Urbaner Raum und ästhetische Selbstbehauptung in den Rap-Lyrics von La Rumeur
Anfang November 2005, auf dem Höhepunkt der sozialen Revolten in den französischen Vorstädten, erscheint in der linksliberalen Tageszeitung Le Monde eine bemerkenswerte Reportage.
Hier berichten einige jugendliche "Aufständische" aus dem Pariser Vorort Aubervilliers zwei Journalisten über ihre Motive - bezeichnenderweise bestehen sie auf dem Ausdruck "émeutiers" (Aufständische) und weisen den Begriff "casseurs"1 ausdrücklich zurück. Sie betonen die sozialen und politischen Ursachen ihrer Revolte: die Arbeitslosigkeit, die Nichtberücksichtigung bei Bewerbungen, die Polizeiübergriffe, die Diskriminierungen des als Rassisten erlebten Innenministers Nicolas Sarkozy, dessen Worte mehr schmerzten als Schläge, und das Unverständnis gegenüber dem Handeln der Behörden: Sie verstehen nicht, weshalb die Regierung "Millionen Euro (bewilligt) um die Polizei auszurüsten, aber es zugleich ablehnt, einen ›sou‹ zu geben, um ein Jugendlokal zu eröffnen."2 Und sie erleben ihre Situation als aussichtslos: "Wir haben keine Wahl. Wir sind bereit, alles zu opfern, weil wir nichts haben."3 Die Gegenwart der Banlieue wird als eine Situation erfahren, die aufgrund schierer Hilflosigkeit ein gewalttätiges, aggressives Handeln provoziert: "Das ist wie bei einem Hund, der gegen eine Wand läuft, er wird aggressiv. Wir sind keine Hunde, aber wir handeln wie Tiere."4 Was im Bild des gegen die Wand laufenden Hundes artikuliert wird, ist die Ohnmacht gegenüber einer Gesellschaft, die den eigenen Wünschen und Bedürfnissen mit der Errichtung von schwer überwindbaren Hindernissen begegnet. Und es sind eben diese Themen und dieses Erleben der eigenen Lebenswirklichkeit, die einen nicht unbeträchtlichen Teil der Motive ausmachen, die die Lyrics der Pariser Rap- Gruppe La Rumeur dominieren und die Gegenstand dieses Essays sein sollen.
Aber es besteht doch ein wesentlicher Unterschied zwischen den vier akademisch ausgebildeten Mitgliedern von La Rumeur (Hamé, Ekoué, Mourad, Philippe), einer der lyrisch versiertesten und meist respektierten Formationen der französischen hip-hop-Szene, und den Jugendlichen aus der Reportage. Dieser Unterschied betrifft die Frage der Artikulation, die Frage, über welche Mittel zum Ausdruck der eigenen Vorstellungen, Erfahrungen und Gefühle jemand verfügt. Einer der Jugendlichen beschreibt die Revolten als eine symbolische Praxis der Selbstbehauptung, die zugleich den eigenen Gefühlen angemessen Ausdruck gibt und (auch von der französischen Mehrheitsgesellschaft) schwerlich ignoriert werden kann: "Weißt du, wenn man mit einem Molotowcocktail droht, ruft man ›Hilfe!‹. Wir haben nicht die Worte, um auszudrücken, was wir empfinden; wir können nur richtig (›juste‹) reden, indem wir etwas in Brand setzen."5 Die Schreibwerkstätten, die die Mitglieder von La Rumeur für Jugendliche aus den nördlichen Pariser Banlieues, in denen sie selber leben, initiieren und leiten, sind im Kontext dieser Frage nach den Formen von Artikulation zu verstehen. Hamé, einer der Rapper von La Rumeur, berichtet über die Arbeit in den Schreibwerkstätten: "Wir konzentrieren uns zuerst auf die reine Schreibarbeit, in der Stille. Es geht noch nicht um die Frage nach der Musik oder den rhythmischen Aspekten, nach dem durch die Musik bestimmten Metrum. Wir machen das ohne die lehrerhafte oder schulische Art. Es ist eine zugleich individuelle und kollektive Arbeit (...) Wir regen sie dazu