Am 3. Oktober finden wieder die Feiern zur Vereinigung Deutschlands
statt. Offiziell wird das zelebriert als Fortsetzung der „Wende" in der
DDR und des Mauerfalls mit anderen Mitteln. Als sei es die einzige
historische Möglichkeit gewesen. Es gab aber eine offene Situation vom
Herbst 1989 bis in den Winter 1990, in der die staatliche Vereinigung
nur eine der möglichen Varianten war. Es hätte auch eine deutsche
Zweistaatlichkeit geben können, zwei deutsche Republiken, die sich nicht
bekämpfen, sondern freundlich kooperieren. Wie das heutige Deutschland
mit Österreich, das schließlich bis 1866, dem Reichs-Einigungs-Krieg
Bismarcks gegen Österreich, auch zu Deutschland gehört hatte.
Die US-amerikanische Sozialwissenschaftlerin Joyce Marie Mushaben
betonte vor zehn Jahren etwas, das heute gern in den Hintergrund
geschoben wird (Berliner Debatte Initial, Heft 3/2001): dass es die
ältere Generation war, die die Vereinigung gemacht hat, angefangen mit
Willy Brandts Diktum: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", bis
zu Kanzler Kohl und Ministerpräsident de Maizière. Mushaben schrieb:
„Wäre die Wende etwa fünf Jahre später zustande gekommen, hätte es wohl
nicht zu einer Wiederherstellung der deutschen Einheit in dieser Form
kommen können. Bis dahin hätte man im Osten voraussichtlich eine andere,
eher reformorientierte Machtkonstellation vorgefunden (da Honecker
selbst schon erkrankt war und viele SED-Mitglieder die Notwendigkeit
einer radikalen Umkehr eingesehen hatten). Im westlichen Teil der Nation
wäre die nächste Generation, inklusive der Frauen, ein großes Stück
weiter aufgerückt (besonders in den Bundestag). Dass Frauen weniger Wert
auf ‚nationales Tun und Gehabe‘ legen, habe ich woanders dargelegt.
Nach meinem Empfinden sind die ostdeutschen BürgerInnen der mittleren
Generationen eher bereit, sich zu einer neuen nationalen Identität zu
bekennen, vorausgesetzt, dass sie an der Definition dieser deutschen
(sprich nationalen) Identität als Gleichberechtigte teilnehmen dürfen.
Eins hat die DDR im Laufe ihrer 40-jährigen Existenz geschafft, was in
der BRD nie gelungen war, nämlich die Wörter ‚Liebe‘ und ‚Vaterland‘
immer wieder in einem Satz unterzubringen, z.B. in der Wendung ‚Liebe
zum sozialistischen Vaterland‘. Für viele Ostdeutsche ist der Begriff
Vaterland positiv besetzt geblieben, auch wenn sein sozialistischer
Charakter das Volk 1989 dazu veranlasst hat, andere Facetten dieses
Vaterlandsbezuges zu betonen, z.B. Deutschland als einig Vaterland.
Westdeutsche Angehörige der Lange-Marsch-Generation (der 68er - E.C.)
hatten dagegen - nach schwerwiegenden politischen und persönlichen
Auseinandersetzungen darüber, was Deutsche/r sein nicht heißen darf - Ende der achtziger Jahre gerade eine Entwicklung hin zu einer unverbindlichen, postnationalen (und dennoch ausdrücklich bundesrepublikanischen) Identität vollzogen, mit der sie glaubten, gut leben zu können."
Am Ende zitierte Mushaben Antje Vollmer (eine damals prominente
Grünen-Politikerin), die 1991 geschrieben hatte: „Diese alten Männer
haben es gut gemeint mit uns. Sie haben eine freie und demokratische
Republik aufgebaut. Sie haben eine freie und kritische Presse
ermöglicht. Sie haben sogar eine politische Opposition geschaffen, die
sich als regierungsfähig erwiesen hat. Jetzt wollen sie uns einen
letzten Gefallen tun, fünfundvierzig Jahre nach dem Kriegsende wollen
sie uns Deutschland zurückgeben, und nicht mal ein nationalistisches.
Nein, einfach ein zivilisiertes Land."
Hatte sie damit Recht? Oder ist die Pointe nach zwanzig Jahren eine
andere? Dieses Deutschland vereinigte sich 1990 mit Zustimmung aller
seiner Nachbarn, mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag waren die Grenzen
endgültig festgeschrieben. Deutschland war nach der Vereinigung zwar
wieder größer als jedes andere europäische Land (außer Russland), aber
schien gut eingerahmt in den Institutionen der Europäischen Union.
