Horror vacui

Da Parteien auch nur Menschen sind, feiern sie sich gerne selbst. Insofern sie an aktuellen Anlässen dafür Mangel leiden, bieten Jubiläen allemal Gelegenheiten, um auf irgendetwas stolz zu sein.

Die NPD, sonst betont "anders" als alle anderen deutschen Parteien, verfährt in dieser Hinsicht ganz orthodox. Auch sie feierte in diesem Monat November einen runden Jahrestag; den 40. des Ersteinzuges einer NPD-Fraktion in einen bundesdeutschen Landtag.

Außer für Nazis aller Couleur ist dies nun freilich kein Umstand, der positiv gewürdigt gehörte. Der Erinnerung wert ist er aber allemal in einer Zeit des geheuchelten Erschreckens der Etablierten und ihrer Mediengetreuen darüber, daß die Braunen derzeit neuerlich Stühle in Landesparlamenten besetzen. Denn bevor dies in Sachsen-Anhalt und Brandenburg (DVU), in Sachsen und nun in Mecklenburg/Vorpommern (NPD) eintrat, war alles schon einmal jenseits der Elbe geprobt worden: In Hessen im November 1966, bald darauf dann in Bayern, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen und Baden-Württemberg; die Gastspiele der Republikaner in den achtziger Jahren und der bräunlichen Schill-Partei in Hamburg nicht zu vergessen. 1969, auch das soll nicht übersehen sein, fehlten der NPD ganze 0,7 Prozent zum Einzug in den Bundestag. Und das in den kommodesten Zeiten westdeutscher Wohlfahrt und Sozialfriedlichkeit!

Sicher - die frühen Nachkriegsnazipioniere der Thielen, Thadden oder Mußgnug verschwanden zunächst wieder aus den Parlamenten. Und auch die Wehrsportgruppe Hoffmann oder die Aktionsfront Nationaler Sozialisten Kühnens sorgten zunächst nur zwischenzeitlich für Aufregung; ihnen war immerhin sogar mit Verboten und Verurteilungen begegnet worden. Gar zu übersichtlich und bequem waren für die westdeutsche Mehrheit die fünfziger bis achtziger Jahre, als daß eine nennenswerte Zahl von ihnen Lust auf neuen Extremismus hatte.

Daß sich damit das eigentliche Problem erledigt hätte, war aber - freundlich interpretiert - nie etwas anderes als eine Lebenslüge. Eine, die spätestens kenntlich wurde, als sich die Zeiten wieder einmal veränderten. Vorbei die ehrliche oder erzwungene Scham oder gar das Schuldbewußtsein der in den Faschismus involvierten Generationen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, heute dominieren zudem Generationen ohne diesen Erfahrungshorizont. Und: Wie schon in der wirtschaftlich und politisch aus den Fugen geratenen Welt der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts haben wir eine Situation, in der sich allenthalben eine immer größere Unsicherheit breitmacht - individuell, national, global. Statt des lange vertrauten Wohlstandes zumindest in der "Ersten Welt", statt der übersichtlichen Teilung dieser Welt in Nationen, gesellschaftliche Lager und deren politische Blöcke obwaltet allerorten wieder ein horror vacui. Eine Leere, die der Kapitalismus, unfähig zu Antworten außerhalb der alles nur fortschreibenden Kapitallogik, nicht zu füllen vermag. Eine Leere, die auch die noch immer ihre Wunden des Versagens leckende Linke nicht in der Lage ist zu füllen, sei es mangels praktikabler Lösungen oder zumindest deren Überzeugungskraft. Und damit eine Leere also, in die zu stoßen jenen am leichtesten fällt, deren Ansatzpunkt der Instinkt ist.

