familiengedächtnisses erzählt13 oder das berichtet, was ihr von Dritten erzählt wurde.14
An das bewegliche Medium des Blogs erinnern außerdem die intertextuellen Montagen: Zwischen die episodischen Erzählpassagen werden literarische Texte in lyrischer und prosaischer Form montiert, die – innerhalb der fiktiven Realität – teils von Marina, teils von ihren zahlreichen Künstlerfreunden stammen (einige von diesen Texten werden innerhalb der Handlung auf einer Lesung vorgetragen)15.
Außerdem werden eine ganze Reihe bekannter, deutscher und russischer real existierender Autoren zitiert oder es wird von ihnen erzählt (u.a. Tolstoi, Nabokov, Brodskij, Bernhardt und nicht zuletzt Charms und die Mitglieder seines Dichterkreises) sowie Werke der bildenden Kunst beschrieben (etwa über die narrative Schilderung ihrer Farbigkeit, 93f).

Auf diese Weise entsteht der Eindruck eines mobilen Multiperspektivismus, einer Polyphonie, ohne dass die narrative Perspektive tatsächlich gewechselt würde. Allerdings mit einer Einschränkung: Während den russischen Freunden der Ich-Erzählerin Marina über ihre Kunstwerke sowie über zitierte wörtliche Rede viel Raum eingeräumt wird, bleibt die Figur des geliebten Deutschen, Andreas, merkwürdig abstrakt. Da sein Verhalten für Marina weitgehend undurchschaubar ist, bleibt es auch für den Rezipienten rätselhaft; jede Form einer (durch die Ich-Erzählerin vermittelten) Innensicht wird vermieden. Die Schwierigkeiten, ja die Vergeblichkeit dieser deutsch-russischen Liebesbeziehung und das gegenseitige Nicht-Verstehen im transkulturellen Dialog werden auf diese Weise evident.
3.) Das Transitorische der histoire wird durch eine Entsprechung auf der Ebene des discours erzeugt. Etwas Flüchtiges hat schon die Anordnung der Zeichen selbst: Martynova arbeitet immer wieder mit verschiedenen Formen von Spiegelstrichen und Aufzählungszeichen (u.a. 13ff, 85f, 192ff), die dem Erzählten den Charakter des Notizhaften und Vorläufigen verleihen. Die Autorin arbeitet mit Majuskeln (z.B. 93, 169ff) oder einer kyrillischen Phantasieschrift, die der Künstler Fjodor aus der Struktur eines Fachwerks liest (178f). Unablässig verweist der Text somit auf sich selbst, wobei die Selbstreferentialität nicht nur auf der Ebene der histoire, sondern auch auf der Ebene der Zeichen stattfindet. Diese Zeichen stellen im Text ihre eigene Beweglichkeit immer wieder spielerisch aus, an vielen Stellen gewinnt die sprachliche Form die Überhand über den plot. Erzählende und erzählte Sprache wenden sich ins Lyrische, so etwa in der wunderbar poetischen Bezeichnung »Taschentelefon« für »Handy«.
Dazu passen jene zwei Kapitel, denen als einzige keine Jahreszahl im Zeitstrahl zugeordnet wird. Das eine erzählt die kryptische Parabel eines Mädchens in einem Palast (139), das andere trägt den poetischen Titel »Vier Dichter versammeln sich in einem Frühlingsgarten, um der Natur vollkommene Gedichte abzugewinnen« (129f). Darin erzählt die Ich-Erzählerin von der Lyrik jener vier Dichter, die den Garten im Wechsel der Jahreszeiten besingen – und kreiert auf diese Weise eine Art Urszene des Dichtens an sich:

So dichten die vier Freunde im Jahreszeiten-Kreislauf, in diesem Garten, der für andere unauffindbar ist. Solange sie das tun, werden die Jahreszeiten einander ordentlich folgen. Wenn sie aufhören, wird die Welt im Urchaos versinken. (130)


