Der letzte Wehrmachtsdeserteur?

Nachruf auf Rainer Schepper (1927–2021)

Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Januar 1945, wurde der damals 17-jährige Rainer Schepper in die Wehrmacht eingezogen, um an der Ostfront zu kämpfen. Schepper aber wollte nicht in den Krieg ziehen, er wollte weder töten noch sterben. So floh er aus der Armee und desertierte insgesamt dreimal. Dass er dem Standgericht entkam und die Befreiung erlebte, grenzt an ein Wunder. Bernd Drücke erinnert an den 2021 verstorbenen Kriegsgegner und Antifaschisten. (GWR-Red.)

 

In der Graswurzelrevolution (GWR) Nr. 466 vom Februar 2022 findet sich ein Artikel von Günter Knebel über die späte Rehabilitierung von Opfern der Wehrmachtsjustiz und das Bemühen der überlebenden Wehrmachtsdeserteure um Anerkennung in der Bundesrepublik.

Auch wenn mit Rainer Schepper am 8. August 2021 vielleicht der letzte Wehrmachtsdeserteur gestorben ist, zeigt Scheppers Fall, dass dieser antifaschistische Kampf um Rehabilitation auch heute und in Zukunft von Antimilitarist:innen weitergeführt werden muss.

Ich war mit Rainer Schepper befreundet und bin entsetzt, dass die Erinnerung an seine Wehrmachtsdesertion schon kurz nach seinem Tod in Vergessenheit zu geraten droht.

So konnte ich beim Verfassen dieses Nachrufs auf Wikipedia zwar lesen, dass Rainer ein „Lehrer, Autor, Publizist und Rezitator standard- und niederdeutscher Sprache“ war. Aber dass er sich als Pazifist und Antimilitarist verstand und zu den Mutigen gehörte, die sich öffentlich zu ihrer Wehrmachtsdesertion bekannt haben, wird auf Wikipedia verschwiegen. (1) Ich habe keine Ahnung, wer den Wikipedia-Artikel geschrieben hat, aber offensichtlich möchte da jemand diesen so wichtigen, prägenden Teil von Rainer Scheppers Lebensgeschichte nicht 
benennen.

 

Vom Mut der Deserteure

 

Das ist nicht verwunderlich, denn Fahnenflucht ist in Deutschland immer noch nach § 16 Wehrstrafgesetz strafbar, und Deserteure sind bis heute vielen Menschen verhasst. Auch der unselige Gummi-Paragraf 111 StGB – „Öffentliche Aufforderung zu Straftaten“ – kann als Mittel gegen Freund:innen der Desertion angewandt werden. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. 1999 wurde gegen mich nach § 111 StGB ermittelt, weil ich als presserechtlich verantwortlicher GWR-Redakteur während des NATO-Angriffskriegs gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien alle Soldat:innen zur Desertion aufgerufen hatte. Viele der 1999 gegen Kriegsgegner:innen eingeleiteten Ermittlungsverfahren nach § 111 wurden eingestellt oder endeten mit Geldstrafen. Im Vergleich zu dem, was den Deserteuren in der NS-Zeit passiert ist, ist das eine Randnotiz aus dem staatlichen Handbuch der Einschüchterungspolitik.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden von der Nazi-Justiz über 30.000 Todesurteile gegen Deserteure gefällt und mindestens 23.000 vollstreckt. Bis zum Kriegsende im Mai 1945 wurden viele, die versucht hatten, sich durch Fahnenflucht der Beteiligung am befohlenen Massenmord zu entziehen, standrechtlich erschossen. Dieser Gefahr zum Trotz desertierten während des Zweiten Weltkriegs von den 18,2 Millionen Wehrmachtssoldaten etwa 400.000. Einer dieser Deserteure war Rainer Schepper.

 

Als Feigling und Verräter beschimpft

 

Nach Erscheinen seines Artikels „Ich war Deserteur“ in der GWR 249 vom Mai 2000 und des gleichnamigen Buches 2009 im agenda Verlag (2) ging Rainer mehrmals auf Lesereise. „Und dann wurde ich oft übelst angegriffen, von Zuhörern als ‚Vaterlandsverräter‘, als ‚Feigling‘, als ‚Drückeberger‘, als ‚unkameradschaftlich‘ beschimpft, als einer, der seine Kameraden ins Feuer habe laufen lassen und sich selbst entzogen hätte. Heiße Diskussionen und übelste Angriffe, damals noch, lange nach Kriegsende.“ (3) So hat es Rainer mir erzählt.

