Spanischer Bürgerkrieg und Vergangenheitsbewältigung

Geschichtspolitik und Erinnerungsansprüche in der Demokratie 1975-2005

Im öffentlichen Umgang mit Vergangenheit erfreuen sich Begriffe wie "Erinnerung" und "Erinnerungskulturen" seit einigen Jahren außerordentlicher Popularität. In zahlreichen Debatten wird - auf ...

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nationaler wie auf internationaler Ebene - um Erinnerungen und Erinnerungskulturen gestritten. Dabei haben Erinnerungen keineswegs nur eine individuelle, sondern - so läßt sich im Anschluß an Maurice Halbwachs und Jan Assmann sagen 1 - vor allem auch eine soziale Funktion. Sie sind gruppenbezogen, können Gruppen prägen und zur Gemeinschaft machen, kurzum: sie können Identitäten stiften. Und genau diese gesellschaftspolitische Dimension läßt sie zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft werden. Die unter dem Begriff der Erinnerungskultur subsumierten Phänomene sind allerdings derart vielfältig, daß es sich lohnt, nach Akteuren, Formen und Funktionen zu differenzieren. Zu unterscheiden ist etwa zwischen dem instrumentellen Gebrauch von Vergangenheit im Sinne der "Geschichtspolitik", der oftmals im Dienste konkreter politischer Interessen steht, und einem auf Überwindung historischer Erblasten durch rechtliche und justizielle Maßnahmen abzielenden Umgang mit Vergangenem, für den sich der Begriff der "Vergangenheitspolitik" eingebürgert hat. Eine dritte Dimension betrifft schließlich die kollektiven Erinnerungen, die oftmals den Zielpunkt von Geschichts- und Vergangenheitspolitiken darstellen, von diesen jedoch niemals vollständig kontrolliert werden können.2

Der folgende Beitrag beschäftigt sich unter diesen drei Gesichtspunkten mit dem spanischen Fall. Dieser Fall unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von anderen europäischen Beispielen: Der Krieg, der den Kernbestand der hier behandelten Erinnerungskultur darstellt, war in erster Linie ein Bürgerkrieg. Er wurde zwar von Anfang an internationalisiert, in seinem Ursprung und seiner historischen Bedeutung war er aber ein primär innerspanischer Konflikt. Dies ist bei jeder Betrachtung des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) zu berücksichtigen. Auf den Krieg folgte sodann kein politisches System, das die Aufarbeitung dieses Krieges ermöglicht oder gar gefördert hätte. Ganz im Gegenteil: Es folgte eine jahrzehntelange Diktatur (1939-1975), die eine brutale Repression ausübte und nur eine höchst einseitige Beschäftigung mit dem Krieg zuließ. Toleriert wurde ausschließlich die Perspektive der Sieger. Als schließlich, nach dem Tod des Diktators (1975) und dem allmählichen Übergang in die Demokratie, die Sicht der Unterlegenen zum Tragen kommen konnte, ging die Erinnerung an den Krieg einher mit der Erinnerung an Diktatur und Unterdrückung. Diese Aspekte ließen und lassen sich nicht trennen.

Bestimmte politisch-kulturelle Kontexte scheinen geradezu "Erinnerungsschübe " zu bewirken. Im spanischen Fall ist dies ganz offensichtlich. Denn während in der Phase der Transition - aus weiter unten näher zu erläuternden Gründen - die Erinnerungskulturen eher ein Schattendasein führten, erfolgte um die Jahrtausendwende, während der zweiten Legislaturperiode der konservativen Regierung des Partido Popular, ein Erinnerungsschub, der - bis heute - eine außergewöhnliche Beschleunigung in der Verarbeitung von Krieg und Diktatur zur Folge hatte. Wie Krieg und Franquismus erinnert werden sollten, bewegte plötzlich - viel mehr als in den zwei vorhergehenden Jahrzehnten - die Öffentlichkeit.

In Spanien gibt es Platz für viele Erinnerungen - sowohl seitens der Sieger als auch der Besiegten. Diesen Platz gilt es zu füllen, und die neueste Erinnerungsoffensive trägt dem Rechnung. Sie ist im eigentlichen Sinn keine Spätfolge von Verdrängung und dem viel zitierten "Schweigepakt" der Transition, sondern Teil jenes Gedächtnisbooms, der seit einigen Jahren zu beobachten ist. Sie folgt den spezifischen politischen Konjunkturen dieses Gedächtnisses, das sich schwerpunktmäßig mit den Opfern auf der republikanischen Seite beschäftigt.

Ein Blick zurück: Franco-Regime und Erinnerungspolitik
Bevor im folgenden auf die Geschichtspolitik und die Erinnerungsansprüche in der spanischen Demokratie (1975-2005) eingegangen wird, soll einleitend kurz die Erinnerungsgeschichte des Bürgerkriegs in den knapp vierzig Jahren franquistischer Diktatur angesprochen werden, die oftmals eher einer Geschichte ihrer politischen Instrumentalisierung glich. Vergangenheit ist schon immer für politische Zwecke der Gegenwart in die Pflicht genommen worden. Erinnerung und die öffentliche Inszenierung von Erinnerung waren und sind somit eminent politisch. Die vollständige Niederlage der Republikaner 1939 führte zu einer ebenso totalen erinnerungspolitischen Neuorientierung. Traditionspflege hatte fortan aus der Sicht der Sieger zu erfolgen.