an, Bücher zu öffnen... Wir können nur diesen kleinen Virus verbreiten, danach liegt es an ihnen das weiter zu tragen, ihre Feder zu nähren, ihre Reflexion zu nähren, den Blick auf die Welt zu nähren, auf ihre direkte Umgebung, auf ihre Geschichte, auf sich selbst. Das ist eine Arbeit an sich, wir versuchen dazu anzuregen (....)"6 Was hier vorgeschlagen wird, ist die Idee von Rap als ein (Selbst)Bildungsprozess, als eine Praxis, in der Vorstellungen über die Gesellschaft und die eigene Position zu ihr produziert und artikuliert werden. Wird Rap hier also einerseits als eine Praxis in Stellung gebracht, die das Wissen und die Kritikfähigkeit unter den Jugendlichen der Banlieues mehren soll, gibt das Zitat auch Hinweise darauf, wie die Lyrics von La Rumeur selbst entstehen und in welchem Sinne sie funktionieren sollen, nämlich als Auseinandersetzung und Positionierung zur Gesellschaft und ihrer Geschichte. Mehr noch: Rap wird als antihegemoniale Praxis verstanden, als "Träger einer Gegen-Information, einer Alternative, einer Gegen-Geschichte"7: "Die angemessenste Identität und Definition, die man unserem Rap geben kann, ist das Schaffen einer Basis von Rap, die wirklich volksnah (›populaire‹) wäre, das heißt, verankert in den Sorgen, den Leiden, den Schmerzen, den Kämpfen, den Erinnerungen des Volkes (›du monde populaire‹). Also zwangsläufig kämpferisch, zwangsläufig subversiv und zwangsläufig alternativ."8
Es ist dieses Zusammenspiel einer Verankerung in der Lebensrealität der Banlieues und einer sozial wie politisch engagierten Auffassung künstlerischer Praxis, das die Lyrics von La Rumeur charakterisiert. Überraschend dabei ist jedoch, dass in ihren Texten, die nach Aussage von Ekoué, einem anderen Mitglied von La Rumeur, in erster Linie "zum Denken anregen"9 sollen, eher selten explizite politische Analysen entfaltet werden. Auch finden sich in ihnen wenige Statements oder Parolen, was durchaus ungewöhnlich für politisch engagierten Rap ist.10 Hingegen zeigt sich die gesellschaftskritische Dimension dieser Lyrics, so die zentrale These meines Essays, vorrangig in den Bildern und Vorstellungen, die La Rumeur über die Banlieue und das Leben in ihr produzieren. Das dies so ist, mag weniger Zufall als eine sozial und städteplanerisch bedingte Konstante von Rap sein, denn zumindest in amerikanischen und französischen Metropolen findet soziale Deklassierung und rassistische Diskriminierung nicht zuletzt durch eine urbane Marginalisierung ganzer Bevölkerungsschichten in sog. Ghettos, Problemvierteln oder eben den "zones urbaines précaires", den "problematischen Vorstädten" Frankreichs, statt.11 Diese räumliche Erfahrung wird im Rap zu einem zentralen Bezugspunkt vieler Texte, zu einem ›Bilder- und Themenreservoir‹ und ist seit dem ersten explizit politisch engagierten Rap-Song, The Message von Grandmaster Flash & The Furious Five aus dem Jahre 1982, eng mit Sozialkritik verbunden. Zu beobachten ist, wie Murray Forman für die USA gezeigt hat, "the rise and evolution of a unique spatial discourse within rap and hip-hop culture that defines resonant social and cultural issues with increasing specifity and emphasis on physical terrains or imagined spaces and places."12 (Das Entstehen und die Entwicklung eines einzigartigen Diskurses innerhalb der rap- und hip-hop-Kultur, der schwerwiegende soziale und kulturelle Probleme mit zunehmender Differenzierung und der Bestimmung tatsächlicher Regionen oder virtueller Räume und Orte definiert.)
