Stalins langer Schatten

Verstorben ist Jossif Stalin am 5. März 1953. Was denken Russen heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, von ihm? Sein langer Schatten reicht, wie jüngste repräsentative Umfragen des Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentr" in Rußland ergaben, bis in die Gegenwart. Dabei werden Person und System, „Stalin" und „Stalinismus", von Interessierten jeweils so benutzt, wie es in den jeweiligen politischen Kramladen paßt. Beispielsweise trägt das Programm des russischen Kabelsenders „Nostalgia" zur Traditionspflege bei. Auf andere Art nutzen die heutigen geostrategischen Absichten der Putin-Bewegung die am Leben gehaltene Sehnsucht nach einer Zeit, als Sowjetrußland noch eine Weltmacht war.

Im August 2009 gab es bei wissenschaftlich gesicherten Umfragen in Rußland, ohne direkten Bezug zu aktuellen Politikgeschäften, eindeutige Antworten auf drei Thesen und zwei Fragen des „Lewada-Zentr". Sie ermöglichen es dem Interessierten, sich selbst ein Bild zu machen. Wem das nicht genügt, der könnte ja unter anderem zum 874 Seiten zählenden und 5,5 cm dicken Wälzer „Stalin: Am Hof des roten Zaren" greifen (Autorin: Simon Sebag Montefiore, Übersetzer: Hans Günter Holl). Es enthält Geschichten über Geschichten, gesalbt ist es auch mit einigen Tropfen Geschichte.

Wir wenden uns hier nackten Umfrageergebnissen zu:

1. Stalin war ein weiser Führer, der die UdSSR zu Macht und Aufblühen brachte.

50 % = Einverstanden
37 % = Nicht einverstanden
13 % = Fanden es schwierig zu antworten

2. Welche Fehler und Unzulänglichkeiten auch Stalin zugeschrieben werden, das Wichtigste ist es, daß unser Volk unter seiner Führung als Sieger aus dem Großen Vaterländischen Krieg hervorging.

68 % = Einverstanden
19 % = Nicht einverstanden
13 % = Fanden es schwierig zu antworten

3. Stalin - ein grausamer, unmenschlicher Tyrann, schuldig an der Vernichtung von Millionen Unschuldiger.

68 % = Einverstanden
19 % = Nicht einverstanden
13 % = Fanden es schwierig zu antworten

4. Ausgehend vom Ausmaß der Verfolgungen in der Epoche Stalins, der zwangsweisen Umsiedlung (Aussiedlung) einiger Völker, sind Sie damit einverstanden, daß der Führer Jossif Stalin als Staatsverbrecher anzusehen ist?

17 % = Völlig einverstanden
26 % = In vielem einverstanden
32 % = Unterm Strich kann ich dem nicht zustimmen
12 % = Keineswegs einverstanden
18 % = Fanden es schwierig, zu antworten

5. Was meinen Sie, wer vor allem ist verantwortlich, für die Verfolgungen und Opfer in unserem Land in der Zeit von den 30er Jahren bis Anfang der 50er Jahre?

19 % = Stalin ist verantwortlich
19 % = Das Staatssystem
41 % = Sowohl Stalin als auch das Staatssystem
6 % = Weder Stalin noch das Staatssystem
15 % = Fanden es schwierig zu antworten

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Ossip Mandelstam

Im Herbst 1933, fünf Jahre bevor der „Große Terror" auch seinem Leben ein Ende setzte und der deshalb, wie ungezählte andere Opfer, nicht im August 2009 nach seiner Meinung über Stalin gefragt werden konnte, schrieb Ossip Mandelstam:

Wir leben, wenngleich aus dem Leben gerissen;
Wir schweigen, als wäre die Zunge zerbissen.
Wenn`s doch mal zu einer Andeutung kommt,
Ist`s nichts was dem Zwingherrn im Kreml frommt.
Seine Finger - gleich fetten behaarten Würsten,
Die weichen Stiefelchen - wie geleckt, ohne Bürsten.
Sein Bart erinnert an der Schabe Antennen,
Um ihn her, hohlköpfige Hofschranzen rennen.
An ihnen ist der Speichellecker Nutz und Fromm zu erkennen.
Befehle, Erlasse, Faustschlägen gleich auf uns niederkrachen:
Auf den Schädel.
Aufs Auge.
Und ins Genick.
Leutselig zerschlägt mit großem Geschick,
Des Mannes aus Gori stählerne Hand,
Jeden der denkt in unserem Land.

Übersetzung aus dem Russischen: Gerd Kaiser