Erinnerungspolitik betrieben die Franquisten vom ersten Tag des Bürgerkrieges an. Sie bemächtigten sich sofort des öffentlichen Raums, eliminierten demokratische Symbole, änderten Straßen- und Ortsnamen, richteten Feierlichkeiten und Kundgebungen aus. Sie unternahmen vielfältige Anstrengungen, um durch symbolische Politik ihre Herrschaft zu legitimieren und das entstehende Regime zu stabilisieren. Von Anfang an und dann während der gesamten Franco-Ära versuchte das Regime durch damnatio historiae, jegliche historische Erinnerung, die sich nicht in die Tradition des Aufstandes vom 17./18. Juli 1936 einreihen ließ, auszuschalten: physisch durch Ermordung aller exponierten Kräfte der republikanischen Seite, politisch durch kompromißlose Machtaufteilung unter den Siegern, intellektuell durch Zensur und Verbote, propagandistisch durch einseitige Indoktrinierungen, kulturell durch Eliminierung der Symbole jenes angeblichen "Anti-Spanien", das in zermürbender Langsamkeit drei Jahre lang bis zur bedingungslosen Kapitulation bekämpft worden war. Es ging den Siegern immer darum - mal direkt und brutal, mal vermittelt und subtil -, ihre Herrschaft in die Tradition einer weit zurückreichenden, glorreichen Vergangenheit einzuordnen und sich selbst in der historischen Kontinuität imperialer Großmachtpolitik zu präsentieren.3

Die Erinnerungspolitik umfaßte Zeit und Raum gleichermaßen. Was die Zeit betrifft, begann das "nationale" Lager sogar eine neue Zeitrechnung: 1936 hieß "Erstes Triumphjahr" (Primer Año Triunfal), 1939 "Siegesjahr" (Año de la Victoria). Im übrigen wurde ausführlich aus der Geschichte geschöpft, vor allem aus den Epochen, die als die Glanzzeit Spaniens gedeutet wurden: das ausgehende 15. Jahrhundert unter der Herrschaft der Katholischen Könige, sodann das imperiale 16. Jahrhundert mit Karl V. und Philipp II. als dominierenden Monarchen. Die folgenden Jahrhunderte der Dekadenz, vor allem auch das 19. Jahrhundert als Zeitalter des negativ gedeuteten Liberalismus, wurden weitgehend ausgeblendet.

Was den Raum betrifft, so ergriffen die neuen Machthaber von der Topographie symbolisch Besitz, indem die Namen von Orten, Straßen, Gebäuden, Institutionen geändert und mit neuen historisch-politischen Assoziationen versehen wurden. Der traditionelle Dom der Schutzheiligen Spaniens, der Virgen del Pilar in Zaragoza, wurde zum "Heiligtum der Rasse"; die meisten Hauptstraßen erhielten die Namen Avenida del Generalísimo oder Avenida de José Antonio Primo de Rivera. Bei der Ritualisierung der politischen Erinnerung spielte die Kirche viele Jahre hindurch eine wichtige Rolle.

Die franquistische Erinnerungspolitik diente einem einzigen Zweck: das eigene Regime zu legitimieren, es als quasi selbstverständliche Konsequenz der Entwicklung in der Tradition der glorreichen spanischen Geschichte zu verankern, zugleich die Erinnerung an die Gegenseite - die Liberalen und die Demokraten, Sozialisten und Kommunisten, Freimaurer und Juden Â… - auszulöschen.

Die Verdrängung der Geschichtserinnerung
Nach dem Ende der Franco-Ära konnte das Land erstaunlich schnell den Übergang in die Demokratie bewältigen. Während des Franquismus und danach war der Bürgerkrieg im politischen und historischen Diskurs stets obligater Bezugspunkt; kaum jemand versäumte es, auf den Ursprung des Franco-Regimes im Krieg hinzuweisen. Und der nach 1975 einsetzende Boom an Bürgerkriegsliteratur entsprach einem verbreiteten Bedürfnis in weiten Bevölkerungskreisen nach Information und Aufklärung, nachdem in den Jahrzehnten zuvor die Geschichtsschreibung vielfach zur Legitimation des Siegerregimes instrumentalisiert worden war.4

Es stand zu erwarten, daß im demokratischen Spanien an den Jahrestagen des Bürgerkrieges verstärkte Aktivitäten stattfinden würden, um dem Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Bürger nachzukommen. Die Jahrestage 1976/1979 fielen allerdings voll in die politisch aufgewühlte Transitionsphase; sowohl die Politiker als auch die Zivilgesellschaft mußten all ihre Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demokratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen war und seit 1982 die Sozialistische Partei unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 zum ersten Mal im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, ohne staatlich verordnete ideologische Vorgaben des Bürgerkriegsbeginns vor 50 Jahren zu gedenken. Zweifellos gab es 1986 auch öffentliche Veranstaltungen, die an den Bürgerkriegsbeginn erinnerten (während der Jahrestag des Kriegsendes 1989 praktisch unbeachtet verstrich); aber gemessen an der überragenden Bedeutung, die dieser Krieg für das Spanien der Gegenwart hat, hielten sich die Rückblicke eher in Grenzen. Die meisten Veranstaltungen waren ohnehin in die eher "entschärfte" Domäne der Historiker übergegangen. Denn darin waren sich nahezu alle politisch und wissenschaftlich Verantwortlichen einig: Keine erneuten Rechtfertigungen, sondern Erklärungen waren gefragt; nicht die Opas, die den Krieg geführt hatten, sondern die jungen Akademiker, die ihn nur über Quellen und Literatur kannten, waren die Protagonisten der Veranstaltungen. Und auf diesen selbst wurde immer wieder mahnend dazu aufgefordert, "objektiv" und "historisch distanziert" zu argumentieren, da man doch über ein längst vergangenes Ereignis spreche, das seit langem schon Teil der "Geschichte" sei.

