Interview mit Karl Heinz Roth zur aktuellen Krise und ihren Folgen
"Wir bewegen uns in eine weltgeschichtliche Situation hinein, in der alle Weichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens neu gestellt werden. Für meine Generation wird es nach den Jahren 1967 bis 1973 der zweite Epochenumbruch sein", so Karl Heinz Roth bei einem Seminar der Interventionistischen Linken Mitte Dezember. Wir nutzten die Gelegenheit, um mit ihm über mögliche Krisenszenarien, Handlungsansätze und die aus seiner Sicht anstehenden Herausforderungen zu sprechen. Im Frühjahr wird eine umfassendere Arbeit zur gegenwärtigen Krise und den Folgen von Karl Heinz Roth bei VSA erscheinen.
ak: Mario Candeias hat im letzten ak vom Ende des Neoliberalismus und einer neuen Qualität des Staatsinterventionismus gesprochen. Teilst du diese Einschätzung?
Karl Heinz Roth: Nein. Es gab bisher zwei Etappen der Staatsintervention. Zum einen die Rettungsoperationen für das Finanzkapital. Das war ganz traditionelle Rettungspolitik. Allerdings erscheinen die Stützungsoperationen für die Banken auffällig, weil so gigantische Summen als Garantiesummen genannt werden. Daraus kann man jedoch noch gar nicht schließen, dass sich eine Form von längerfristiger Staatsintervention etablieren wird.
Bei den antizyklischen Konjunkturprogrammen z.B. in China, Großbritannien und Spanien sieht es etwas anders aus. Hier kann man von Staatsintervention sprechen. Und es ist anzunehmen, dass die Präsidentschaft Obama verstärkte Staatsintervention auch im Sinne von keynesianischer Politik mit sich bringen wird. Ob das aber zu einem Dauerphänomen wird, tatsächlich zu einem qualitativen Umschlag im Sinn eines gemischten Wirtschaftssystems - so nannte Paul Mattick die westlichen Industriestaaten der 1950er/60er Jahre - ist sehr zweifelhaft. Das ist eine "open box". Man kann noch nicht voraussehen, was passiert. Es gibt einige Determinanten der Krise, die noch völlig unklar sind. Also: In einem Teilbereich verstärkte Staatsintervention ja; aber es ist noch kein neues Programm für einen neuen Zyklus. Es sind Notoperationen.
Wir erleben nach 1929 und 1974 die dritte große Weltwirtschaftskrise. Den Krisen von 1929 und 1974 gingen nicht nur in den Metropolen massive Klassenkämpfe voraus bzw. sie waren von diesen begleitet. Dieses Mal ist das nicht der Fall. Was könnte das für politische Konsequenzen haben?
Es hat auch vor 1929 keine wirklich großen Klassenkämpfe gegeben. Die 1920er Jahre hatten eine verrückte Analogie zum ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, nämlich die Niederlage der Arbeiterklasse. Es hatte 1917-21 die erste Arbeiterrevolution auf der Welt gegeben. Das vergessen wir immer. Wir reden immer nur über Russland bzw. die Sowjetunion. Wir vergessen, dass in den USA 1916-1919/20 ein gigantischer Klassenkrieg stattgefunden hat, der mit einer strategischen Niederlage geendet ist, mit Massendeportationen Zigtausender Kommunisten und Anarchisten aus den USA und den Restriktionen der Einwanderungsgesetze usw.
Ich sehe eher starke Analogien zur Weltwirtschaftskrise ab 1929. Es gab zwar relativ starke Kämpfe vor allem in Deutschland, aber die Arbeiterklasse wurde sozusagen auf dem falschen Bein erwischt. Und heute ist das in gewisser Weise genau so. Ich denke aber auch, dass es durch die ungeheure Kreditexpansion in vielen Ländern einen Aufstau von Kämpfen gibt. Die Niedriglohnstrategie und die Senkung der Masseneinkommen wurden dadurch kaschiert. Deshalb glaube ich, dass es zu einem neuen Zyklus von Arbeiterkämpfen kommt.
Die Rettungs- und Konjunkturpakete müssen irgendwie bezahlt werden. Entweder durch einen neuen Akkumulationsschub - eventuell durch einen Green New Deal - oder durch verstärkte Ausbeutung und Abwälzung der Krisenkosten auf die subalternen Klassen. Du sprichst von einem neuen Zyklus von Kämpfen - was kommt auf uns zu?
Die Krise hat eine Tiefe erreicht, die ungeheuerlich ist. Ich bin erschreckt über die Perspektive der nächsten Monate und Jahre. Es wird eine extensive Staatsverschuldung gefahren werden. Die kann man auf zwei Wegen auf die subalternen Klassen abwälzen: einmal durch Steuererhöhungen und zweitens durch einen Inflationsprozess, d.h. durch die Überführung der Krise in eine Stagflation, in eine stagnierende wirtschaftliche Entwicklung mit extremen Inflationstendenzen.