Bereits der Name La Rumeur führt tief in diese Problematik ein. Der Historiker Dietmar Hüser interpretiert ihn als symbolisch für "Geradlinigkeit und Gegeninformation"13 und trifft damit lediglich eine Seite. Denn in der Tat bedeutet "rumeur" wörtlich übersetzt "Gerücht" und "Unruhe", "Lärm" und "Aufruhr" - Substantive, die man durchaus mit einem antihegemonialen Projekt assoziieren kann. Zugleich ist der Name aber ein im Prinzip simples, nichtsdestotrotz höchst signifikantes Wortspiel. Das Substantiv "la rumeur" ist nämlich in seiner Aussprache nicht von dem Satz "La rue meurt." (Die Straße stirbt.) zu unterscheiden und so transportiert schon der Name der Gruppe das zentrale Thema ihrer Lyrics. In fast allen ihren Texten sind die Straße und andere urbane Elemente des Großraums Paris präsent und bilden das Szenario ihrer Narration, einige Songs ihren Alben LÂ’ombre sur la Mesure (2002) und Regain de Tension (2004) 14 beschäftigen sich fast ausschließlich mit der Stadt als Verdichtung von gesellschaftlichen Konflikten, Hoffnungen und Erfahrungen, manche - La silence de ma rue oder Paris nous nourrit, Paris nous affame - tragen das Thema im Titel. Der Satz darüber, dass die Straße sterbe, enthält jedoch eine nicht zu übersehende Wertung des Lebens in der Banlieue: er ruft Assoziationen von Tod, Leiden, vielleicht Gewalt auf. Nun ist es allerdings möglich, und dies verkompliziert gleich zu Beginn den Blick auf die La RumeurÂ’sche Stadtimagination, das Wortspiel noch ein wenig weiterzutreiben. Wenn der Name mehrfach semantisiert ist, also mit Unruhe/Aufruhr, Gerücht und Sterben der Straße, wie verhalten sich dann die drei Bedeutungen zueinander? Entsteht ein Aufruhr, weil die Straße stirbt und also beispielsweise die Lebensbedingungen untragbar werden? Oder ist es vielmehr überhaupt ein Gerücht, dass die Straße sterbe? Wie wir sehen werden, lässt sich eine solche Spannung in den Lyrics von La Rumeur wiederfinden: Sie entwickelt sich aus den atmosphärisch düsteren Imaginationen der Banlieue, die diese Lyrics prägen und sie auch quantitativ dominieren, und produziert sich vor allem in Metaphern der Selbstbehauptung.
La Rumeur tragen diese Erzählungen aus der Banlieue in der ersten Person vor.15 Erzählungen sind es allerdings nur im weitesten Sinne des Wortes. Sie verfügen nicht über einen Plot oder ein größeres Ensemble an handlungstragenden Figuren, vielmehr ähneln sie Reportagen, denn in ihnen mischen sich Beschreibungen von Szenarien und Geschehnissen mit Kommentaren. Meist inszeniert sich das erzählende Ich dabei, als schreite es gerade durch die Straßen und berichte während des Gehens, ohne Frage ein Erzählverfahren, das den Authentizitätseffekt der Erzählung steigert. Sei es durch Signalworte wie "regarde" (Sieh da hin!), sei es durch die Personalpronomen "tu" (du) oder "vous" (ihr), die HörerInnen werden oftmals direkt angesprochen und so zu BegleiterInnen des erzählenden Ichs, welches sie durch die Banlieue führt. Die HörerInnen werden allerdings noch auf eine zweite, ungleich sinnlichere Weise in den urbanen Raum einbezogen, nämlich durch Samples. So sind beispielsweise in die Erzählung von La Silence de ma Rue die Geräusche eines anfahrenden Autos montiert und zwar genau in dem Moment, in dem im Text von einem Motor die Rede ist; ein anderes Mal ist ein abbremsendes Auto zu hören. Das erzählende Ich berichtet im selben Augenblick von einer plötzlichen Polizeikontrolle; Sirenen und eine schimpfende Stimme sind im Anschluss an die Frage des erzählenden Ichs zu