Ergebnis dieser Tagungen und Kongresse waren mehrere Sammelbände, die ein weitgehend ausgewogenes Bild des Bürgerkrieges präsentierten; verbreitete historische Zeitschriften (etwa Historia 16) und Tageszeitungen mit hohen Auflagen (El País u. a.) brachten vielfältige Bürgerkriegsbeiträge.5 Im Gegensatz zu diesen historiographischen Beiträgen ließ sich das "offizielle" Spanien so gut wie nicht vernehmen. Im Juni 1986, wenige Wochen vor dem eigentlichen Jahrestag des Bürgerkriegbeginns, standen Parlamentswahlen auf der politischen Tagesordnung, bei denen es für die regierende Sozialistische Partei um den Erhalt ihrer absoluten Mehrheit ging, und in dieser politisch heiklen Situation durften Wähler der Mitte und der gemäßigten Rechten nicht verunsichert oder gar verschreckt werden, indem öffentlich und über Massenmedien auf die Spaltung der spanischen Gesellschaft in den dreißiger Jahren hingewiesen wurde. Damals war ja die Sozialistische Partei eindeutig auf dem linken Spektrum des politischen Lebens angesiedelt gewesen.

Die einzige Verlautbarung aus dem Moncloa-Palast - Ministerpräsident Felipe González verkündete sie als Regierungschef aller Spanier, nicht als Generalsekretär der Sozialistischen Partei - besagte, der Bürgerkrieg sei "kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellte". Inzwischen sei der Krieg jedoch "endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier"; er sei "nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert".6

Sicherlich sind derartige Äußerungen in Zusammenhang mit dem demokratischen Neuaufbau nach 1975 und dem Schlüsselwort beim Abbau der Diktatur zu sehen: consenso, Zusammenwirken aller. Die traumatische Erfahrung von Bürgerkrieg, brutalster Gewaltausübung und gesellschaftlicher Spaltung dürfte unausgesprochen den Hintergrund vieler Haltungen und Maßnahmen in der Übergangsphase zur Demokratie gebildet haben: für die Akzeptierung der Monarchie durch die republikanischen Sozialisten, für die gemäßigten Positionen der Kommunisten, für das Zusammenwirken aller politischen Kräfte bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Die neue Demokratie sollte nicht von einem Teil gegen den Willen des anderen, sondern möglichst unter Mitwirkung aller politischen Lager aufgebaut werden. Voraussetzung hierfür aber war die Wiederversöhnung aller ehemals verfeindeten Lager. Nicht alte, noch ausstehende Rechnungen sollten beglichen, sondern ein endgültiger Schlußstrich unter die Kämpfe und Feindschaften der Vergangenheit gezogen werden. Dieser Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die regierenden Sozialisten - die zu den Hauptverlierern des Bürgerkrieges gehörten! - mitbewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja: zu verdrängen, und außerdem politisches Verständnis für die ehemals "andere" Seite zu zeigen. Weiter heißt es nämlich in der Moncloa-Erklärung, die Regierung wolle "die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung - und viele mit ihrem Leben - zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben"; zugleich gedenke sie "respektvoll jener, die - von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien - für eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten ". Die Regierung hoffe, daß "aus keinem Grund und keinem Anlaß das Gespenst des Krieges und des Hasses jemals wieder unser Land heimsuche, unser Bewußtsein verdunkle und unsere Freiheit zerstöre. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, daß der 50. Jahrestag des Bürgerkrieges endgültig die Wiederversöhnung der Spanier besiegle."

Die bis 1996 regierenden Sozialisten griffen auf die Erblast der Angst als Folge des Krieges zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern, um keine radikalen Veränderungen vorzunehmen, die möglicherweise die Stabilität des Systems gefährden könnten. Die in Spanien nach 1975 relativ schnell erreichte Stabilität hatte ihren politischen und moralischen Preis, der soziopolitische Friede mußte erkauft werden.7 Das Überleben des franquistischen Symbolsystems erinnerte daran, daß die politische Reform aus einem Pakt hervorgegangen war, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet wurde und schließlich zur Transition führte.

Die Tatsache, daß es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die von Pierre Nora "Orte des Gedächtnisses " genannt werden.8 Die transición stellte eine Art Ehrenabkommen dar, durch das die Kompensation der Franquisten für die Übergabe der Macht in der Praktizierung einer kollektiven Amnesie erfolgte. Dies gilt nicht nur für die konservativen Übergangsregierungen der Jahre 1977-1982; dies ist nicht weniger gültig für den Partido Socialista Obrero Español: Mit ihrer Geschichtslosigkeit setzte die spanische Sozialdemokratie den in der Franco-Zeit erzwungenen Gedächtnisverlust des Volkes fort. In beiden Fällen diente die Marginalisierung und Verdrängung von Geschichte der Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse.

Ein weiterer wichtiger Grund für die offizielle Verdrängung des Bürgerkrieges dürfte in dem ideologischen Konsens gelegen haben, der in den Jahren der Transition und des darauf folgenden ökonomischen Aufschwungs die spanische Gesellschaft bestimmte und der auf die Begriffe Modernisierung und Europäisierung gebracht werden kann. Hintergrund der Fortschrittsgläubigkeit, des extrovertierten Konsumrausches und der ungezügelten Europa-Euphorie jener Phase war ein tiefsitzender Minderwertigkeitskomplex gerade in bezug auf diesen Fortschritt und dieses Europa, von dem das Franco-Regime sich zuerst bewußt abgekoppelt hatte ("Spanien ist anders") und von dem es zuletzt aus politischen und ökonomischen Gründen ferngehalten worden war. Philosophen, Schriftsteller und Politiker haben sich immer wieder die Frage nach den Gründen für Spaniens "Rückständigkeit " gestellt. Der Bürgerkrieg gilt in dieser Debatte als das historische Ereignis, durch das die Rückständigkeit der Spanier am klarsten zum Ausdruck kam, der Schlußpunkt in einer ganzen Reihe fehlgeschlagener Modernisierungsversuche.

Die Folge des Bürgerkrieges, die Installierung des Franco-Regimes, führte nach 1945 zum Ausschluß Spaniens aus der internationalen Staatengemeinschaft, zur Ächtung und zum wirtschaftlichen Boykott. Minderwertigkeit, Isolierung und Spaltung in Sieger und Besiegte wurden in Spanien mit dem Bürgerkrieg und seinen Folgen assoziiert. Die Öffnung des Landes zur Demokratie, zu Fortschritt und zu Europa war eine bewußte Abkoppelung von dieser unerwünschten Vergangenheit.

