Allüberall lange und spitze Nasen

Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.
(Mark Twain)

Über die Rolle der Lüge in der Politik zu reflektieren, ist gewiss reizvoll, auch wenn die Unzahl der Belege dafür nirgendwo komplett aufzuzählen wäre. Um die sozusagen allgemeine Lüge soll es hier aber nicht gehen sondern um einen ihrer verbreiteten Aspekte. Denn – mag es ein genetisch bedingtes Merkmal der menschlichen Natur sein oder der katholischen Erbsünde entwachsen, oder beides: In der Geschichte wenigstens der Neuzeit fällt auf, dass eben nicht nur Einzeltäter diverser Verbrechen, sondern selbst Massenmörder die größten Unmenschlichkeiten nicht begehen, ohne dafür einen „Grund“ zu präsentieren und solcherart vorzugeben, dass es sich bei ihren Untaten lediglich um Reaktionen handelt, nie aber um ein Verbrechen.
Diesbezüglich ließe sich eine regelrechte Ahnenreihe der dafür benutzten Lügen aufstellen, denen oft genug hunderte, tausende oder gar sogar Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Schon vor besagter Neuzeit mag allein an die grausamen Judenpogrome in Europa erinnert werden, für die unter anderem Gräuelgeschichten über jüdische Ritualmorde an Kindern herhalten mussten, die nirgendwo stattgefunden hatten. Eingangs des 20. Jahrhunderts dann wurden die – wie bald nachgewiesen von der russischen Ochrana gefälschten – „Protokolle der Weisen von Zion“ in weltweiten Umlauf gebracht, um damit das untergründige Streben der Juden nach der Weltherrschaft zu „beweisen“, eine Lüge, die übrigens bis heute immer mal wieder benutzt wird, um einschlägige antisemitische Repressionen zu sanktionieren.
Unvergessen in der Geschichte der deutschen Politik ist die „Emser Depesche“ von Kaiser Wilhelm, die Bismarck 1870 dergestalt verstümmelte, dass Napoleon III. sie als Kriegserklärung wertete und denn auch wie erhofft mit einer solchen antwortete.
Auch ein als Massenmörder kaum zu überbietender Machthaber wie Hitler meinte nicht ohne einen historischen „Fake“ auszukommen, als er einen polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz vortäuschen ließ, um diesen dann als Anlass für den Überfall auf Polen und damit schließlich den Ausbruch des 2. Weltkrieges zu benutzen. Auch des Reichstagsbrandes wäre zu gedenken, der zwar keinen internationalen, aber doch einen Massenterror der Nazis gegen die noch bestehende Opposition wie Sozialisten und Kommunisten auslöste.
An den Vietnamkrieg der USA wäre zu erinnern, für dessen ganze Grausamkeit das Pentagon samt angeschlossener Geheimdienste sich die Zwischenfälle von Tonkin ausgedacht hatte, bei denen nordvietnamesische Schnellboote grundlos, natürlich, zwei amerikanische Kriegsschiffe beschossen haben sollten – eine Lüge, wie spätestens die Annalen seinerzeit beteiligter US-Politiker belegten.
Der „Hufeisenplan“ zur systematischen Vertreibung der Kosovo-Albaner aus dem Kosovo, mit dem auch ein Rudolf Scharping 1999 die Kriegsbereitschaft Deutschlands beförderte – eine Fälschung, neuerlich mit jeder Menge Todesopfer und / oder Vertriebenen als Folgen.
In noch frischer Erinnerung und bis heute in seiner Widerlichkeit unerreicht dann, womit die USA beide Golfkriege begründeten. Ging es beim ersten vorgeblich um die Befreiung Kuwaits von der – in der Tat vorausgegangenen – Invasion durch den Irak, mussten hier zur Rechtfertigung des enormen militärischen Aufwandes der USA neuerlich Gräuelgeschichten her, von denen die „Brutkastenlüge“ die wohl perfideste war. Diesem Fake zufolge sollten irakische Truppen bei der Besetzung Kuwaits in kuwaitischen Krankenhäusern Babys aus Brutkästen gerissen und so ermordet haben. Die fünfzehnjährige „Augenzeugin“ Nijirah al-Sabah, die dies vor dem US-Kongress tränenreich beschrieb, stellte sich hernach als Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA heraus. Der, ein angeblicher Chirurg, der als Zeuge gar vor den Vereinten Nationen aufgetreten war, erwies sich als Zahnarzt, der später seine Lüge auch eingestand.