hören, ob "du" die Stille der Straße hören kannst ("Peux-tu entendre la silence de ma rue?"). Erfolgen diese imaginären Gänge durch die Banlieue also unter direktem Einbezug der HörerInnen, so ist ihre Atmosphäre noch vor allen thematischen Elementen durch dominante (Farb)Adjektive wie "noir" (schwarz), "gris" (grau, düster, trüb) oder "sombre" (dunkel, düster, finster) geprägt. Sie finden in der Nacht, in der Dämmerung oder im Winter statt. Atmosphärische Elemente also, mit denen sich klassischerweise Stimmungen wie Traurigkeit, Trübseligkeit u. ä. assoziieren. Eine Vermutung, die durch eine Interviewaussage von Ekoué darüber, was ihm zum Schreiben seiner Texte treibe, untermauert wird: "Bei mir ist es so, dass ich gerne schreibe, wenn ich niedergeschlagen bin. Wenn alles gut läuft, dann widme ich meine Zeit meiner Familie. Aber wenn es nicht gut läuft, wenn ich erfahre, dass jemand Probleme hat, wenn ich mich kontrollieren muss, wenn ich ein Panorama meiner Umgebung machen will, dann schreibe ich. Die gute Laune und die schöne Seite des Lebens, die behalte ich denen vor, die zu mir in einer freundschaftlichen Beziehung (de manière assez familière) stehen."16 Es wird in dieser Aussage deutlich, dass die durchgängig düstere Atmosphäre der Lyrics (und der Musik 17) von La Rumeur in einer bewussten Konzentration auf die negativen, problembelasteten und konfliktträchtigen Seiten des Lebens begründet liegt.
Die städtischen Szenarien, die beschrieben werden, fallen in diese thematische Sparte. Es sind Szenarien, die um Themen wie (Drogen-) Kriminalität, Polizeigewalt, unsolidarisches, gewalttätiges Verhalten der Banlieue-BewohnerInnen untereinander, Langeweile und Arbeitslosigkeit kreisen. Themen also, die schon in den Aussagen der Jugendlichen aus der eingangs erwähnten Reportage präsent waren. Interessanter aber als eine erschöpfende Auflistung dieser Themen scheint mir an dieser Stelle die Frage danach zu sein, wie der Raum der Banlieue, in dem sich diese Themen finden, sprachlich imaginiert wird. Ich möchte also nach der Semantik der Figuren und Bilder fragen, die La Rumeur für ihre Beschreibung der erlebten Wirklichkeit der Banlieue finden.
Nehmen wir nun vor dem Hintergrund dieser Fragestellung die Spur wieder auf, auf die wir durch die Auseinandersetzung mit dem Namen La Rumeur gestoßen waren, so stellen wir eine variantenreiche Ausarbeitung der Rede vom Sterben der Straße 18 fest. Die Bilder, die La Rumeur von der Banlieue imaginieren, evozieren einen in mehrerlei Hinsicht unlebenswerten Ort. In Versen, die vom "sol froid des briques, des grilles et griffes périphériques"19 sprechen, wird Kälte unmittelbar mit städtebaulichen Insignien der Banlieue in Verbindung gebracht und in Aufzählungen wie der folgenden, werden diese Insignien mit der Misere, dem Elend zu einem Ganzen verdichtet, das die Jugend der Banlieue einschließt, ihnen Schranken auferlegt: "la misère, la fer et la pierre qui les enserrent"20. In diesem Lebensraum entwickelt sich eine autodestruktive Tendenz, in der die Straße sich massakriert ("la rue se massacre, sous le ciel des damnés") und sich eine ganze Generation auf dem Beton der Banlieue kaputtmacht ("toute ma génération s´equinte sur le béton"). Eine Tendenz, die in den Texten immer wieder mit Drogen, Kriminalität und Gewalt parallelisiert wird. Das Thema des Sterbens der Banlieue und ihrer BewohnerInnen artikuliert sich aber noch in zwei weiteren motivischen Bereichen, die jeweils die Vorstellung der Stadt als Organismus implizieren, also als