In nahezu allen Kommentaren über das Bewußtsein der spanischen Bevölkerung in bezug auf den Bürgerkrieg wurde in den achtziger Jahren auf die Indifferenz vor allem der Jugend gegenüber der jüngsten Vergangenheit hingewiesen. Amtliche Stellen zeigten ein auffälliges Desinteresse, diesen Zustand zu ändern: König und Regierung sprachen vor allem von Wiederversöhnung, staatliche Instanzen predigten unaufhörlich das Thema Europa. Im Jahr 1986 beging Spanien nicht nur den 50. Jahrestag des Bürgerkriegsbeginns; es war auch das Jahr, in dem das Land Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaften wurde und sich endgültig für den Verbleib in der NATO entschied. Hatte der Bürgerkrieg den (erneuten) Beginn eines historischen "Sonderwegs" markiert, so stellte spätestens das Jahr 1986 die Rückkehr Spaniens zur europäischen "Normalität" dar.

Sicher hing die Geschichtslosigkeit der jüngeren Generationen auch mit der jahrzehntelangen Instrumentalisierung von Geschichte im Franquismus zusammen, die im Nach-Franquismus in Gleichgültigkeit oder sogar in Ablehnung umschlug. In diesem Zusammenhang verdienen die Überlegungen des Philosophen José Luis L. Aranguren referiert zu werden, der davon sprach, daß die nachfranquistische Gesellschaft Spaniens eine neue Beziehung zu ihrer Geschichte eingegangen sei, daß sie keine Dogmen mehr übernommen habe, sich von der Vergangenheit distanziere (im Gegensatz zur früheren Identifizierung) und in ihrer kollektiven Erinnerung eine Wende vollzogen habe.9 Diese "historische Mutation" hänge damit zusammen, daß die Spanier früher vom Gewicht eines "Volkes mit Universalgeschichte" erdrückt worden seien.

Die vorherrschende spanische Kultur war zu Beginn der Neuzeit, im literarisch glänzenden "Siglo de Oro", eine Kultur der Gegenreformation, später dann eine Kultur der Antimodernität. Der Franquismus kann als letzter Versuch betrachtet werden, zumindest in seiner Frühphase sich in diese Tradition der Antimodernität einzureihen. Die "prämodernen" Kulturelemente gingen in der Spätphase des Franquismus, seit dem Wirtschaftsboom der sechziger Jahre, rapide verloren. Der Verlust erzeugte nicht so sehr einen expliziten Anti-Franquismus als vielmehr einen Nicht-Franquismus, eine Skepsis gegenüber der Politik, die zwar in den ersten Jahren nach 1975 einem bewußten Engagement wich, sehr schnell jedoch wieder zur distanzierten Skepsis wurde, als die Hauptziele des friedlichen Wandlungsprozesses - die Sicherung der Demokratie und eine Übertragung der Macht an die linke Mitte - erreicht zu sein schienen.

Auf der Grundlage derartiger Überlegungen könnte es für das offizielle Verdrängen des Bürgerkrieges und das äußerst laxe Umgehen mit den franquistischen Symbolen im Übergangsprozeß in die Demokratie somit auch eine weit einfachere als die politisch-ideologische Erklärung geben: Es stellt sich die Frage, ob die vom Franquismus propagierten Werte in der spanischen Gesellschaft überhaupt je Fuß gefaßt haben, ob die Symbole und die Ästhetik des Regimes mehr als resigniert-unbeachtet hingenommene Oberflächensymptome waren. Die Ideologie des Regimes - wenn es sie denn je gegeben hat - war spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahre einem steten Auflösungsprozeß unterworfen gewesen; in den Schlußjahren der Diktatur war sie praktisch inexistent. Eine gewaltsame Auseinandersetzung mit dieser Ideologie, mit den Symbolen und den äußeren Merkmalen des franquistischen Regimes war nach 1975 deshalb nicht nötig; es handelte sich ohnehin nur noch um inhaltsleere Hüllen, die kaum jemand mehr ernst nahm. Auch das erklärt die Art, wie die spanische Gesellschaft lange Zeit mit ihrer diktatorischen Vergangenheit umging. Sie betrachtete sie als überlebt und gab sie dem Vergessen anheim.

Über den Bürgerkrieg, noch mehr sogar über die ersten Jahre der Franco-Ära, legte sich zumindest im politischen Diskurs für längere Zeit eine Decke des gesellschaftlichen Schweigens; wahrscheinlich erachteten es die Demokratisierungs-Generationen nicht für ratsam, auf eine derart konfliktbeladene Epoche zurückzublicken. Auf dem Altar der Ausgleichsmentalität wurden auch jene Gedenkveranstaltungen geopfert, die viele von der Regierung 1986 bzw. 1989 oder auch 1996 erwartet hatten. Statt dessen lautete die offizielle, nach beiden Seiten hin gleichermaßen abgesicherte Parole: "Nie wieder!" Der Bürgerkrieg wurde als "Tragödie" bewertet, als Krise, die den Zusammenbruch aller Werte des Zusammenlebens heraufbeschwor; nicht von den Gründen und Verantwortlichkeiten für diese Tragödie war die Rede, sondern von den Folgen der "tragischen Krise".

