Der lateinamerikanische Fernsehsender Telesur hat Sendungsbewusstsein
Während weltweit der Trend zur Privatisierung der Medien anhält, erfährt das staatliche Fernsehen in Venezuela eine Renaissance. Die neueste Initiative von Präsident Chávez ist der Sender Telesur
Pünktlich zum 222. Geburtstag des Unabhängigkeitskämpfers Simon Bolívar ging am 24. Juli 2005 der Fernsehsender Telesur auf Sendung. Das fünf Staaten umfassende Kooperationsprojekt hat seinen Sitz in Caracas. Venezuela hält 51 Prozent der Aktien und hat den Löwenanteil des Kapitals vorgeschossen. Es folgen Argentinien mit 20, Kuba mit 19 und Uruguay mit 10 Prozent Beteiligung. Vor allem Argentinien steuert auch Reportagen und Filme bei. Für das Nachrichtenprogramm arbeiten Korrespondenten in Buenos Aires, Brasilia, La Paz, Montevideo, Bogotá, Caracas, Havanna, Mexiko-Stadt und Washington. 24 Stunden am Tag will Telesur zukünftig senden. Geplant sind Nachrichtenmagazine, Analysen und Portraits, traditionelle und moderne lateinamerikanische Musik, Filmreihen und Jugendsendungen - kurz ein alternatives Vollprogramm.
Telesur will laut eigenem Anspruch kein Propagandakanal von Regierungen sein, sondern die Erfahrungen der sozialen Bewegungen Lateinamerikas in die Welt tragen. Dabei versucht der Sender, das Community-Prinzip auf ein Massenmedium anzuwenden. So ist zum Beispiel das Medienkollektiv India Teil der Redaktion in Venezuela: "Wir sind alle in Frauen-, Indígena-, Menschenrechts- oder gewerkschaftlichen Bewegungen aktiv. Als Korrespondenten berichten wir, wogegen wir kämpfen und wofür wir uns einsetzen. Damit decken wir ein breites Spektrum der Diskussionen ab. Telesur ist auch eine Chance zu zeigen, dass wir nicht alleine sind."
Bisher präsentiert das recht kurzfristig ins Leben gerufene Telesur nur ein Teilprogramm. Nach vier Wochen Sendebetrieb lässt sich als erster Eindruck festhalten: Bislang gibt es kein Programmschema, dafür viele vorproduzierte Jingles. Die Auslandskorrespondenten sind mit ihrer tagesaktuellen Berichterstattung noch in der Vorbereitungsphase, es werden hauptsächlich Dokumentationen und Reportagen gesendet. Zum Teil sind sie sehr gut gemacht, etwa jene über die Machtergreifung der Militärs in Argentinien, indigene Gemeinden in Venezuela oder politische Kunst in Lateinamerika.
Konservative Feinde
Viele brisante Themen harren noch der Bearbeitung durch Telesur, etwa die Frage, was mit den hunderttausenden Menschen geschehen ist, die in der Folge von Militärdiktaturen und "Interventionen" verhaftet, gefoltert, verschwunden oder ermordet wurden. Ihr Andenken will Telesur einer breiten lateinamerikanischen Öffentlichkeit zugänglich machen. Ein Motto des Senders ist daher "Stimmen gegen das Schweigen". Das ruft offene Feindseligkeit bei jenen latein- und US-amerikanischen Konservativen hervor, die die Taten der Militärs und die Verantwortung der Pinochets, Rios Montt und Uribes, der Nixons, Reagans und Bushs allenfalls in Geheimakten dokumentiert sehen wollen.
Bereits vor Sendebeginn hagelte es aus diesem Spektrum Vorwürfe gegen Telesur: Der Sender habe eine links-ideologische, antikapitalistische Ausrichtung und sei von der Regierung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez abhängig. Ein Kommunikationsmedium solle sich objektivem Journalismus verpflichten, nicht purer Propaganda, so die bürgerliche Presse. Es solle einem breiten Meinungs- und Interessenspektrum Raum geben und nicht nur einer kleinen Gruppe linker Revolutionäre. Die Tatsache, dass Telesur-Präsident Andrés Izarra gleichzeitig Informationsminister Venezuelas war, bestärkte die Gegner des Projektes. Dieser Interessenskonflikt war am Ende wohl auch Izarra selbst bewusst: Drei Tage nach Sendebeginn trat er von seinem politischen Amt zurück. Das Konzept des Senders verteidigt er jedoch weiterhin: "Telesur ist eine Alternative zum kulturellen Imperialismus. Aber er sollte nicht als Initiative gegen die Menschen in den USA interpretiert werden."