Allerdings blockiert diese Entwicklung eine Doppelkonstellation: zum einen die Symbiose zwischen China und den USA. Wenn der Wachstumsprozess in China einbricht - und er ist dabei einzubrechen -, dann entsteht eine Situation, in welcher der chinesische Staatsdespotismus sagen wird: "Das Hemd ist uns näher als der Rock." China wird aufhören, US-Staatsanleihen zu kaufen, weil es das eigene Wachstumsprogramm bezahlen muss. Das bedeutet, dass die symbiotische Beziehung China-USA, also die Gläubiger-Schuldner-Situation, aufgebrochen wird und China plötzlich nicht mehr die Verschuldung der USA finanziert.
Soziale Kämpfe in China könnten in kürzester Zeit das ganze Modell ins Wanken bringen, genauso wie massive Kämpfe in den USA, die ich als Möglichkeit nicht ausschließe. Wobei zu bedenken ist, dass es auch eine grüne, ökologisch orientierte Kapitalinnovationsstrategie gibt. Barack Obama umgibt sich mit klugen Leuten, z.B. einer Wirtschaftsprofessorin aus Berkley, Christina D. Romer, die sich intensiv mit der Wirtschaftsgeschichte der großen Depression in der Überwindungsphase beschäftigt hat, oder dem neuen Finanzminister Timothy Geithner, der fließend Japanisch und Chinesisch spricht. Da könnte schon eine Auffangkonstellation in Gang kommen.
Wenn die Klassenkämpfe sich nicht weiter entwickeln, wird die Klasse der Arbeiter und Arbeiterinnen in den nächsten 15 bis 20 Jahre die Zeche zahlen. Und das wird eine gigantische Zeche sein. Das zeigt Island: Das Land ist bankrott. Auf Island kommt eine radikale Austeritätspolitik zu, die einen breiten Verarmungsprozess einleitet. Damit ergibt sich eine extreme Perspektive der Zuspitzung: entweder ein wirklicher revolutionärer Aufschwung oder ein Restaurationsprozess, der zu einer extremen Pauperisierung führt. Eine dritte Möglichkeit wäre eine blutige Konterrevolution gegen einen revolutionären Prozess. Wir kommen in ziemlich dramatische Gewässer.
Da ein neuer keynesianischer Sozialstaat nur jenseits des Nationalstaates, also weltweit denkbar sei, sei dieses Konzept entsprechend utopisch, hast du vor zwei Jahren im Zusammenhang mit der Gründung der Linkspartei geschrieben. Nun gibt es weltweite Bemühungen (Stichwort G20), die Folgen der Krise einzudämmen. Hältst du ein solches Konzept angesichts dieser Entwicklungen immer noch für illusorisch?
Nein. Denn ich halte einen revolutionären Prozess nur für möglich, wenn eine radikale Reform in Gang kommt. Alleine aus Zeitgründen. Es ist völlig illusorisch, dass Menschen, die jahrzehntelang so geduckt gingen, dass sie kaum eigene Gedanken zu entwickeln gewagt haben, innerhalb kürzester Zeit in der Lage wären, ein revolutionäres Programm in Gang zu bringen. Es braucht Zeit und Erfahrung; das geht nur über eine radikale Reform. Nur so kann ein qualitativer Sprung stattfinden.
Ob die G20-Konstellation sich stabilisiert, ist völlig offen. Die Prognosen, die dazu von einigen Linken gemacht werden, halte ich für sehr oberflächlich. Am Ende des Krisenprozesses könnte auch nur das Tandem USA-China übrig bleiben, und die übrigen Schwellenländer wie Brasilien, Mexiko, Südkorea und Indien wieder in den Status eines Entwicklungslandes zurückfallen.
Die heutigen Schwellenländer - China spielt hier eine Sonderrolle - haben aufgrund der Krisen in den 1980er und 1990er Jahren ungeheuer gelernt und gegen Wechselkursrisiken riesige Währungsreserven angelegt. Sie haben jahrelang vom Rohstoffboom profitiert. Dieser bricht im Augenblick jedoch massiv zusammen. Die Handelsbilanzdefizite, die notwendig sind, um den Wachstumsprozess zu beschleunigen, werden infolge dessen unerträglich hoch werden.