Im Sommer 1983 ließ die Zeitschrift Cambio 16 eine repräsentative Umfrage über den Bürgerkrieg durchführen.10 Danach bezeichneten 59 % der Befragten den Bürgerkrieg als ein Thema von Interesse, und 57 % hielten den Krieg für das wichtigste Ereignis zum Verständnis des gegenwärtigen Spanien; zugleich hielten sich aber 76 % für schlecht informiert. Fast drei Viertel aller Befragten (73 %) sahen im Bürgerkrieg eine beschämende Epoche in der Geschichte Spaniens, die besser vergessen werden sollte; genau die Hälfte der Befragten war der Meinung, daß auf beiden Seiten für die Freiheit und den Fortschritt Spaniens gekämpft worden war, und ganze 48 % stimmten der Auffassung zu, daß alle Handlungen Francos ihren Beweggrund in seiner großen Liebe zu Spanien hatten. Auf die Frage: "Wenn Sie heute Partei ergreifen müßten: Für welche von beiden Seiten wären Sie zu kämpfen bereit?", antwortete fast die Hälfte (48 %): für keine von beiden.

Die Antworten dieser Umfrage der achtziger Jahre lassen das Ausmaß deutlich werden, in dem der Krieg das Bewußtsein der Nachfolgegenerationen geprägt hat, die ihn längst nicht mehr erlebt haben. Zum Zeitpunkt der Umfrage bestand die große Mehrheit des spanischen Volkes aus jenen, die den Krieg nur in seinen Folgen erlitten hatten. Und jene überwältigenden 73 %, die den Krieg für eine beschämende Epoche hielten, die besser vergessen werden sollte, drückten mit dieser Meinung ihr Interesse daran aus, nicht auf die alten Kriegsgeschichten zurück-, sondern von der versöhnten Gegenwart aus in die europäische Zukunft vorauszublicken.

Zwischen Erinnern und Vergessen: Das Spanien der Republik
Nach dem Tod des Diktators war die Amnestiefrage rasch zu einem Hauptanliegen der Opposition und deren Lösung zugleich zur politischen Bewährungsprobe für das Regierungslager geworden. Die Forderung nach einer umfassenden Amnestie wurde gleichsam zum Kristallisationspunkt für alle Veränderungswünsche. Da die Amnestie sich auf die Taten beider Seiten erstreckte und deren symbolische Bedeutung als Hauptakt der nationalen Versöhnung nicht gefährdet werden sollte, durften keine einseitigen Schuldzuweisungen erfolgen. Das gesamte politische Spektrum bekannte sich zu einer "Amnestie aller für alle" - so der baskische Nationalist Xavier Arzallus -, die ein besonders leidvolles Kapitel der spanischen Geschichte besiegeln und die Grundlage für einen Neuanfang legen sollte.11

Bilanziert man diesen vergangenheitspolitischen Schlußstrich im Lichte der Bürgerkriegskategorien, so kann die Versöhnungsrhetorik nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Lager der "Verlierer" insgesamt einen deutlich höheren Preis für die Wiedergewinnung der Demokratie zu zahlen hatte. Denn zur Niederlage im Krieg und deren unmittelbaren Folgen gesellte sich in der Regel die politische und sozialökonomische Diskriminierung von knapp 40 Jahren Diktatur. Die offizielle Anerkennung der einstigen Verlierer als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft war jedoch nicht allein mit juristischen Mitteln zu bewerkstelligen. Vielmehr galt es auch, das einst unterlegene Spanien in seiner Identität ernst zu nehmen und dessen besondere Geschichte als einen integralen Bestandteil der, wenn man so will, "nationalgeschichtlichen" Erfahrung zu begreifen. Die Wiederaufnahme der Republikaner in den Schoß der postfranquistischen Gesellschaft stand somit offenkundig unter der Bedingung, die Kämpfe von gestern und selbst die Erinnerung daran im Exil zu lassen. Und wer hierzu nicht bereit war, blieb letztlich außerhalb des politischen Konsenses.

Über diesen Verzicht auf Erinnerung wird bis heute spekuliert, und manche Kritiker sehen hier anstelle von kluger Zurückhaltung im Interesse von Freiheit und Demokratie eher die verbreitete Furcht der Opposition vor dem alten Establishment am Werke. Nicht zufällig ist daher in der Rückschau oftmals von einem "Pakt des Schweigens" der Eliten, gar von "kollektiver Amnesie" die Rede gewesen. Dagegen hat der Historiker Santos Juliá klargestellt, daß die Vergessensrhetorik der Transition keineswegs mit einem praktizierten Beschweigen der Vergangenheit gleichgesetzt werden kann. Denn die politische Öffentlichkeit redete und erinnerte sich tatsächlich unermüdlich, wenn auch die Art dieser Erinnerungsrhetorik vor allem darauf abzielte, den Bürgerkrieg und seine Folgen von der politischen Debatte fernzuhalten.12 Was heute wie ein Verzicht auf Erinnerung erscheinen mag, war der letztlich erfolgreiche Versuch, die explosive Wirkungsmacht der Vergangenheit rhetorisch zu neutralisieren.

Charakteristisch hierfür waren Distanzierungsstrategien, mit denen die traumatische Erfahrung der dreißiger Jahre in möglichst weite Ferne zur Gegenwart geschoben wurde. Der erste Schritt mentaler Distanzierung war bereits mit der Anerkennung des Krieges als "Bruderkrieg" und "nationale Tragödie" erfolgt. Die Kollektivschuldthese verhinderte nicht nur die späte Aufrechnung politischer Verbrechen, sondern auch die öffentliche Anerkennung der Tatsache, daß die politische Repression auf franquistischer Seite bedeutend mehr Opfer gefordert hatte. Politischer Mord, Unterdrückung, Exil und Zwangsarbeit, kurzum, die Leidensgeschichte des republikanischen Lagers verwandelte sich so in einen hochsensiblen Sperrbereich des öffentlichen Diskurses, der nur selten betreten wurde.