Schließlich der Irak-Krieg von 2003. Man mag es auch retrospektiv kaum glauben, dass die amerikanischen Geheimdienste – im Auftrag ihrer politischen Dienstherren! – es fertig brachten, im UN-Sicherheitsrat mit Luftbildbeweisen und sogar mit chemischen Proben die drohende Existenz von chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen im Besitz Saddam Husseins zu „beweisen“. Alles Lüge, wie später selbst der seinerzeitige amerikanische Außenminister Colin Powell, der diese Vorstellung vor der Weltöffentlichkeit abgeliefert hatte, reuig, weil wohl selbst belogen, bestätigte.
Nun also haben die USA und ihre kriegsgetreuen Gefolgsleute in London und Paris erste Raketen auf Syrien abgeschossen. Der Grund: von Assads Truppen zuvor eingesetztes Giftgas. Noch liegen dafür wieder einmal keine zweifelsfreien Beweise vor, was aber auch eine deutsche Kanzlerin nicht davon abhält, die Angriffe als „erforderlich und angemessen“ zu bezeichnen. Dass man ihr bis jetzt wohl zugutehalten kann, ihre seinerzeitige Solidaritätserklärung, die sie als verantwortungsferne Oppositionspolitikerin Bush 2003 einst beteuerte, heute nicht so blanko zu widerholen und so zumindest in diesem Falle Deutschland aus eigener militärischer Involvierung heraushält – man freut sich ja schon über so wenig…
Wenn auch zum Glück (noch?) nicht direkt zu einem heißen Krieg, aber zur Schürung einer Kriegspsychose, in diesem Falle gegen Russland, trägt seit nun bereits Wochen die Anklage gegen Moskau bei, seinen Exagenten Skripal in London mit einem Nervengift ermordet zu haben. Keiner der „Beweise“, auf die eine May, ein Trump oder auch eine Merkel verweisen – merkwürdiger Weise immer nur in Formulierungen wie „mit höchster Wahrscheinlichkeit“ gekleidet, liegt bisher vor. Einen Trump, noch erheblich mehr Psychopath als seine Vorgänger aus der Bush-Dynastie, hat das bereits genügt, um per Twitter Moskau und der Welt mitzuteilen: „Mach dich bereit, Russland, weil sie kommen werden [die US-Raketen – d.A.], hübsch und neu und intelligent!“.
Vorkriegserklärung per Twitter; das Internet hat der politischen Lüge einen unschlagbaren Aktionsradius verschafft. Wahrheit und Lüge werden immer weniger unterscheidbar. Das lässt nichts Gutes ahnen. Würde das Lügen beim Menschen ebenso umgehend bestraft werden wie im Falle des armen Pinocchio, müsste es bereits heute vor Menschen mit langen und spitzen Nasen nur so wimmeln, allem voran in der Politik.
Nun soll hier angemerkt sein, dass diese in erster Linie an Erinnerung gemahnende, aber keineswegs vollständige Auflistung eines nicht sein soll: Eine Blanko-Bestätigung dafür, das Verschwörungsliebhaber hinter jedem und allem Geschehen umgehend mit der Gewissheit eines geheimdienstlichen Hintergrundes operieren können. Denn was oft zutrifft, muss es nicht in jedem Fall. Zumal sich mittlerweile herumgesprochen haben sollte, dass die Welt der Politik samt deren Protagonisten sich ohnehin nicht simpel in „Gute“ und „Schlechte“ einteilen lässt, woraus sich die Kausalitäten aller möglichen politischen Abläufe und Erklärungen dann ganz von allein ergäben.
Die Suche nach der Antwort auf die Frage, des „Cui bono“ ist vermutlich der einzig leidlich verlässliche Anhaltspunkt für den, dem trotz des jeweils – nicht zuletzt medial – ausgeblasenen Nebels an Erkenntnis gelegen ist. Würde sich dabei Resignation durchsetzen, hätten all jene Kräfte, die die Menschheit via Fälschungen und Lügen immer wieder mit Gewalt, nicht zuletzt mit Kriegen überziehen, final gesiegt.

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“Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und jeden Beweis ist ein sicheres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen. Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie. Die religiösen Schriften und Gesetzbücher aller Zeiten haben sich stets einfacher Behauptungen bedient. Die Staatsmänner, die zur Durchführung einer politischen Angelegenheit berufen sind, die Industriellen, die ihre Erzeugnisse durch Anzeigen verbreiten, kennen den Wert der Behauptung.“ (Gustave Le Bon, Psychologie der Massen)