eines von Leben erfülltem Ganzen mit voneinander abhängigen Teilen. Zum einen wäre da der Bereich Natur. So wird vom "fôret de beton" (Betonwald) erzählt und von den "arbres morts, / à quelques pas à peine des plus belles fontaines"21. Der Kontrast im letztzitierten Bild deutet auf die Gründe für das Sterben der Banlieue hin. La Rumeur suchen sie im Glanz und Reichtum einiger innerstädtischer Viertel von Paris. Und so ist in einem anderen Text von den blühenden Blumen am Boulevard Haussmann, einer der Pariser Prachtstraßen, die Rede; Rudimente einer Gesellschaftskritik schreiben sich in diese Stadtbilder ein. Die Vorstellung der Stadt als Organismus wird noch deutlicher, berührt man den motivischen Bereich Körper. Da ist von den "Schlagadern meiner Stadt" ("artères de ma ville") die Rede, die die einzelnen Teile des Organismus verbinden. Es gibt Bilder, die Elemente der städtischen Infrastruktur in Eigenschaften beschreiben, die eigentlich nur Körpern zugesprochen werden. So erzählen die Lyrics von engen Gassen, die Lepra haben ("ces ruelles qui ont la lèpre"), von tausendfach verletzten Mauern ("ces murs aux milles blessures") und den "arcades malades où crissent les voix croissées de la faim et du vice"22. Der urbane Raum wird zum Ort, an dem sich Krankheit und Verletzung, Hunger und Mangel, Reichtum und Schönheit überschneiden. Aus der Perspektive der nördlichen, sozial deklassierten Pariser Banlieues fassen La Rumeur die Verfasstheit der Stadt Paris als Erzeugerin einer lebensgefährdenden Drucksituation: "Paris me bout sous le crâne, Paris nous affame, nous épluche des poches á l´os, des couilles à l´âme"23. Die Ursachen für das Sterben der Stadt, den Druck, den sie auf ihre BewohnerInnen ausübt, liegen in der Verfasstheit der Stadt selbst, das impliziert die Stilisierung der Stadt zum gewalttätigen Subjekt in diesen Versen und das erfährt seine sozialgeschichtliche Begründung in einem anderen Song, dem wohl autobiographisch inspirierten A 20 000 Lieues de la Mer.
Der Text dieses Songs schlägt einen Bogen von etwa 25 Jahren, von den 1970er Jahren bis ins Jahr 2002. Bevor das erzählende Ich sich an die Jahre des Aufwachsens zurückerinnert, beschreibt es die Situation der Gegenwart, spricht in einem Katastrophen-Bild davon, dass seine Stadt ein wenig wie Tschernobyl sei und sich in ihr nichts verändere außer der Langeweile, die steige wie der Preis der Carte Orange, der Monatskarte der öffentlichen Verkehrsmittel in Paris. In der Traurigkeit über diese Situation erinnert sich das erzählende Ich an seine Jugend, berichtet, dass es nicht inmitten von Bauschutt aufwuchs, sondern im Gegenteil in einem "charmante petite banlieue", das vor allem für seine großen grünen Flächen gepriesen worden sei. Das war gestern, betont es unmittelbar danach. Einige Verse später, geht das erzählende Ich auf Ursachenforschung für die Situation der Gegenwart und findet diese in einer verfehlten Stadtentwicklung: "Le ciel commence à se couvrir, à l´instar d´une marée furieuse, dès que les subventions se retirent la rue devient marécageuse et, la répression aussi cruelle que la récession."24Was von den in den 1950er Jahren mit großer Euphorie als Prestigeprojekt sozialen Wohnungsbaus begonnenen Hochhaussiedlungen in den Banlieues geblieben ist, sind 20 000 Meilen vom Meer entfernte Kiesstrände ("ces plages de gravier ... à 20 000 lieues de la mer"), Orte - so will es die poetische Imagination erlebter Wirklichkeit in den Texten von La Rumeur - an denen Leben und Illusionen kaputtgehen.