Zur Repolitisierung der Vergangenheit in der Regierungszeit der Konservativen
Auf die lange Regierungszeit der Sozialisten folgte 1996 der Wahlsieg des konservativen Partido Popular, dessen Vorsitzender José María Aznar vier Jahre lang einer Minderheitsregierung vorstehen und weitere vier Jahre mit absoluter Mehrheit regieren sollte. Das neue Selbstbewußtsein der Rechten, das proportional zur Krise der Sozialisten im Verlauf der 90er Jahr gestiegen war, sollte nicht ohne Folgen für die Geschichtspolitik insgesamt und den Blick auf die jüngste Vergangenheit im besonderen bleiben. Sichtbar wurde dies allerdings erst mittelfristig. Als neu erwiesen sich zunächst der Nachdruck und die Lautstärke, mit der eine ultrakonservativ aufgeladene Vergangenheitsdeutung zu dieser Zeit in die politische Öffentlichkeit drängte. Dabei ging es nicht nur um Teilaspekte, sondern letztlich um die Deutungshoheit über den Bürgerkrieg insgesamt.

Getarnt als Kampf gegen die vermeintliche Usurpation der Geschichte des Bürgerkrieges durch die Linke, zielte eine revisionistische Rechte mit ihren Arbeiten praktisch auf die Gesamtheit der universitär verankerten, kritischen Gesellschaftsgeschichte. Als Antwort auf das von zahllosen Einzelstudien geformte, fachhistorische Bild des Bürgerkrieges warteten die Revisionisten mit mehreren Titeln auf, deren generelle Tendenz in der Minimierung der Verantwortlichkeiten der Aufständischen lag, während die Handlungen des gegnerischen Lagers regelmäßig zu einem apokalyptischen Schreckbild gesteigert wurden. Zentraler Fluchtpunkt war hierbei stets die sogenannte Oktoberrevolution von 1934, jener Aufstandsversuch, der wie kein anderes Ereignis der kurzen republikanischen Phase die mangelnde Republiktreue der Linken belegen sollte. Und indem man den Ausbruch des Bürgerkrieges gleichsam auf diese Ereignisse vordatierte, avancierte der 18. Juli 1936 zu einer Aktion konterrevolutionärer Selbstverteidigung.

Hatte der 50. Jahrestag noch ganz im Zeichen fachhistorischer Eintracht gestanden, so kündigte sich also zehn Jahre später das Wiederaufleben ideologisch verzerrter Vergangenheitsdeutungen und damit auch das Ende der in der Transition erlernten, geschichtspolitischen Zurückhaltung an.

1999 legten die Oppositionsparteien einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor, mit dem 60 Jahre nach Kriegsende das Andenken der Bürgerkriegsexilanten geehrt und Gelder für Entschädigungszahlungen bereitgestellt werden sollten. Neben dieser Würdigung des Exils zielte der Gesetzentwurf aber auch auf eine "offizielle" Neubewertung der Kriegsschuldfrage, insofern diese erstmals auf die Verantwortlichen jenes "faschistischen Militärputsches gegen die republikanische Legalität" zugespitzt wurde. Damit aber verabschiedete sich der Text von der bisher gültigen Sprachregelung des offiziellen Spanien, die eine auf beide Lager gleichmäßig verteilte Kollektivschuld unterstellte.

Im Regierungslager war man keineswegs bereit, sich der neuen Sicht der Dinge anzuschließen. Zwar erklärten sich die Konservativen mit einem eigenen Vorschlag bereit, die Ehrung der "Opfer" zu unterstützen. Bürgerkrieg und Diktatur aber seien "überwundene Perioden", deren Ursachen nicht zur politischen Debatte stehen dürften.13 In ihrer zweiten Legislaturperiode sahen die Konservativen sich sodann mit zahlreichen Anträgen und Initiativen der Opposition konfrontiert. Diese "entdeckte" in der Frage der Vergangenheitspolitik plötzlich eine neue politische Arena: In regelmäßigen Abständen legten Sozialisten und "Vereinigte Linke" von nun an Gesetzesinitiativen vor, die mit der Forderung nach Rehabilitation und Entschädigung nacheinander die verschiedenen Opfergruppen der Franco-Diktatur ins Spiel brachten. Mehr als der Sache selbst diente diese als Feldzug "gegen das Vergessen" deklarierte Kampagne aber wohl dazu, den moralischen Druck auf die Regierung zu erhöhen und diese zum Schwur zu zwingen.

Die Aussichten auf eine staatliche Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten blieben zunächst gering, zumal alle Umfragen für die im März 2004 anstehenden Parlamentswahlen eine Bestätigung der Konservativen im Amt voraussagten. Bekanntlich waren es dann aber die Madrider Terroranschläge vom 11. März, in deren Folge das politische Meinungsbild im Lande in kürzester Zeit umstürzte und die oppositionellen Sozialisten unverhofft den Sieg davontragen konnten. Dieses unerwartete Ergebnis weckte auf seiten der Bürgerinitiativen berechtigte Hoffnungen, denn nach dem parlamentarischen Engagement in Sachen Vergangenheit in den vorangegangenen Monaten stand der PSOE nun moralisch in der Pflicht.

Die Mobilisierung kollektiver Erinnerung um die Jahrtausendwende
Im Spanien der Jahrtausendwende ist die zeitliche Parallelität eines plötzlich wachsenden gesellschaftlichen Engagements zu beobachten, das im Zusammenspiel mit verschiedenen politischen Akteuren den öffentlichen Umgang mit der Bürgerkriegserinnerung nachhaltig verändert hat. Sucht man auf zivilgesellschaftlicher Ebene nach einem Ausgangspunkt, so fällt der Blick rasch auf den aus León stammenden Lokalreporter Emilio Silva. Anfang 2000 hatte sich dieser auf die Suche nach den sterblichen Überresten seines im Bürgerkrieg verschollenen Großvaters begeben und damit ganz unverhofft einen Stein ins Rollen gebracht.14 Ein Artikel zu seinem Vorhaben, publiziert in einer Lokalzeitung, löste unerwartete Hilfsbereitschaft aus. Zeitzeugen meldeten sich zu Wort, und Archäologen und Gerichtsmediziner boten ihre Hilfe an. Rasch formierte sich eine lokale Bürgerinitiative, die unter dem Namen Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica ("Verein zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung") bald darauf zur Tat schritt. Noch im Herbst desselben Jahres kam es so - nach einer Unterbrechung von rund zwanzig Jahren - im leonesischen Priaranza del Bierzo im Nordwesten Spaniens zur Öffnung eines weiteren Bürgerkriegsgrabes.

