Du bist Unterschicht:

Zur Remoralisierung sozialer Ungleichheit

in (16.01.2007)

Du bist Deutschland! Stephan Lessenich schreibt in der aktuellen Prokla zur Debatte über die 'neue deutsche Unterschicht'.

Eigentlich war nicht viel passiert. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hatte bei einem führenden kommerziellen Meinungsforschungsunternehmen eine groß angelegte Untersuchung in Auftrag gegeben mit dem - ganz im Gegenwartstrend der deutschen Politik liegenden - Ziel, die 'Reformbereitschaft der Deutschen' zu erkunden. Da die fundamentale 'Reform'-Bedürftigkeit des von der Sozialdemokratie maßgeblich mit geprägten, ehedem so erfolgreichen 'Modell Deutschland' nach allgemeiner Meinung außer Frage steht, schien es unmittelbar nahe liegend, dass die Ebert-Stiftung einen Teil ihrer schwer verdienten Steuergelder zur Aufklärung einer derart gemeinwohlrelevanten Frage investiert. Der sozialforscherische Ehrgeiz der Projektbeauftragten beim Auftragnehmer 'TNS Infratest' (Werbeslogan: 'Marktforschung für Führung') bescherte den Auftraggebern eine Studie, die in ihrer Sozialkategorienarithmetik ganz auf der Linie der aus der Verbraucherforschung seit längerem bekannten (und mittlerweile zur amtlich registrierten Marke aufgestiegenen) 'Sinus-Milieus' liegt. Dem dort, unter der Parole 'Verbraucher sind auch nur Menschen' (www.sinus-sociovision.de), immer wieder neu gezeichneten Bild von der deutschen Gesellschaft als einem Konglomerat von Lebenswelten, das sich (Stand 2006) u.a. von den 'Konservativen' (5%) zu den 'Modernen Performern' (9%) und (in den weniger privilegierten sozialen Lagen) von den 'Traditionsverwurzelten' (14%) zu den 'Hedonisten' (11%) spannt, stellten die Infratest-Marktforscherinnen nun ein ganz ähnliches Modell von neun 'politischen Typen' bzw. von neun typischen Politikkonsumenten zur Seite - selbst Wähler sind eben auch nur Menschen bzw. Milieuangehörige (vgl. Müller-Hilmer 2006). Und siehe da, neben (bzw. zumindest graphisch: unter) den 'Kritischen Bildungseliten' (9%) und dem 'Engagierten Bürgertum' (10%) entdeckten die Interviewer auch die 'Autoritätsorientierten Geringqualifizierten' (7%) sowie ein der Studie zufolge von 'sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen' geprägtes Milieu, das man in bestem Soziologendeutschfranzösisch als 'Abgehängtes Prekariat' (8%) titulierte.

So akademisch-undramatisch hätte der Fall enden können und wohl auch geendet, wäre der SPD-Vorsitzende Kurt Beck nicht auf die (vermutlich wohldurchdachte) Idee gekommen, seine bei einem sonntäglichen Interview (vgl. FAS vom 8.10.2006) unter Bezugnahme auf besagte Studie und mit Blick auf letztgenanntes Randmilieu zum Besten gegebene gesellschaftspolitische Analyse mit den vielsagenden Worten 'Manche nennen es ein Unterschichten-Problem' abzurunden. Der mediengesellschaftliche Aufruhr ließ nicht lange auf sich warten, und für einige Tage war die 'Unterschichten-Debatte' eröffnet. Dabei traten interessante soziale Phänomene an der Schnittstelle von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit zutage, die einer gründlichen Analyse bedürften - und die sich zunächst in der Beobachtung bündeln lassen, dass soziale Ungleichheit hierzulande nicht etwa als gesellschaftliches Strukturproblem, sondern (und zwar offenbar recht erfolgreich) als sprach-, partei- und moralpolitisches Phänomen ver- und behandelt wird. Diesen drei Dimensionen der politischen Problemverschiebung möchte ich mich im Folgenden jeweils kurz zuwenden.