Aber es sind auch Orte, und das mag die zweite in den Namen La Rumeur zu lesende Konnotation sein, an denen Formen von Selbstbehauptung entstehen. Zuvorderst die, mit der wir uns die ganze Zeit schon beschäftigen, und die sich in der ästhetischen Praxis produziert. Die Inspiration für die Texte von La Rumeur stammt aus der Situation der Marginalisierten: "Cherche pas à trouver d´où vient la saleté du texte, inspirée du contexte qui pue l´hostilité, la criminalité./ Bienvenue dans ce monde ivre, Paris nous gave et nous prive sur chacune de ses rivesÂ…"25 Und wenn wir uns an eine weiter oben bereits zitierte Aussage von Ekoué erinnern, sind es genau solche Situationen und Lebensumstände, die ihn zum Schreiben, zum Nachdenken über seine Umgebung anstacheln. Die Konzeption von Rap als erfolgreicher (Selbst)Bildungsarbeit vergegenständlicht sich in diesen Texten, wird auf der ästhetischen Ebene eingeholt: Die Leiden und Schwierigkeiten des Lebens kriegen den Einzelnen nicht klein, da er sie in ein eigenes Produkt, eine von der Ausgangssituation relativ autonome Äußerung umwandeln kann. Der Rap-Song steht dann gewissermaßen für die gelungene Realisierung einer von staatlichen Institutionen unabhängigen (Selbst)Bildungsarbeit. Und ganz im Sinne der eingangs entfalteten Idee von Rap als Gegenkultur werden die Lyrics zu jener Gegeninformation, die doch die soziale und polizeiliche Repression verhindern soll; der Rapper selbst wird dann, in unverkennbarer Anspielung auf Frantz Fanon zu "un des ces damnés de la Terres aux paroles incendiaires"26.
Die doppelte Bedeutung von "incendiaire" als "entflammbar" und "aufrüherisch" führt in die zentrale Selbstbehauptungsmetapher von La Rumeur ein. Gemeint ist die Metapher des Feuers, durch die sich das erzählende Ich in vielen Texten als widerständig inszeniert. Diese Metapher mag in der Realität der Banlieue ihren Herkunftsort haben, wo, wie spätestens seit November 2005 bekannt ist, brennende Autos nichts Außergewöhnliches sind (in La Silence de ma Rue nehmen La Rumeur auf ein solches Ereignis Bezug). Es sind "feux de détresse" (Feuer der Verzweiflung), aber auch Feuer der Selbstverteidigung. Dabei wird die Inszenierung des erzählenden Ichs als Feuer in einem ersten Schritt als eine Reaktion auf das Verhalten der französischen Mehrheitsgesellschaft ("ils") gegenüber den sozial deklassierten und rassistisch diskriminierten Teilen der Bevölkerung der Banlieues beschrieben, in einem zweiten Schritt wird die zugeschriebene Identität dann gewissermaßen angenommen und in einen ›Gegenschlag‹ umgeformt: "Ils nous aiment comme le feu, ditesvous-le, on ne se fait plus d´illusions. / Ils nous aiment comme le feu, et ouais dites-vous-le, je suis ce feu qui se déclare dans un champ de coton. // Ils nous aiment comme le feu, on se défend comme on peut, comme on croit, comme ca vient, comme on refuse un collier pour chien."27 Diese Illusionen betreffen im Wesentlichen die Selbsttäuschung, dass sich an der Situation derjenigen, denen die französische Mehrheitsgesellschaft aufgrund ihres afrikanischen, karibischen, maghrebinischen Familienhintergrunds eine wirkliche Akzeptanz verweigert, etwas Wesentliches ändern könne. Die brennenden Autos in den Banlieues, so können folgende Zeilen verstanden werden, sind in diesem Sinne aufgezwungen, haben ihre Gründe in der kolonialen Vergangenheit und einer rassistischen Gegenwart Frankreichs: "Quant à nos chances d´insertion sociale, je préfère encore la franchise du Front National (...) / Comment rester sobre? Je suis sombre comme un soir du 17 octobre, triste événement sanglant déjà quarantenaire (Â…) Eh qui, on brûle la vie et qui nous pousse à le faire?"28