Es gibt also mehrere Komponenten, die die Schwellenländer völlig gefährden. Die Wichtigste ist der dramatische Kapitalabzug der Kapitalinvestoren. Südkorea ist praktisch zahlungsunfähig. Wie in allen anderen Schwellenländern mit Ausnahme von China zieht sich das internationale Kapital zurück. Es könnte in einem Jahr ein Szenario geben, in dem die Währungsreserven weg sind, die Rohstoffpreise weiter sinken, die immer noch auf Rohstoffexporte basierenden Zahlungsbilanzvorteile wegfallen und der Kapitalabzug des internationalen Kapitals anhält. Eine solche Situation würde diese Länder ganz plötzlich destabilisieren.
Diese Entwicklung ist jedoch völlig offen. Ich halte es für falsch, Prognosen zu machen. Ich befürchte aber, dass der Igel doch noch in Washington sitzt - und übrigens in Peking mit - und am Ende die anderen das Nachsehen haben. Ich halte die ganzen Krisenszenarien also durchaus für möglich, und das ist eine katastrophale Perspektive.
Was wäre denn in einer radikalen Reformperspektive das Radikale, was darüber hinaus geht, was jetzt gezwungenermaßen gemacht wird? Und was sind die Punkte, um eine revolutionäre Perspektive aufrechtzuerhalten, zu forcieren und zu organisieren, um der Gefahr zu entgegen, nicht im Reformprozess stecken zu bleiben?
Um den Prozess der antizyklischen Staatsintervention voranzutreiben und zu radikalisieren, ist eine simultane Basismobilisierung notwendig. Was ich vorschlage, ist nicht institutionell durchsetzbar: alle Kapitalvermögensbesitzer zu enteignen und alle hohen Einkommensbezieher progressiv zu besteuern, um nicht in die Staatsverschuldungsfalle zu geraten. Es muss eine radikale Umverteilung von oben nach unten durchgesetzt werden. Das ist ein radikaler Schritt, der nur auf der Basis von Massenprozessen durchzusetzen ist, also erkämpft werden muss.
Das Zweite ist die Wiederherstellung fixer Wechselkurse und die Einführung eines Weltwährungssystems. Das ist nicht Bretton Woods II, denn in Bretton Woods wurde 1944 nur die Goldbindung des US-Dollars als Leitwährung eingeführt, keine Weltwährung. Das System, das bis 1973 galt, stellte eine vollkommene Deformation des antizyklischen globalen Programms von Keynes dar, der ja tatsächlich eine Weltwährung, den Bancor, einführen wollte. Auch das durchzusetzen, ist heute nur möglich, wenn radikale Entwicklungen in Gang gebracht werden, die ungeheuer weit darüber hinausgehen, was heute als progressiv gilt. Die Simultaneität ist also ganz entscheidend für den Reformprozess selbst.
Der revolutionäre Prozess kann m.E. nur lokal und in einer Kombination mit internationalen Formen der Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter in Gang kommen. Lokal wären das Prozesse der kommunalen Sozialisierung der Produktions- und Reproduktionsgrundlagen, also der so genannten öffentlichen Güter. Es geht also darum, die Freiheit in der Produktion herzustellen, wie Marx sagte, die nur dann Freiheit sein wird, wenn die unmittelbaren Produzenten die Produktion und ihren Stoffwechsel mit der Natur selbst organisieren. Diese revolutionäre Perspektive ist aber nur dann durchsetzbar, wenn sie international vernetzt ist. Das sollte im Rahmen globaler Föderationen der Arbeiterinnen und Arbeiter organisiert werden - vor allem in den strategischen Sektoren IT, Medien und Transport. Ohne diese Verkoppelung ist das nicht möglich. In der Perspektive werden dann Schnittpunkte entstehen, die tatsächlich einen globalen revolutionären Prozess irreversibel machen. So stelle ich mir die Verknüpfung der Prozesse vor. Also nicht erst Reform und dann Revolution, sondern ein simultaner Prozess, der sich wechselseitig verstärkt. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.
Wer soll Träger dieses Programms sein?
Die unmittelbaren Produzentinnen und Produzenten, die Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter, die Weltarbeiterklassen einschließlich der Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter, bis hin zu den Technikern und Ingenieuren. Das ist die Perspektive, das ist eine Perspektive der Selbstorganisation, die ich Autonomie nenne und nicht Sozialismus. Dieser Begriff ist diskreditiert.
Und wer sorgt dafür, dass sie sich diese Perspektive zu eigen machen?
Das müssen wir tun. Das muss der ak tun, die Wildcat, linke Gewerkschafter usw. Ich hoffe auch, dass es eine neue militante Frauenbewegung gibt, die zur sozialen Frage zurückkehrt. Wir alle müssen das tun und wir alle haben diese Verantwortung, weil wir vor einem strategischen Fenster stehen. Wenn wir nicht aufpassen, wird es sehr dunkel.
Interview: Ingo Stützle, Martin Beck
aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 534/19.12.2008