Die entstand seit den 1950er Jahren, um die Interessen der
Kapitalverwertung der west-europäischen Bourgeoisie zu verbessern: durch
einheitliche Regeln des Marktes innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft,
eine gemeinsame Handelspolitik nach außen, Abschaffung von Zöllen,
schließlich durch eine gemeinsame Währung. Zugleich aber haben der
Wegfall von Personenkontrollen und Visa an den Grenzen innerhalb der EU
oder der Euro als gemeinsame Währung auch die konkreten
Lebensbedingungen der Menschen verbessert. Nach den Verträgen von
Maastricht, Amsterdam und Lissabon ist die EU ein Gefüge, das mehr ist
als ein Staatenbund. Sie ist inzwischen der real existierende
Wirtschafts-, Währungs- und Rechtsraum, in dem sich europäische
Entwicklung und Politik (der teilnehmenden Staaten, Nationen und
Gesellschaften) abspielt. Gerade die Zuspitzung der gegenwärtigen
Weltwirtschaftskrise zeigt, dass insbesondere die sozialen Kosten eines
Zusammenbruchs der EU immens wären und ihr Zerfall kein vertretbares
Ziel ernsthafter Politik sein kann, im Gegenteil. Ebenso, wie nach 1871
die immer wichtigere politische Ebene nicht mehr Sachsen oder
Württemberg war, sondern Deutschland, ist es heute nicht mehr
Deutschland, Frankreich oder Griechenland, sondern die EU.
Im Prinzip ist das so. Aber es sich eine veränderte Konstellation
durchgesetzt, in der die Herrschenden Deutschlands zunehmend bestimmen,
was in diesem Europa passiert, ohne dass sich an dem institutionellen
Arrangement etwas geändert hätte. Im ersten und zweiten Weltkrieg
wollten sie auch formell den Kontinent beherrschen; die jetzige Dominanz
ist informell, aber tatsächlich. Der EU-Präsident Barroso kommt nach
Berlin, um sich Order zu holen, wie es mit dem „Rettungsschirm" für den
Euro weitergehen soll. Der Ministerpräsident Griechenlands, das durch
die Schuldenkrise am meisten gebeutelt ist, tritt in Berlin an als
Bittsteller, um der Kanzlerin und einer Versammlung von
Wirtschaftsführern seine Versicherungen abzugeben, zwei Tage vor der
entscheidenden Sitzung des Deutschen Bundestages.
Zugleich hat die Bevölkerung Deutschlands Zweifel an den Vorzügen dieser
EU. Nach einer Umfrage, die die EU-Kommission in den EU-Staaten hat
machen lassen, zweifelt eine Mehrheit der Deutschen daran, dass die
wirtschaftliche Zusammenarbeit in der EU Vorteile für sie bringen würde.
65 Prozent der Befragten sind der Auffassung, der Binnenmarkt nutze nur
den Großunternehmen, und 57 Prozent widersprachen der Aussage, der habe
ihren Lebensstandard gehoben. Von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird
dies als Vorbehalt gegen die EU und den „Rettungsschirm" für den Euro
interpretiert. Tatsächlich ist es nur Ausdruck dessen, dass die Menschen
sehr wohl wissen, was geschieht. Deutschland ist auch weiterhin
„Vize-Exportweltmeister" (nach China): Das Land erwirtschaftete 2010
insgesamt einen Exportüberschuss von 153,5 Milliarden Euro. Darunter
stammten 122,4 Milliarden (79,8 Prozent) aus der EU, 85,5 Milliarden
(55,8 Prozent) aus der Eurozone. Es stimmt, dass Deutschland
Hauptnutznießer des Euros ist - die Schulden der anderen sind die äußere
Kehrseite des deutschen Gewinns, oder anders gesagt: Wenn die deutsche
Politik die EU-Schuldner schlachtet, beseitigt sie die wichtigsten
Käufer deutscher Waren. Das ist der Irrwitz der derzeitigen
Schulden-Politik.
Zugleich weiß man in Deutschland sehr wohl, dass die Absenkung der Löhne
und der Binnenkaufkraft die innere Kehrseite jener Exportkraft ist.
Indem die EU, der Euro oder „die Griechen" zu Schuldigen gemacht werden,
wird von der Verantwortung der deutschen Politik abgelenkt. Für die
Versuche, den Kontinent formell und vor allem militärisch zu
beherrschen, mussten die Herrschenden der Bevölkerung in Deutschland
etwas von Herrenmenschentum einreden. Heute werden im Namen der
Gleichheit und der Demokratie die von ihrer Arbeit lebenden Deutschen
genauso schlecht behandelt, wie die in Griechenland oder in Portugal.
Aber das ist ja auch ein Fortschritt. Nur müsste daraus nicht Skepsis,
sondern eine neue Solidarität wachsen.