Raider heißt jetzt Twix

Als erstes bemerkenswertes Zwischenergebnis des frühherbstlich-bunten Diskussionstreibens kann festgehalten werden, dass von strukturierter sozialer Ungleich-heit, von einem gesellschaftlichen 'Oben' und 'Unten', in Deutschland nicht bzw. nicht ohne Weiteres die Rede sein darf. Das 'schmutzige Wort' (FAZ v. 17.10.2006) von der 'Unterschicht' wurde von der Führungsspitze der Sozialdemokratie ins Spiel gebracht, um sogleich, in einem gewagten quasi-kollektiven Sprechakt, seinen öffentlichen Gebrauch zu verdammen. SPD-Generalsekretär Hubertus Heil beeilte sich klarzustellen, dass seine Partei sich einen solchen Begriff nicht zu eigen mache, weil er Menschen stigmatisiere; die Bezeichnung also, nicht der bezeichnete Sachverhalt selbst wurde zunächst einmal skandalisiert. Franz Müntefering wurde in ähnlicher Weise normativ-mitfühlend und belegte kurzerhand - für einen Arbeitsminister überraschend - den Berufsstand der Sozialstrukturforscher mit einem Arbeitsverbot: 'Wir dürfen die Gesellschaft nicht aufteilen in Schichten, Kategorien. Das ist eine Gesellschaft.' (FAZ v. 18.10.2006).

Flankiert wurde diese soziale Homogenisierungsaufforderung mit dem wiederholt vorgebrachten Hinweis aus der Führungsetage der Partei, die Ebert-Studie selbst rede wohlgemerkt und wohlweislich nicht von 'Unterschichten', sondern eben von einem im gesellschaftlichen Abseits und auf der Verliererseite sich wähnenden 'Prekariat'. Wie so vieles in der Debatte war dies freilich allenfalls die halbe Wahrheit, denn selbstverständlich benennt die Infratest-Studie (wie strukturähnliche Analysen auch) den sozialstrukturellen Hintergrund der entdeckten 'politischen Typen', und ebenso selbstverständlich - und nun wirklich alles andere als überraschend - konstatiert sie in Bezug auf die abgehängten 'Prekären' ausdrücklich, dass diese zu 49% der 'Unter- und unteren Mittelschicht' entstammen (Müller-Hilmer 2006: 81). Dessen ungeachtet ließ Müntefering - wie seine christdemokratischen Koalitionspartner bekanntlich selbst 'mitten im Leben' stehend - die interessierte Öffentlichkeit wissen, der Begriff der 'Unterschicht' sei allenfalls für 'lebensfremde Soziologen', nicht aber 'für die gesellschaftliche Debatte' zu gebrauchen (FAZ v. 18.10.2006). Und in der Tat: Will man die gesellschaftliche Debatte nicht über soziale Ungleichheit, deren Produktion und Reproduktion, nicht über die strukturellen Ursachen sozialer Benachteiligung, sozialer Unsicherheit und sozialen Ausschlusses, nicht über die Formen und Mechanismen der Produktion und Verteilung gesellschaftlichen Reichtums führen, dann dürfte der Begriff der 'Unterschicht' tatsächlich politisch wenig zielführend sein. Dann darf man nicht - wie in der genannten Studie geschehen - von einer 'Drei-Drittel-Gesellschaft', von 'Verunsicherung' als 'dominanter gesellschaftlicher Grundstimmung' oder aber davon reden, dass 61% der 3000 Befragten meinen, es gebe 'keine Mitte mehr, nur noch ein Oben und Unten' (Müller-Hilmer 2006: 4, 7), sondern dann muss man vielmehr - mit aufgesetzter Tabubrecher-Miene - den fehlenden Aufstiegswillen, die mangelnde Leistungsbereitschaft und den Verfall der bürgerlichen Werte in bestimmten sozialen Milieus thematisieren. Genau dies ist denn auch der Tenor gegenwärtiger sozialdemokratischer Meinungsmache.