Die Exhumierungen von León hatten für das ganze Land eine überraschende Signalwirkung: 25 Jahre nach dem Tod des Diktators rückte plötzlich die Frage nach den desaparecidos, den Verschwundenen des Krieges, ins öffentliche Bewußtsein. Wie selbstverständlich wurde eines der düstersten Kapitel der Zeitgeschichte aufgeschlagen, namentlich jenes der teils spontanen, teils systematischen Gewaltexzesse und Hinrichtungen, die zu Kriegsbeginn und danach auf beiden Seiten der Front durch Städte und Dörfer fegten. Ein jahrelang verborgenes Wissen um die in Straßengräben sowie auf Äckern und Feldern verscharrten Opfer des "nationalen" Lagers brach sich Bahn, und rasch machte die Zahl von 30 000 nicht identifizierten Toten die Runde. Von León ausgehend breitete sich die Bewegung mittels zahlreicher lokaler Initiativen über das ganze Land aus. So zählt die Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica mittlerweile neun regionale Arbeitsgruppen. Darüber hinaus ist eine kaum mehr überschaubare Anzahl weiterer, lokal oder regional verankerter Vereine und Bürgerinitiativen auf den Plan getreten, die - zumeist über das Internet vermittelt - die Interessen von Opfern und Angehörigen vertreten und sich an der Suche nach den Verschwundenen beteiligen. Schon bald folgten daher auch in anderen Regionen Exhumierungen.

Die Vergangenheit drängte auch über andere Kanäle in die Öffentlichkeit. Eine geradezu modische Begeisterung entfaltete sich in der Fachwissenschaft, wo man den inhaltlichen Fokus um all jene Bereiche der republikanischen Geschichte erweiterte, die bisher nur geringe Aufmerksamkeit erhalten hatten. Das größte Interesse aber erregt nach wie vor die franquistische Repression, deren Grausamkeit und Systematik seither bis in die letzten Winkel hinein ausgeleuchtet wird.15

Noch in einem anderen Sinne spielte die Erinnerungskultur eine herausragende, öffentliche Rolle. Denn zur Jahrtausendwende waren die metallenen Zeugnisse der Führer-Verehrung nach wie vor präsent. In Gestalt großer Reiterstandbilder sowie mehrerer Statuen und Bronzebüsten war der Caudillo zu diesem Zeitpunkt auf einigen städtischen Plätzen und Straßen noch immer gegenwärtig. Weniger auffällig, aber noch deutlich weiter verbreitet ist außerdem der Namenskanon von Mitstreitern und Kriegsschauplätzen aus dem Bürgerkrieg, der bis heute das Straßenregister unzähliger Städte und Ortschaften schmückt. Eine quantitative Erhebung zur franquistischen Straßennomenklatur ergab, daß in 79 Prozent der Provinzhauptstädte auch nach mehr als 25 Jahren in Sachen franquistischer Symbolik die Kontinuität vor dem Wandel stand.

Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit von all dem heute noch eine politisch infektiöse Wirkung ausgeht. Eine Tatsache ist aber, daß - mit Ausnahme von Katalonien und dem Baskenland - praktisch im ganzen Land der politische Wille zur Eliminierung derartiger Relikte bisher gefehlt hat. Weniger eindeutig als dieser Befund sind im Einzelfall die zugrundeliegenden Motive. Einzelne Ortschaften waren bekannt für konservative Mehrheiten im Stadtrat, für die der Erhalt franquistischer Symbole offenbar lange Zeit eine Herzensangelegenheit darstellte. Der statistische Vergleich zeigt jedoch, daß auch Städte mit wechselnden oder stabil sozialistischen Mehrheiten nach nunmehr sieben Wahlperioden nicht notwendigerweise ein anderes Bild bieten.

Der lange Fortbestand franquistischer Herrschaftszeichen erscheint symptomatisch für die spanische Vergangenheitspolitik nach 1975. Allerdings hat die neue vergangenheitspolitische Sensibilität unterdessen auch diesen Bereich unbewältigter Zeitgeschichte in den Blick gerückt. Seither haben landesweit ganz unterschiedliche Initiativen die Forderung aufgegriffen und die Zerstörung franquistischer Symbole bisweilen sogar in die eigenen Hände genommen.

Während aber nach Jahrzehnten der Tatenlosigkeit wenigstens die Sozialisten endlich Handlungsbedarf erkannten, entschlossen sich die Konservativen im gereizten Klima ihrer zweiten Amtsperiode nun erst recht zu systematischer Blockadepolitik. Und so geriet auch die nach allen Maßstäben demokratischer Kultur längst überfällige Demontage der franquistischen Regimesymbolik zum Gegenstand neuer Streitereien und zu einem weiteren vergangenheitspolitischen Auftrag an die seit Frühjahr 2004 amtierende Regierung Zapatero.

Ausblick
Die Hoffnung der Bürgerinitiativen, von der Regierung Rodríguez Zapatero rasche finanzielle Unterstützung für ihre Arbeit zu erhalten, ist zwei Jahre nach Amtsantritt weitgehend verebbt. Bis heute liegt das wiederholt angekündigte Gesetz zur Rehabilitierung der franquistischen Opfer nicht vor. Mehrere Versuche von Angehörigen, eine Revision franquistischer (Unrechts-) Urteile zu erreichen, sind von den zuständigen Gerichten abgewiesen worden.

