„Über die Russen und über uns“ – wieder aktuell?

 

Am 19. November 1948 erschien in Neues Deutschland, damals Zentralorgan der SED, ein Leitartikel mit obiger Überschrift, in dem es unter anderem hieß: Die Rote Armee „kam in klobigen Stiefeln, an denen der Dreck der Historie klebte, entschlossen, entzündet, gewarnt, geweitet, in Teilen auch verroht – jawohl in Teilen auch verroht, denn der Krieg verroht die Menschen, wer hat ein Recht, sich darüber zu erregen?“.
 Der Autor war Rudolf Herrnstadt, seinerzeit Chefredakteur der Berliner Zeitung, bald danach kurzzeitig der des ND und „Kandidat des Politbüros“. Herrnstadt als unerschütterlicher Parteigänger der Sowjetunion bemühte sich, seinerzeit auch mit Besatzungsrecht tabuisierte Übergriffe der sowjetischen Armee offen zu benennen und in eine Gesamtschau der historischen Rolle der Sowjetunion sowohl bei der Befreiung des eigenen Landes als auch bei der Beseitigung der „Hitleristen“ einzuordnen. „Von einem Begreifen der Sowjetunion konnte unter solchen Umständen nicht die Rede sein. Und es ist kein Zufall, dass zweierlei stets zusammenfällt: Wenn das deutsche Volk irrt und leidet, dann begreift es auch nicht die Sowjetunion. Und wenn es die Sowjetunion begreift, dann hört es auf, zu irren und zu leiden.“ Eine Aussage, die so wohl nicht allen Prüfungen standhält. Herrnstadts Fazit wurde damals aber von wohlmeinenden Lesern geteilt: Deutsche und Russen müssen miteinander auskommen – wenn zunächst auch „im Leid“. Und irgendwann auch „in Freud“?
40 Jahre später – mit Gorbatschow – wurde „die Russen und wir“ wieder aktuell, aber unter gänzlich anderen Gegebenheiten. In der DDR spontane Begeisterung und Illusionen; in der BRD ebenfalls, wenn auch mit anderen Aspekten, diese gegründet nicht zuletzt im Verzicht Gorbatschows auf sowjetische Interessen. Die Verblüffung bei den USA und die weltpolitische Auswirkung gab Condoleezza Rice später im Spiegel-Gespräch (Nr.39/2010) bündig so zu Protokoll: „Amerikas Einfluss in Europa war gesichert“.
Am 03. Dezember 2011 wiederum erfuhr Spiegel Online vom damaligen russischen Nato-Botschafter Dimitrij Rogosin, jetzt Vize-Premierminister, ob und wie sich Russland künftig weiter um Wohlwollen im Westen bemühen werde: „Dieser Logik hing Michael Gorbatschow an. Er hat die Lage seiner westlichen Partner gut verstanden, die Situation im eigenen Land aber so wenig, dass dieses Land, die Sowjetunion, von der Landkarte verschwunden ist. Sie im Westen beklatschen ihn dafür, in Russland aber kann Gorbatschow sich nicht ohne Bodyguards auf der Straße blicken lassen, weil ihm sonst ein Arbeiter, ein Ingenieur oder eine Marktfrau eins auf die Rübe gibt. Weder Präsident Medwedew noch Wladimir Putin werden diese ‚Heldentaten’ Gorbatschows wiederholen.“
In der Bundesrepublik ist Gorbatschow nach wie vor preiswürdig, also wohlgelitten – etwa bei seinem „Freund Helmut, dem ich mit seiner neuen Frau alles Gute wünsche“, oder bei Kanzlerin Angela Merkel (möglicherweise noch) und – noch wichtiger für den materiell gesicherten Lebensabend auch am Tegernsee – Friede Springer. Unterschiedliche Interessen und Löhnung eben!
Objektiv tut es hohe Not, dass Deutschland endlich zu einer un-ideologischen Russland-Politik findet. Aber welche Signale sind stattdessen zu hören und von wem? Anlässlich des jüngsten Kurzbesuches des neuen Präsidenten Wladimir Putin am 1. Juni 2012 in Berlin konnte Der Spiegel – offiziell unwidersprochen – verkünden: „Die Stimmung wird frostig sein, wenn Wladimir Putin an diesem Freitag nach Berlin kommt. Angela Merkel traut dem russischen Präsidenten keine Reformen zu. Die Kanzlerin will seine Gegner unterstützen.“ Müsste man solcherlei Absicht und Wirken nicht als völkerrechtswidrige Einmischung verstehen?