Kohl muss sich wieder lohnen

Dass er keine Schichten mehr kennt bzw. kennen will, sondern nur noch Deutsche, kann der SPD-Vizekanzler ja demnächst mit etwas Glück - und des Eindruckes wegen - wie einst der Kaiser vom Balkon des dann wiederhergestellten Berliner Stadtschlosses rufen. Parteien allerdings kennen Müntefering, Beck, Heil und Kollegen - anders als weiland Wilhelm II. - durchaus noch, und nahe liegender Weise insbesondere ihre eigene. Und selbstverständlich soll die den Stein des Anstoßes darstellende Auftragsstudie, jenseits spröder Sozialforschung, vornehmlich sozialdemokratischer Wählerreservoirabschätzung dienen. Nicht zufällig endet die Studie mit einer graphischen Darstellung des 'SPD-Potentials' ('hoch' versus 'niedrig') bei den neun unterschiedenen 'politischen Typen', und wenig überraschend - jedenfalls in Kenntnis der nach ihrer Veröffentlichung erfolgten 'Unterschichten-Debatte' - lokalisiert sie die natürlichen Wählerschichten der Partei bei 'Kritischen Bildungseliten' und 'Engagiertem Bürgertum', 'Bedrohter Arbeitnehmermitte' und 'Autoritätsorientierten Geringqualifizierten' - aber eben nicht bei den abgehängten Mitgliedern des ominösen 'Prekariats' (Müller-Hilmer 2006: 91f.). Wer jedoch als untere Wahlvolksgruppe nicht obere Priorität genießt, den kann man auch als Genosse durchaus schon einmal etwas härter angehen.

Und so hatte der Parteivorsitzende Beck schon einige Wochen zuvor in einem Interview mit dem 'Stern' mehr gesellschaftliche und parteipolitische Aufmerksamkeit für die 'Leistungsträger' gefordert. Die SPD sei dem Leitbild einer Leistungsgesellschaft traditionell eng verbunden, Aufstieg durch Leistung sei von Anfang an 'Credo der Arbeiterbewegung' gewesen, formulierte Beck in einem internen Diskussionspapier, das er 'Leistung muss sich wieder lohnen' überschrieb (vgl. FAZ v. 30.8.2006). Was - weil geflügeltes Wort der Kohl-Ära - vermutlich als Provokation gemeint war, zeigt wohl eher an, wie nicht nur wort-, sondern auch wertidentisch mittlerweile der womöglich zukünftige mit dem früheren Bundeskanzler operiert. Länger schon - und radikaler auch - mit auf der Suche nach einer zukunftsfesten Wählerklientel ist der stellvertretende SPD-Vorsitzende Peer Steinbrück, der bereits vor seiner Zeit als Bundesfinanzminister der Partei ins Stammbuch schrieb, dass sozial gerecht eine Politik für jene sei, 'die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie - und nur um sie', so Steinbrück damals apodiktisch, 'muss sich Politik kümmern' (DIE ZEIT v. 13.11.2003). SPD ist FDP ist CDU: Mehr und mehr offeriert sich die Sozialdemokratie als Ersatzheimstatt jener liberal-konservativen Wählerkreise, die leistungsideologische Appelle fraglos gutheißen und dabei lieber dicke Männer - nicht zufällig gehören Beck wie Steinbrück dem Kohlschen Lebensstilmilieu des wohlgenährten 'Kaloriats' (FAZ v. 17.10.2006) an - als wie auch immer frisierte Frauen an den Schalthebeln der Macht sehen wollen.

Die Mittelstandsgesellschaft schlägt zurück

Das vielstimmige sozialdemokratische Lob der Leistungsträger ist nur ein Indiz für die diskursive Dominanz und Deutungshoheit der Mittelschicht und ihrer politischen Repräsentanten in der - faktisch verhinderten - 'Unterschichten-Debatte'. Was wir gegenwärtig, im Zeichen zunehmend instabiler Beschäftigungsverhältnisse, schrittweiser Rücknahme wohlfahrtsstaatlicher Sicherungsversprechen und politisch dramatisierter Demographieängste, erleben, sind die reflexhaften sozialen Zuckungen einer zutiefst verunsicherten Mittelstandsgesellschaft - einer Gesellschaft, die in ihrem sozialstrukturellen Kern nicht länger (wenn denn Helmut Schelskys Nachkriegsdiagnose jemals zutreffend war) nivelliert ist, sondern deren 'Mitte' in ihrer sozialen Stabilität zutiefst erschüttert wird und deren Verunsicherung sich im zusehends unverhohleneren Ressentiment gegen die (angeblich) nicht Leistungsbereiten, gegen die Unproduktiven, Passiven, Alimentierten aller Art äußert.