Sein 2016 erschienener „Lebensreport“ (4) dokumentiert, wie der Militarismus in Nazideutschland den Alltag von Jugendlichen bestimmt hat. Zentral sind die Erfahrungen, die der Münsteraner während der letzten Kriegsmonate gemacht hat. Im Januar 1945 wurde der damals 17-Jährige zum Kriegseinsatz an die Ostfront kommandiert. Er floh, desertierte dreimal und entkam, trotz Standgericht und Strafkommando.

Ich hatte das große Glück, den antiklerikalen Atheisten (5) und Antimilitaristen Ende der 1990er-Jahre kennenzulernen. Er war Leser und ab Mai 2000 auch gelegentlicher Autor der GWR, was im Wikipedia-Artikel natürlich ebenfalls verschwiegen wird. Während meiner Zeit als GWR-Koordinationsredakteur rief er mich bisweilen im Redaktionsbüro an, auch um mir seine oft begeisterte Kritik an der neuen Ausgabe mitzuteilen. Ende 2018 habe ich Rainer für die GWR interviewt. Mein Interview mit dem damals 91-jährigen, unvermindert klar denkenden und lebhaft erzählenden Antifaschisten war vielleicht eines der letzten Zeitzeugengespräche mit einem Wehrmachtsdeserteur. Es wurde in Auszügen im Januar 2019 in der GWR 435 abgedruckt und als 60-Minuten-Film von MünsterTube dokumentiert. Ausgiebig schildert Rainer darin seine Erlebnisse in der Nazizeit.

 

Nein zum Kriegsdienst!

 

Seine dritte Desertion erfolgte 1945 bei Frankfurt am Main: „Ich war nun irgendwo in einem Bauernkotten, da hingen im Stall alte Klamotten, wahrscheinlich von einem Landarbeiter; da habe ich kurzentschlossen meine Uniform in die Jauchegrube geworfen, habe diese alten Klamotten angezogen und bin losmarschiert. Ich sah aus wie ein Clochard. Oder wie nennt man das? Wie ein Landstreicher. Das war mir egal. Jedenfalls war ich nun Zivilist.“

Seine antifaschistische und antimilitaristische Botschaft richtet sich auch an kommende Generationen und bleibt aktuell: „Dulce et decorum est pro patria mori! – Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben! – Eine Parole, die sich von Horaz bis Klopstock in vaterländischer Dichtung findet, und die im nationalsozialistischen Deutschland aufgegriffen und uns schon in der Jungvolk- und Hitlerjugendzeit indoktriniert wurde. Die gepriesene Süßigkeit des als erstrebenswert hingestellten Heldentodes hatte für mich von Anfang an einen bitteren Beigeschmack, und auf die Ehre, vielleicht einmal namentlich mit vielen anderen in Schlachten hingemordeten Kameraden auf einer Heldengedenktafel zu erscheinen, war ich keineswegs erpicht.“

Auf meine Frage, was er jungen Leuten heute sagen würde, die an den Schulen für die Bundeswehr rekrutiert werden und sich freiwillig zum Kriegsdienst melden, antwortete Rainer: „Freiwillig? Bescherbelt! Was soll ich denen sagen? Haben die denn keine Vorstellung?! Man muss doch mal nachdenken, was man tut. Ich bin doch für das, was ich tue, selber verantwortlich.“ (6)

Rainer Scheppers Beerdigung auf dem Zentralfriedhof Münster fand im August 2021 im engsten Familienkreis statt.

Rainer, wir werden Dich nicht vergessen und in Deinem Sinne weiter gegen Militarisierung und Krieg, für eine friedlichere, gerechte Welt kämpfen.

 

Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Schepper [abgerufen am 18.2.2022]

(2) Rainer Schepper: Ich war Deserteur. Reminiszenzen aus dem Jahre 1945, agenda Verlag, Münster 2009. Eine kürzere Version erschien als Artikel von Rainer Schepper unter gleichem Titel im Mai 2000 in der GWR 249, Seite 7

(3) Zitate aus dem Interview von Bernd Drücke mit Rainer Schepper auf MünsterTube: https://youtu.be/J5Ls_AfrAcE

(4) Rainer Schepper: Lebensreport, Verlag Elsinor und Longinus, Coesfeld 2016

(5) Siehe dazu auch: „Das ist Christentum“. Rede von Rainer Schepper zum Militärgottesdienst von Kardinal Meisner auf der Domplatte in Köln am 20.1.2000, in: Graswurzelrevolution Nr. 249, Mai 2000, S. 9

6) https://www.graswurzel.net/gwr/2018/12/die-uniform-in-die-jauchegrube-geworfen/

 

Nachruf aus: Graswurzelrevolution Nr. 468, April 2022, www.graswurzel.net