Dieser Wochen geht in der politischen Diskussion mit verschiedener Intonation der Begriff „deutsche Weltordnungsmission“ um, sarkastisch gebraucht, aber wohl ernster zu nehmen. Denn im Spiegel weiter die empfehlende Zurechtweisung: „Aus deutscher Sicht hat die Führung in Moskau noch immer nicht verstanden, dass Russland keine Weltmacht mehr ist, sondern Europa als verlässlichen Partner braucht.“ Um auf diese Weise wieder „Weltmacht“ zu werden? Etwas abenteuerlich die Vorstellung, Deutschland empfehle sich, Russland zur Weltmachtwürde verhelfen zu wollen. Wenn aber nicht, dann bliebe nur der Umkehrschluss – dass Russland sich politisch in ein von Deutschland dominiertes Europa einzuordnen habe.
Vielleicht wäre es für deutsche Politiker angebracht, sich immer mal wieder an jene Vorgänge und Opfer zu erinnern, die den eingangs erwähnten Artikel über „die Russen und über uns“ notwendig gemacht hatten. Gerade auch, wenn Der Spiegel als Grund für eine dem Gast gegenüber „kühle Kanzlerin“ anführt: „Die ostdeutsche Pastorentochter hat nicht vergessen, dass Putin als KGB-Offizier in der DDR eingesetzt war.“ Abgesehen von Angela Merkels DDR- Biographie: Nie was von Siegermächten und deren Rechten gehört? Manche lagern noch heute Nuklearwaffen in Deutschland und nutzen Militärstützpunkte für illegale und andere völkerrechtswidrige Aktivitäten, historisch von der durch sie verordneten Schaffung deutscher Teilstaaten auch vermittels genehmer Parteigänger nicht zu reden.
Falls Angela Kasner von Putins Dienst in Dresden gewusst haben sollte, was eher unwahrscheinlich ist, wäre ihr dies damals kaum als Makel erschienen. Und warum sollte ihr das heute Beklemmung bereiten? Kann sie sich als Kanzlerin ihre Partner international nach Belieben aussuchen oder diese sie? Oder müssten wirklich überall zunächst Deutschland passende Regimes installiert sein?
Putin, nun nicht mehr in der DDR, da diese auch dank Gorbatschow abhanden gekommen, blieb nicht der seinerzeit aufstrebende junge KGB-Offizier in Dresden; er wurde Chef des gesamten Inlandsgeheimdienstes Russlands bei Deutschen-Freund Boris Jelzin, wurde selbst Präsident und in dieser Position – so hier erinnerlich – auch von der Kanzlerin gern gesehen.
Übrigens scheinen personelle Rochaden zwischen Geheimdiensten und Politik nur im Osten etwas Anrüchiges zu sein. Kleiner Tipp: Klaus Kinkel– von 1979 bis 1982 Präsident des Bundesnachrichtendienstes, dann Bundesminister der Justiz, auch Außenminister, stellvertretender Bundeskanzler und, nicht zu vergessen, Bundesvorsitzender der FDP. Kinkel in seiner BND-Zeit machte seine Aufwartung zum Beispiel dem später so benannten Diktator des Irak, Saddam Hussein. Natürlich  ist Kinkel in jeder Position ein untadeliger, weil West-Deutscher. Anderenfalls wäre er heute Strafrentner. Eine erstmalige „Institution“ – vom innerdeutschen Sieger rechtswidrig als Kollektivstrafe ohne Einzelfallprüfung installiert, auch unter persönlicher Anteilnahme Kinkels.
Nicht nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es – zum Beispiel aus Geschäftsgründen – zur jüngsten Putin-Visite in Berlin auch andere Begrüßungstexte gab, etwa im manager-magazin online vom 01.Juni. Dort hieß es sachlich: „Putin zum Antrittsbesuch“. Und das Kabinetts-Stückchen: Das Blättchen veröffentlichte im Vorfeld des Putin-Besuchs – zufällig? – einen analytischen Beitrag mit dem Titel: „Eine gesamteuropäische Friedensordnung mit und nicht gegen Russland“ von Karsten D. Voigt, jetzt im Ruhestand und somit bürde-los (Bitte genau lesen!). Das macht ihn als Autor aber nur umso interessanter, weil wohl freier. Eine Ausgabe später publizierte Das Blättchen ein Gespräch mit Egon Bahr, bei dem die Beziehungen zu Russland ebenfalls eine zentrale Rolle spielten.