Dieses Potential hat sich nicht erst entwickeln müssen, es war immer da und brauchte eigentlich nur abgerufen werden. Es ist eben keineswegs reduziert auf die haar- und hirnlosen Dumpfbacken, die mit ihren Gewalttaten immer wieder und immer mehr die Straßen unsicher machen. Die jüngste Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung beschreibt die heute erreichte Qualität der Rechtsentwicklung in Deutschland bereits in ihrem Titel: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Rechtsextremistische Einstellungen sind kein randständiges Phänomen mehr, wird anhand der repräsentativen Untersuchung belegt. Im Vergleich mit ähnlich angelegten Studien aus den Jahren 2002 und 2004 sind sie zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem angewachsen.

Ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben 8,6 Prozent aller Deutschen, und zwar keineswegs nur junge, ungebildete und zukunftslose männliche Ostdeutsche, wie das der Mainstream medialer Wahrnehmung allzugern suggeriert. Den mit Abstand größten Anteil der Rechtsextremisten stellen mit 41,8 Prozent Rentner und Vorruheständler, gefolgt von 38,4 Prozent Erwerbstätigen. Die Diktatur als die unter Umständen bessere Staatsform betrachten neun Prozent aller Deutschen; 15,2 Prozent sehnen sich nach einem Führer mit starker Hand; 26 Prozent nach einer einzigen Partei, die die Volksgemeinschaft verkörpert. Daß die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen seien, meinen 14,8 Prozent der Gefragten; 10,1 Prozent stimmen der These zu, es gäbe "unwertes Leben" Â… "Rechtsextreme Einstellungen", so die Konklusion der Studie, "sind durch alle gesellschaftlichen Gruppen und in allen Bundesländern gleichermaßen hoch vertreten."

Die Studie bietet keineswegs unipolar interpretierbare Daten. Auch in diesem Segment des gesellschaftlichen Lebens sammeln sich vielzählige Einflußfaktoren samt den ihnen innewohnenden Widersprüchen. Deutlich wird: Die Hauptgefahr kommt noch immer von dort, wo Nazi-Denken durchgeistigt wird. Wer sich erinnert, wieviele Intellektuelle vor und im "Dritten Reich" den Nazis erlegen sind, weiß, daß dies kein Widerspruch in sich ist.

Vom Rand zur Mitte ist die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung überschrieben. Wohin es führen kann, wenn dem mit lediglich Deklamatorischem begegnet wird, muß hier nicht ausgeführt werden. Daß Geschichte sich nicht wiederholt, ist ein fundamentaler Irrtum. Der Mensch verfügt nur über ein begrenztes Repertoire an Verhaltensmustern - als einzelner ebenso wie als gesellschaftliches Wesen. Auf die stete Oberhand der Vernunft sollte man dabei besser nicht vertrauen.

Die vollständige Studie ist abrufbar unter www.fes.de

Es war seltsam zu beobachten, wie sich dies gegenseitig steigerte: die wilde Frechheit, die den unangenehmen kleinen Hetzapostel allmählich zum Dämon wachsen ließ, die Begriffsstutzigkeit seiner Bändiger, die immer erst einen Augenblick zu spät erfaßten, was er eigentlich gerade gesagt oder getan hatte - nämlich, wenn er durch ein noch tolleres dictum oder eine noch monströsere Tat gerade schon wieder in den Schatten gestellt hatte; und die Hypnose seines Publikums, das dem Zauber des Ekelhaften und dem Rausch des Bösen immer widerstandloser erlag. (Sebastian Haffner)

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 27. November 2006, Heft 24

aus dem Inhalt:
Jörn Schütrumpf: Auf dünnem Eis; Christoph Butterwegge: Zerstörungen; Max Hagebök: Angst; Hajo Jasper: Horror vacui; Asiaticus: Hitler in Tokio; Holger Politt, Warschau: Adam Schaff; Wladislaw Hedeler: Hinter Lenins Rücken; Klaus Hammer: Sarmatien; Thomas Hofmann: Selbstverbrennung eines Pfarrers; Arnold Blowatz: Berufsgeschwätztes; Hedi Schulitz: Garcia Lorca; Frank Ufen: Der Irrsinn des Schlankheitskults