So erweist sich Martynovas Roman als ein hybrider Text nicht nur im Hinblick auf seine Gattung (Liebesroman, Künstlerroman, fiktive Autobiographie, historischer Roman, Blog), sondern auch hinsichtlich seiner sprachlichen Form. Wie die Literatur Daniil Charms’ steht dieser Text für ein avantgardistisches Schreiben, das zugleich der Tradition seine Referenz erweist.
Wie die Exilliteraturforschung ihren Fokus von den Biographien der Autoren auf thematische Aspekte und schließlich auf ästhetische Kategorisierungen lenkte, so beschreitet momentan, so scheint es, die Migrationsliteraturforschung diesen Weg.16 Sie löst sich aus der überholten Tradition einer ›Literatur der Betroffenheit‹ und schließt an aktuelle texttheoretische, semiotische und narratologische Diskurse an. Auch die Frage nach der Bedeutung von Autorschaft und auctoritas erscheint somit in neuem Licht. Die Autorinnen und Autoren der Texte aus der und über die Migration, die ihre Literatur als Kunst ernst genommen sehen wollen, mag diese Entwicklung freuen.

 

Literatur

Berg, Sibylle, Die Fahrt, Köln 2007
Birk, Hanne, u. Birgit Neumann, »Go-Between: Postkoloniale Erzähltheorie«, in: Nünning, Ansgar, u. Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, 115-52
Bronfen, Elisabeth, »Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität«, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 28, 27. Jg., 1993, H. 2, 167-83
Buschmeier, Matthias, u. Till Dembeck, »Textbewegung? Zur Einleitung«, in: dies. (Hg.), Textbewegungen 1800/1900, Würzburg 2007, 9-19
Dörr, Volker C., »Deutschsprachige Migrantenliteratur. Von Gastarbeitern zu Kanakstas, von der Interkulturalität zur Hybridität«, in: K.Hoff (Hg.), Literatur der Migration – Migration der Literatur, Frankfurt/M 2008, 17-33
Frank, Søren, Migration and Literature. Günter Grass, Milan Kundera, Salman Rushdie, and Jan Kjærstad, New York 2008
Frank, Søren, »Four Theses on Migration and Literature«, in: M.Gebauer u. P.Schwarz Lausten (Hg.), Migration and Literature in Contemporary Europe, München 2010, 39-57
Geier, Andrea: »›Niemand, den ich kenne, hat Träume wie ich‹. Terézia Moras Poetik der Alterität«, in: I.Nagelschmidt, L.Müller-Dannhausen u. S.Feldbacher (Hg.), Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, 153-77
Glavinic, Thomas, Unterwegs im Namen des Herrn, München 2011
Jirgl, Reinhard, Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit, München-Wien 2005
Keller, Christoph, »Charmanter Blogroman. Olga Martynovas Prosadebüt«, http://www.zeit.de/2010/28/L-Martynovas (aufgerufen am 11.7.2012)
Kerkeling, Hape, Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 2006
Kracht, Christian, u. Eckhart Nickel, Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt, Köln 1998
Kracht, Christian, Der gelbe Bleistift. Reisegeschichten aus Asien, Köln 2000
Martynova, Olga, Sogar Papageien überleben uns. Roman, Graz-Wien 2010
Mora, Terézia, Alle Tage. Roman, München 2006
Schöll Julia, »Die Vermittlung des Unmittelbaren. Ideen zur Erzählbarkeit des Performativen«, in: A.Bartl u. S.Catani, Bastard. Figurationen des Hybriden zwischen Ausgrenzung und Entgrenzung, Würzburg 2010, 207-20
Stein, Benjamin, Die Leinwand, München 2010
Weidermann, Volker, »Aus einer anderen Welt. Terézia Moras erster Roman«, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/terezia-mora-alle-tage-aus-einer-anderen-welt-terezia-moraserster-roman-1171985.html (aufgerufen am 11.7.2012)
Weinberg, Manfred, »Migrantenliteratur – eine Bestandsaufnahme. Am Beispiel von Libuše Moníkovás Pavane für eine verstorbene Infantin«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 2. Jg., 2011, H. 2, 93-111
 