La Rumeurs poetische Imaginationen erlebter Wirklichkeit überschneiden sich hier durchaus mit den Erfahrungen und Handlungen der im November letzten Jahres revoltierenden Jugendlichen, wie sie in der eingangs erwähnten Reportage zum Ausdruck kamen. So machen sie in ihren Texten aus den schon vor November 2005 alltäglich brennenden Autos in manchen Pariser Vororten eine Metapher der Selbstbehauptung und erforschen deren Notwendigkeit in ihren Bildern des urbanen Raums. In diesem Sinne sind ihre Lyrics eine Auseinandersetzung mit der Verfaßtheit der französischen Gesellschaft, eine Positionierung zu ihr - und als solche sollten diese und andere Rap-Lyrics ernst genommen werden und nicht als Texte darüber, wie die Banlieue wirklich ist, mißverstanden werden. Vielmehr können sie uns als poetische Umformung erlebter Wirklichkeit etwas darüber erzählen, auf welche Weise gesellschaftliche Wirklichkeit erfahren wird. Das Letzte, für das solche Texte allerdings die Ursache sind, sind die realen Revolten in den Banlieues - auch wenn das den gut 200 Abgeordneten der französischen Regierungspartei UMP, die ihren Justizminister Ende November 2005 aufforderten, gegen einige französische Rap-Künstler wegen ›Volksverhetzung‹ zu ermitteln, wahrscheinlich in den Kram gepasst hätte.29
Christoph Schaub - Jg 1981; Seit 2002 Student der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Neueren Deutschen Literatur an der FU Berlin, Wintersemester 2004/05 Student an der Université Paris VIII Vincennes Saint-Denis, seit 2005 Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
1 Wörtlich übersetzt bedeutet "casseurs" Schreihälse, Krakeeler, das Verb "casser" zerschlagen, kaputtmachen; im obigen Kontext meint "casseur" etwa Vandalen, Chaoten.
2 Une nuit avec des "émeutiers" qui ont "la rage", Le Monde, 8. 11. 2005, S. 12. Alle Übersetzungen aus dem Französischen sind von mir. Was die Übersetzungen der Lyrics von La Rumeur betrifft, habe ich versucht im Zweifelsfall eher sinngemäß als wörtlich zu übersetzen.
3 Ebenda.
4 Ebenda.
5 Ebenda.
6 http://www.acontresens.com/musique/interviews/17_1.html (Zugriff: 19. 3. 06).
7 Ebenda.
8 Ebenda.
9 http://www.abcdrduson.com/interviews/interview1.php?id=47 (Zugriff: 19. 3. 06).
10 Vgl. bspw. die Texte der von Eva Kimminich herausgegebenen Anthologie "Légal ou illègal" Anthologie du rap francais, Stuttgart 2002.
11 Dabei sind die Unterschiede zwischen den innerstädtisch gelegenen amerikanischen Ghettos und französischen Banlieues beträchtlich. So ist die Kriminalitätsrate in den Banlieues beträchtlich geringer, sie sind von Einwohnerzahl und Ausdehnung her kleiner und sozial wie ethnisch weniger homogen. Vgl. Dietmar Hüser: RAPuplikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 293 f. Freilich ändert dies nichts daran, dass die Banlieues ebenfalls im oben beschriebenen Sinne erlebt werden.
12 Murray Forman: The Â’Hood Comes First. Race, Space, and Place in Rap and Hip-Hop, in: Middletown, CT 2002.
13 Hüser, a. a. O., S. 167.
14 La Rumeur: L´ombre sur la mesur. Capitol réedition spéciale 2003, zuerst Capitol 2002; La Rumeur: Regain de tension. La Rumeur Records 2004. Ich zitiere die Lyrics nach den Booklets dieser beiden CDs. Die Zitate werden im Text der Einfachheit halber nicht einzeln ausgewiesen, entstammen aber folgenden Songs und sind dort leicht zu finden: Les Coulisses de l´Angoisse; L´ombre sur la Mesure; Le Prédateur; Le coffre-fort ne suivra pas le corbillard; A 20000 lieues de la mer ; La Silence de ma Rue - alle vom Album: L´ombre sur la Mesure. Ils nous aiment comme le feu; Inscrivez greffier; Nom, prénom ,identit; Paris nous nourrit, Paris nous affame; Nous sommes les premiers sur le rap - alle vom Album Regain de Tension.