Karsten Voigts ceterum censeo: „Welchen Weg Russland einschlägt, wird durch Russland selber entschieden.“ Bravo! Zuvor hatte er die Ziele „Deutschlands gegenüber Russland – nicht ganz im Einklang damit – so beschrieben: „Im Dialog mit Russland vertritt Deutschland demokratische Werte, die Menschenrechte und die Prinzipien der Rechtstaatlichkeit. Die Beachtung dieser Werte und Prinzipien sind Ziel, nicht aber Voraussetzung für Kooperation. Deutschland hält es für wahrscheinlich, dass Russland diese Werte erst als Ergebnis eines langen, von Rückschlägen begleiteten Reformprozesses befriedigend beachten wird. Anders als manche seiner Partner glaubt Deutschland nicht, dass Druck von außen den Reformwillen im Innern ersetzen kann. Aber es ist auch nicht bereit, an diesem Ziel gemeinsamer Werte und Prinzipien als Teil einer europäischen Friedensordnung Abstriche vorzunehmen.“ Konsequenz: Opposition in Russland stärken, wie vom Spiegel zur Putin-Begrüßung als Politikziel der Kanzlerin offenbart? In diesem Falle handelte es sich mehr oder weniger um die Forderung an Russland, die von „Deutschland“ oder sonst wem definierten Werte anzunehmen – ohne ein Angebot, auch dortige Auffassungen auf Tauglichkeit in dieser Welt zu prüfen. Freilich ist anzuerkennen, dass alles ohne Druck und Gewalt vor sich gehen soll, wenngleich der Autor selbst besorgt andeutet, die derzeitige Welt- und Vormacht könnte das auch anders sehen. Aber wenn dem so ist – ist es dann für Deutschland opportun, Veränderungsansprüche zu stellen? Könnten zum Beispiel die Amerikaner da nicht eine Täterbereitschaft vermuten, die – nun laut Bahr – nicht sein darf und deren Ablehnung er nachgerade zu einem Bestandteil deutscher Staatsraison erklärt?
In diesem Kontext, so scheint mir, hat der Spiritus rector des „Wandels durch Annäherung“ eine neue Lagebewertung vorgenommen, wodurch und durch wen die Menschheit heute gefährdet ist, unabhängig vom politischen Glaubensbekenntnis. (Ich kann nicht umhin, darauf zu verweisen, dass es solche Einschätzungen in der Friedensforschung der DDR auch schon gab. Aber da galt so etwas noch als Feindwerk zwecks Unterwanderung. Soweit erinnerlich, allerdings nicht bei Bahr und Voigt, was ihnen vor 1989 manche Beulen im „Parteihelm“ einbrachte und danach manch’ üble Nachrede.)
Um anzudeuten, was es mit möglicher unterschiedlicher Deutung von „Werten“ und dem Alleinvertretungsanspruch dafür perspektivisch so auf sich haben könnte, sei zugefügt, was ich von einem kenntnisreichen Blättchen-Leser nach dessen Lektüre der Beiträge von Vogt und Bahr hörte: „Putins in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unterschlagene Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz ist seine Weltsicht und auch seine Philosophie zur Bedeutung von Gegebenheiten und der ‚Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte’, wobei er sich selbst für eine hält, was er auch ist. Er hat für richtig befunden, dass das historische Überleben und die Zukunft des neuen Russland nur bei einer Symbiose von wirtschaftlicher und militärischer Macht, selbstbewusster Kooperationsbereitschaft mit anderen Staaten (nicht nur in Europa!) bei erneuerter Identifikation des russischen Volkes mit seiner ganzen Geschichte und dem Vertrauen in eine identifizierte Zukunft (wenn man so will: mit Idealen) besteht.“
Vielleicht sollten wir Deutsche die Russen um einer höheren Kontinuität in den gegenseitigen Beziehungen willen und zum gegenseitigen Nutzen einfach so nehmen, wie sie sind und sein wollen – ohne Missionseifer und bei strikter Achtung des Nicht-Einmischungs-Gebots. Das haben Bahr und Voigt hier – nicht unvermutet – ähnlich empfohlen, weil dies für Deutschland angemessen und sachlich richtig wäre. Das würde auch die Voraussetzungen dafür verbessern, dass politischAktive „also handeln und gebrauchen“, wie von Luther in seiner Vaterunser-Paraphrase gefordert.