Symptomatisch für die damit bezeichnete gesellschaftspolitische Tendenz sind die konsequente Umdeutung gesellschafts-struktureller in verhaltenspsychologische Probleme, die systematische Umkehrung kollektiver und individueller Verantwortlichkeiten, die grassierende Remoralisierung von Fragen sozialer Ungleichheit. Bezeichnend für die geistig-soziale Situation der Zeit ist die in seinem 'Unterschichten'-Interview geäußerte Problemdiagnose Becks, wonach zu viele Menschen kein Interesse mehr an Aufstieg durch Bildung hätten, zu wenig Ehrgeiz und Mobilitätsbereitschaft zeigten (FAS v. 8.10.2006). Bezeichnend ist die Klage des SPD-Bundestagsfraktions-vorsitzenden Peter Struck (womit die durch 'Marktforschung für Führung' anvisierte Sozialdemokratenriege komplett wäre) über 'eine moralische Armut in sogenannten Unterschichtfamilien' und seine im Zusammenhang mit den jüngst publik gewordenen Kindestötungsfällen gezogene Lehre, der 'Schlüssel' zur sozialen Problemlösung 'liege in den Herzen der Eltern, die sich nicht richtig um ihre Kinder kümmerten' (FAZ v. 30.10.2006). Bezeichnend - und bedrückend - sind die Durchschlagskraft und die Nachhaltigkeit, mit denen offensichtlich die von dem neokonservativen SPD-Berater Paul Nolte (vgl. Nolte 2004) propagierte, offensive Wiederbelebung einer bürgerlich-mittelschichtsorientierten 'Leitkultur' an der Spitze der Partei Fuß gefasst (und Köpfe ergriffen) hat. Eine durch und durch westdeutsche Leitkultur übrigens, deren Bannstrahl vornehmlich den heute weitgehend mittelschichtsfreien Osten Deutschlands trifft und treffen soll, wo die (in der politisch suggerierten Vorstellung) prekären Abhänger den FES-Zahlen zufolge nicht weniger als 25% der Wahlberechtigten (gegenüber nur 4% im Westen; vgl. Müller-Hilmer 2006: 21) stellen.

'Du bist Deutschland' lautete vor nicht allzu langer Zeit eine breit angelegte (und entsprechend teure) Medienkampagne, die uns alle - ausweislich des Kampagnenmanifests (vgl. www.du-bist-deutschland.de) - daran erinnern sollte, dass wir unseres eigenen Glückes Schmied sind: 'Also: Wie wäre es, wenn Du Dich mal wieder selbst anfeuerst? Gib nicht nur auf der Autobahn Gas. Geh runter von der Bremse. Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Deutschlandbahn. Frage Dich nicht, was die anderen für Dich tun. Du bist die anderen. Du bist Deutschland.' Die aktuelle Debatte um das (seien wir politisch korrekt) 'abgehängte Prekariat' sendet an diese Gesellschaft - die 'Unter'- wie die Mittelschichten - genau dieselbe Botschaft imperativer, eigenständiger und sozialverantwortlicher Beweglichkeit (vgl. Lessenich 2006) aus: 'Du bist abgehängt? Verunsichert? Wie wäre es, wenn Du Dich mal wieder selbst anfeuerst? Gib Gas, geh runter von der Bremse. Es gibt keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Mittelstandsbahn.'
Und wer weiß, vielleicht stimmt das mit der freien Fahrt für freie Bürger ja sogar - allerdings auf dem Weg nach unten.

----------
Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Prokla 145: Ökonomie der Technik, Dezember 2006
----------

Literatur
Lessenich, Stephan (2006): Beweglich - Unbeweglich, in: Stephan Lessenich; Frank Nullmeier (Hg.) (2006): Deutschland - eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt/New York: Campus, S. 336-352.

Müller-Hilmer, Rita (2006): Gesellschaft im Reformprozess, Friedrich-Ebert-Stiftung / TNS Infratest Sozialforschung, Juli 2006 [www.fes. de/inhalt/Dokumente/061017_Gesellschaft_ im_Reformprozess_komplett.pdf].

Nolte, Paul (2004): 'Fürsorgliche Vernachlässigung' Umrisse einer neuen Politik der Unterschichten, in: Paul Nolte, Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München: C.H. Beck, S. 57-73.