1 Diesen hohen Grad an Paratextualität konstatiert auch Dörr: »Damit erweist sich Migrantenliteratur im strikteren Sinne als eine Textsorte, die in einem Maße, wie man es sonst nur von Autobiographien kennt, auf Paratextualität angewiesen ist« (Dörr 2008, 23).
2 Einen Versuch, Narratologie und die in der Migrationsliteraturforschung vielfach angewandten postkolonialen Theorien zusammenzubringen, unternehmen etwa Hanne Birk und Birgit Neumann in ihrem Aufsatz: Go-Between (Birk/Neumann 2002). Die zentralen narratologischen Elemente, die sie analysieren sind: Fokalisierung/Multiperspektivismus, Figurendarstellung, Raumdarstellung, Zeitstruktur, Intertextualität und Sprache. Die Theorien des Postkolonialismus, die zunächst ausführlich referiert werden, bilden den Gegenstand des Interesses der beiden Autorinnen; bezüglich der narratologischen Elemente bleibt ihre Untersuchung eher vage. So wird etwa über den »Topos der Ortlosigkeit« und displacement referiert (137), aber nicht geklärt, wie Ortlosigkeit erzählbar gemacht werden kann, wie sie technisch im Erzählakt abgebildet und umgesetzt wird. Der Aufsatz betont die Theorie, untersucht aber keine literarischen Texte; er gelangt nicht vom Allgemeinen zum konkreten Fallbeispiel.
3 Jüngst wurde dieses seit Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg (2006) wieder populäre Genre ergänzt durch Thomas Glavinic‘ erzählerischen Bericht einer Pilgereise: Unterwegs im Namen des Herrn (2011).
4 U.a. wurde Terézia Moras Werk mit dem Open Mike, dem Bachmann-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet.
5 Das Werk Olga Martynovas wurde u.a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, diversen Stipendien und Platzierungen auf der Longlist des Deutschen Buchpreises (für Sogar Papageien überleben uns) sowie der Shortlist des aspekte-Literaturpreises ausgezeichnet.
6 Zu den vielfältigen Deutungsmöglichkeiten dieses Namens siehe Geier 2006, 169f.
7 Zitiert wird mit der Seitenzahl nach der im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgabe.
8 Auch die Dominanz der wörtlichen Rede erzeugt in diesem Roman einen performativen Effekt, als würde sich das Gelesene vor den Augen des Rezipienten abspielen.
9 Tatsächlich lässt sich die gesamte Romanhandlung von Alle Tage auch als irreales, imaginäres Traumgeschehen lesen.
10 Zitiert wird mit der Seitenzahl nach der im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgabe.
11 »Der Frühstücksraum ist noch leer, es freut mich, Ruhe zu haben« (33).
12 »Das Entsetzen meiner Eltern, dass ich ihnen einen Deutschen als meinen Freund vorstellte.« (24).
13 »Aus einem nicht ganz klaren Zusammenhang heraus erzähle ich Fjodor darauf von meiner Großmutter« (143).
14 »Als Andreas seinem Vater mitteilte, dass er […] nach Russland fahren werde, schwieg der Vater.« (27).
15 »1. Die Zukunft ist ungewiss, aber nicht leer. […]. 6. Eine Wirrnis, verhedderter Bandsalat aus einer Videokassette. Fjodor liest das, und ich denke, dass die Stelle mit dem Bandsalat in zehn Jahren einer Anmerkung bedarf, denn wer weiß dann noch von solchem alten Kram? Meine Studenten bräuchten vielleicht schon jetzt eine Anmerkung.« (106).
16 Siehe hierzu etwa die Beiträge von Manfred Weinberg (2011) und Søren Frank (2008 und 2010), die in ihren Untersuchungen zur Migrationsliteratur beide den Fokus auf die ästhetischen Kriterien legen. Vor allem Frank bemüht sich auch um eine systematische Kategorisierung dieser Kriterien. 

DAS ARGUMENT 298/2012 ©