Auch die junge Journalistin und Telesur-Mitarbeiterin Libertad Velazco hält der Kritik entgegen: "Es geht darum, die Pluralität der Stimmen Lateinamerikas sichtbar zu machen. In den traditionellen Medien haben wir keinen Platz. Protagonisten von Telesur sind eben die, die bislang von der Medienagenda ausgeschlossen wurden." Tatsächlich verwundert es, dass Vorwürfe wie die oben genannten in dieser Schärfe nur gegen Telesur erhoben werden, nicht aber gegen die privaten Kanäle in Lateinamerika. Dort handeln Telenovelas vom Leben der kleinen Oberschicht des Kontinents, Hollywoodproduktionen feiern den American Way of Life und tendenziöse Nachrichten stellen schon gemäßigte sozialdemokratische Positionen als kommunistisch-revolutionäre Bestrebungen dar. Eine Sicht nach und insbesondere von Unten wird dagegen Millionen Menschen in Lateinamerika vorenthalten.
Wer in Lateinamerika Nachrichten aus anderen Ländern des Kontinents empfangen will, ist bislang in erster Linie auf die spanischsprachige Version des Nachrichtenriesen CNN angewiesen oder auf die großen Presseagenturen aus den USA und Europa. Informationen über soziale Bewegungen und Analysen zu den Auswirkungen der neoliberalen Weltwirtschaft werden dagegen nur von alternativen Medien wie den Radios Comunitarias oder kleinen politischen Zeitungen abgedeckt.
Mit Telesur sollen diese bislang lokal begrenzten Informationen einer breiten Masse zugänglich gemacht werden. Der uruguayische Direktor von Telesur, Aran Aharonian, erklärt: "Wir haben uns bislang in Nischen zurückgezogen. Hier eine kleine Zeitung, da ein kleines Bürgerradio, dort ein Community-Fernsehen. Das ist eine etwas anarchische und nicht immer effektive Art, der Hegemonie der großen Medien etwas entgegenzusetzen". Aharonian hält dem einen hohen Anspruch entgegen: "Die Menschen meinen, dass ein Massenmedium in keinem Fall alternativ sein kann. Auch in diesem Sinne wird Telesur eine kleine Revolution sein".
Der Idee eines alternativen Massenmediums sehen auch die Vertreter kommunaler Medienprojekte gespannt entgegen. Allerdings bewerten Radioaktivisten das Konzept von Telesur nüchterner. Daniel Ivan vom mexikanischen Basisradio Radio Voladora sorgt sich, dass bei Telesur der lokale Bezug verloren gehen könnte. Denn das Lokale sei kein rein geographisches Konzept: "Lokal bedeutet auch mit Leuten zu arbeiten, die du kennst und die du vor dir siehst." Im Gegensatz dazu hätten große Medien eine andere Arbeitsweise und Art der Berichterstattung. Ein Massenmedium komme schnell wieder an dem Punkt an, wo man sagt: ‚Alles, worüber wir nicht berichten, hat auch keine Bedeutung.Â’
Um die Offenheit von Telesur zu unterstreichen, sitzen im Kuratorium respektierte Persönlichkeiten aus der ganzen Welt, unter anderem der nicaraguanische Schriftsteller Ernesto Cardenal, Ignacio Ramonet, Herausgeber der Le Monde Diplomatique, der Free-Software-Aktivist Richard Stallman, der Schauspieler Danny Glover sowie Harry Belafonte. Dieses Kuratorium ist durchaus gewillt, den Sender kritisch zu begleiten, um zu verhindern, dass ein Chávez-Propagandakanal aus ihm wird. Danny Glover machte gleich auf der Eröffnungsfeier deutlich: "Ich sehe im Kuratorium weder Menschen afrikanischer Abstammung, noch Indígenas und nur sehr wenige Frauen. Es ist wichtig, dass wir uns darüber bewusst bleiben, an wen wir uns richten!"