Es ist weitgehend unstrittig, daß von Vergangenheitsarbeit überwiegend positive Impulse für die demokratische Konsolidierung eines Gemeinwesens zu erwarten sind, da sie Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaates schafft. Im spanischen Fall nun fand sich am Anfang der neuen Demokratie ein Generalkonsens der politischen Lager: Alle Seiten verzichteten auf eine allzu explizite Verurteilung der jüngsten Vergangenheit. Die neue Popularität des Erinnerns, die in den letzten Jahren um sich gegriffen hat, hat allerdings die Aussichten auf einen Erinnerungskonsens, auf eine einmütige Verurteilung der jüngeren von Krieg und Diktatur geprägten Vergangenheit eher erschwert. Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt somit, daß in Spanien eine kritische Aufarbeitung der Geschichte offenbar nur um den Preis verschärfter politischer Konfrontationen und einer Art Lagerbildung zu haben ist. Bestätigt diese Erkenntnis nachträglich die politische Klugheit des "Schweigepaktes" der Transition?

Walther L. Bernecker - Jg. 1947, Prof. Dr., Historiker, Lehrstuhl für Auslandswissenschaft an der Universität Nürnberg- Erlangen; neuere Veröffentlichungen: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München (3. Auflage) 1997, Krieg in Spanien 1936 - 1939, Darmstadt (2. Auflage) 2005, spanische Ausgabe 2006, zusammen mit Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936 - 2006, Nettersheim: Verlag Graswurzelrevolution 2006.

1 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 34 ff.; Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985.

2 Vgl. Julia Macher: Verdrängung um der Versöhnung willen?, Bonn 2002, S. 8 f.

3 Vgl. hierzu Walther L. Bernecker, Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, Nettersheim 2006, S. 151-227.

4 Zur Transition vgl. Walther L. Bernecker: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München 1997, S. 213-232.

5 Vgl. etwa die monographischen Sondernummern zum Spanischen Bürgerkrieg folgender Zeitschriften: Cuenta y Razón Nr. 21, Sept.-Dez. 1985; Arbor Nr. 491/492, 1986; Studia Historica Nr. 4, Bd. III, 1985; Letras de Deusto, Bd. 16, Nr. 35, Mai-Aug. 1986; Aportes Nr. 8, Juni 1988; als Tagungsbände vgl. Universitat de València, Facultat de Geografia i Història: Estudis d'Història Contemporània del País Valencià, Valencia o. J.; Julio Aróstegui (Hg.): Historia y Memoria de la Guerra Civil. Encuentro en Castilla y León. 3 Bde., Valladolid 1988; als Sammelbände vgl. Manuel Tuñón de Lara u. a.: Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt a. M. 1987; Ramón Tamames: La guerra civil española. Una reflexión moral 50 años después, Barcelona 1986.

6 "Una guerra civil no es un acontecimiento conmemorable ", afirma el Gobierno, in: El País, 18. Juli 1986, S. 17.

7 Vgl. Gregorio Morán: El precio de la transición, Barcelona 1991.

8 Vgl. Pierre Nora (Leitung): Les lieux de mémoire, Paris 1984.

9 José Luis L. Aranguren: Por qué nunca más, in: Ramón Tamames: La guerra civil española. Una reflexión moral 50 años después, Barcelona 1986, S. 171-184.

10 Cambio 16 Nr. 616-619 vom 26. September bis 10. Oktober 1983.

11 Zur Amnestie nach 1975 vgl. Paloma Aguilar: Memoria y olvido de la Guerra Civil española, Madrid 1996.

12 Vgl. Santos Juliá: Echar al olvido. Memoria y amnistía en la transición, in: Claves de razón práctica, Nr. 129 (2002), S. 21 f.

13 Carsten Humlebæk: Usos políticos del pasado reciente durante los años de gobierno del PP, in: Historia del Presente, Nr. 3 (2004), S. 161 sowie El País digital, 1. Juni 1999.

14 Vgl. Emilio Silva, Santiago Macías: Las fosas de Franco. Los republicanos que el dictador dejó en las cunetas, Madrid 2003

15 Zur neueren Literatur vgl. die Sammelrezension von Walther L. Bernecker: Entre la historia y la memoria: Segunda República, Guerra Civil española y primer franquismo, in: Iberoamericana Jg. III, Nr. 11, 2003, S. 227-238.

in: UTOPIE kreativ, H. 191 (September 2006), S. 779-790

aus dem Inhalt:

VorSatz; Essay ANDREAS HEYER: Stationen einer Enttäuschung. Kleists Briefe aus Paris (1801); Spanischer Bürgerkrieg 1936-1939 WALTHER L. BERNECKER: Spanischer Bürgerkrieg und Vergangenheitsbewältigung. Geschichtspolitik und Erinnerungsansprüche in der Demokratie 1975-2005; MIRCO BEER: Bericht über die Kommandierung nach Spanien vom 10. Oktober 1936 bis 3. Juni 1939; Gesellschaft - Analyse & Alternativen SIEGFRIED WENZEL: Sozialismus des 21. Jahrhunderts? HORST DIETZEL: "Neue Herausforderungen" in der Programmatik der Linken; MICHAEL FABER, JONAS BENS: Für eine moderne und bunte Linke! Die soziale Frage umfasst mehr als Hartz IV und Vermögenssteuer und sie braucht Antworten!; DIRK JÖRKE: Von den Grünen lernen heißt verlieren lernen; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Horst Ehmke: Im Schatten der Gewalt (HARALD LANGE); Patrice Bollon: Cioran. Der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold (KAI AGTHE); Christine Hatzky: Julio Antonio Mella (1903 - 1929). Eine Biographie (REINER TOSSTORFF); Volker Freystedt, Eric Bihl: Equilibrismus - Neue Konzepte statt Reformen für eine Welt im Gleichgewicht (JÜRGEN MEIER); Hansjörg Herr, Kurt Hübner: Währung und Unsicherheit in der globalen Ökonomie; Michael Heine, Hansjörg Herr: Die Europäische Zentralbank (ULRICH BUSCH) Summaries