15 Erzählungen in der 3. Person wie im Song Moha vom Album L´ombre sur la Mesure bleiben die Ausnahme. Dies ist typisch für Rap, dessen dominante Erzählperspektive die erste Person (meist Singular, seltener Plural) ist.
16 http://www.abcdrduson.com/interviews/interview1.php?id=47 (Zugriff: 19. 3. 06).
17 Klanglich sind die Songs von La Rumeur z. B. durch die weitestgehende Abwesenheit von Melodien und hellen Tönen geprägt.
18 Diese Ausarbeitung ist nicht auf den Ort Straße an sich beschränkt, vielmehr soll die Straße, die im Namen der Gruppe enthalten ist, als eine Synekdoche für das Ganze der Stadt gelesen werden.
19 dt.: "Der kalte Boden aus peripheren (die Banlieues werden auch als Peripherie bezeichnet - C. S.) Ziegelsteinen, Gittern und Krallen."
20 dt.: "Das Elend, das Eisen und der Stein, die sie einschließen."
21 dt.: "(Unsere Epoche ist die) der toten Bäume, die kaum einige Schritte von den schönsten Springbrunnen entfernt sind."
22 dt.: "Die kranken Arkaden, wo die aus Hunger und Mangel gekreuzten Stimmen kreischen."
23 dt.: "Paris kocht mir unter dem Schädel, Paris hungert uns aus, Paris zerpflückt uns von den Taschen bis zu den Knochen, von den Eiern bis zur Seele."
24 dt.: "Der Himmel beginnt sich zu bedecken, seitdem die Subventionen sich nach Art einer wilden Flut zurückziehen, die Straße wird sumpfig und die Repression genauso grausam wie die Rezession."
25 dt.: "Bemühe dich nicht herauszufinden, woher die Dreckigkeit dieser Texte kommt, die von einem Kontext inspiriert sind, der Feindlichkeit und Kriminalität ausstößt. / Willkommen in dieser trunkenen Welt, Paris mästet uns und entzieht uns (alles) auf jedem seiner Ufer..."
26 dt.: "...einer dieser Verdammten der Erde mit aufrührerischen Parolen." - bezieht sich auf Fanons letztes Buch "Die Verdammten dieser Erde", Frankfurt/M. 1981. Frantz Fanon, (* 20. Juli 1925 in Fort-de-France, Martinique, † 6. Dezember 1961 in New York), Psychiater, Schriftsteller und Vordenker der Entkolonialisierung.
27 dt.: "Sie lieben uns wie das Feuer, sagt euch das, wir machen uns keine Illusionen mehr. / Sie lieben uns wie das Feuer, und ja sagt euch das, ich bin dieses Feuer, das auf einem Baumwollfeld entflammt. // Sie lieben uns wie das Feuer, man verteidigt sich wie man kann, wie man es für richtig hält, wieÂ’s kommt, wie man eine Hundekette zurückweist."
28 Angespielt wird in diesen Versen auf die rechtsextremistische Partei von Le Pen und auf den 17. 10. 1961, an dem eine FLN-Kundgebung in Paris durch die Polizei brutal aufgelöst wurde. Da das Thema in Frankreich lange vollkommen tabuisiert war, ist noch unklar, wie viele Algerier dabei ermordet wurden (Schätzungen schwanken zwischen 32 und rund 200 Toten); dt.: "Was unsere Chancen einer sozialen Einfügung betrifft, bevorzuge ich immer noch die Ehrlichkeit der Front National (...) / Wie zurückhaltend bleiben? Ich bin düster wie ein Abend am 17. Oktober, ein blutiges, trauriges Ereignis, das schon seinen Vierzigsten feiert (...) Und ja, wir verbrennen das Leben und wer drängt uns dazu?"
29 Vgl. Der Rap ist Schuld. Frankreich debattiert über die Musik aus den Banlieues, in: Süddeutsche Zeitung, 26./27. 11. 2005, S. 15.
in: UTOPIE kreativ, H. 189/190 (Juli/August 2006), S. .702-708
aus dem Inhalt des Heftes 189/190 (Juli/August 2006)
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