Gegen das Meinungsmonopol
Dass Telesur seine Basis in Venezuela hat, ist kein Zufall. Chávez hat selbst zu spüren bekommen, dass die Informationen von CNN & Co oft weder ausreichen noch politisch ausgewogen sind. In Venezuela lag seit dem faktischen Ende des staatlichen Fernsehsenders Canal Ocho fast alle Medienmacht bei privaten Fernsehkanälen und Verlegern. Sie repräsentieren die korrumpierte und abgewirtschaftete vierte Republik, die erst durch den Wahlsieg von Chávez 1999 überwunden wurde. Seit dem Amtsantritt des Präsidenten sind die Privaten auf Konfrontationskurs zu Chávez, der zunächst als ‚irrer IndioÂ’ beleidigt und dann als Hitler-Hussein-Destillat verteufelt wurde. Im versuchten Staatsstreich von 2002 spielten sie eine aktive Rolle, wurden zu Lenkern der Geschehnisse und zu Manipulatoren der weltöffentlichen Meinung. Über die Armut in den Barrios, über die Forderungen der dortigen Bewegungen berichteten die privaten Medien hingegen nichts, ebenso wenig wie über die wachsende Kritik am Einfluss von IWF und Weltbank auf die Länder Lateinamerikas. Die privaten Medien zementierten so ihre Rolle als Medium für die Mittelschicht und gegen die Armen.
Für die breite Koalition um Chávez waren dies Gründe genug, das private Meinungsmonopol zu brechen. Statt die Privaten ausschalten zu wollen, wie es die Opposition dem Präsidenten stets vorwirft, belebte Chávez jedoch zunächst den staatlichen Fernsehsender Canal Ocho wieder. Freie lokale Radios und Fernsehstationen wurden ermöglicht, einige linke Zeitungen unterstützt und Dokumentarfilmer gefördert. Im letzten Jahr startete mit Vive ein linksalternativer Kultursender. Bis jetzt ist diese Medienpolitik durchaus erfolgreich. Zwar sind Venezuelas Sender und Zeitungen nach wie vor politisch polarisiert, doch sind immerhin beide Positionen in den Medien repräsentiert. Canal Ocho, die Gemeinschaftsmedien und die autonomen Filmprojekte haben die Medienlandschaft mit neuen Themen, Formaten und Blickwinkeln bereichert. Canal Ocho wird in den Armenvierteln und von Teilen der Mittelschicht schon aus Solidarität, vor allem aber mit echtem Interesse geschaut. Dokumentarfilmfestivals füllen Kinosäle und die Gemeinschaftsradios erfreuen sich großer Beliebtheit.
ARD in Lateinamerika?
Wird aus Telesur nun ein Sender wie arte mit aufwendig gedrehten Reportagen und Portraits, nur eben links und südzentriert? Oder ein lateinamerikanischer Senderverbund nach dem Modell der ARD, mit unabhängigen Sendeanstalten in jedem Land, von denen die einen links und die anderen rechts sein mögen, aber alle staatstragend? Bleibt es tatsächlich ein Communitymedium mit Zugang für unabhängige Autoren und Gruppen? Oder wird es zum Propagandakanal einer linken Regierungsnomenklatura?
Letzteres ist kaum zu befürchten, zu groß ist zwischen Kirchner und Castro schon das Meinungsspektrum der beteiligten Regierungen. Zunächst will Telesur identitätsstiftend für Lateinamerika sein. Was daraus wird, bleibt abzuwarten. Wie überall, wo es eine Vielfalt an veröffentlichter Meinung gibt, wird es sich ohnehin am Zuschauerinteresse und nicht an den Kritikern entscheiden, ob Telesur ein Erfolg wird oder ein Flop. Ein dringend notwendiger Ansatz ist es allemal.
Marcela Fica arbeitet beim venezolanischen Radio Fe y Alegría im Projekt "Interkommunikation Lateinamerika-Europa". Der Sender machte sich 2002 international einen Namen, als er nach dem Putsch gegen Chávez als einziger objektiv über die Vorkommnisse berichtete. Markus Plate ist freier Journalist beim Nachrichtenpool Lateinamerika in Berlin und produziert Reportagen für deutschsprachige Radiosender.