politischer Islam und Frauenfrage in der Türkei
Mit dem Aufstieg des politischen Islam seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist in der Türkei wie im gesamten Vorderen Orient die Geschlechtefrage ins Zentrum gesellschaftlicher.....
.....und politischer Auseinandersetzungen gerückt.
Von Istanbul bis Kabul, von Kairo bis Teheran prägen seit Jahrzehnten Kontroversen über Stellung und angemessenes Verhalten der Frauen gesellschaftliche Diskurse, definieren politische Zugehörigkeiten und markieren ideologische Grenzlinien nach innen wie nach außen. Körper und Sexualität der Frauen, symbolisch manifestiert in der Schleier- bzw. Kopftuchfrage, sind zu Metaphern geworden, über die Themen wie Globalisierung und Selbstbehauptung, Authentizität und Verwestlichung, Religion und Moderne, Gemeinschaft und Individuum artikuliert und umkämpft werden. Nicht selten liegen den politisch-kulturellen Auseinandersetzungen soziale Konflikte zugrunde.
Wie in anderen Staaten des Vorderen Orients engagieren sich auch in der Türkei zahllose Frauen in den islamistischen Bewegungen. Seinen sichtbaren Ausdruck findet dieses Phänomen darin, dass seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Schleier und Kopftuch als Massenerscheinungen in den urbanen Raum zurückgekehrt sind.
Während viele ihrer Mütter und Großmütter den Schleier als Zeichen weiblicher Unterordnung abgeworfen haben, wird die neue ‘islamische BedeckungÂ’ heute vielfach aus eigenem Entschluss auch von jungen gebildeten Frauen, von Akademikerinnen und Studentinnen aus den modernen Mittelschichten getragen. "Hand in Hand für Freiheit!" - Unter dieser Parole mobilisierten Studentinnen in Istanbul im Oktober 1998 für eine Menschenkette gegen das Kopftuchverbot an den Universitäten und in den öffentlichen Institutionen der Türkei. Von Istanbul bis ins ostanatolische Van folgten ca. drei Millionen Menschen dem landesweiten Aufruf (vgl. Pusch 1999: 147f).
Die Aktivitäten zahlreicher gebildeter junger Frauen im Kampf gegen das Kopftuchverbot in staatlichen Institutionen und ihre Berufung auf individuelle bürgerliche Freiheitsrechte stehen für ein neues Kapitel in den jahrzehntelangen
Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Religion, Politik und Frauenfrage in der modernen Türkei.
1924 hatte Mustafa Kemal Atatürk in einem radikalen und beispiellosen Akt einer "Modernisierung von oben" eine vollständige Säkularisierung der politischen Institutionen des neuen türkischen Staates verfügt, der auf den Trümmern des Osmanischen Reiches geschaffen wurde.
Einschneidend und von weitreichender Bedeutung für die Geschlechterverhältnisse
und die Stellung der Frau war die Neuregelung des Familienrechtes, das völlig mit den Bestimmungen des islamischen Rechtes brach und sich am Schweizer Zivilrecht orientierte. Die Polygynie wurde verboten, die Frauen erhielten gleiche Rechte bezüglich der Scheidung und Vormundschaft für die Kinder.
1930 und 1934 erhielten die Frauen das Wahlrecht auf lokaler bzw. nationaler
Ebene. Das Tragen des Schleiers wurde zwar nicht gesetzlich verboten, aber propagandistisch bekämpft. Das Bild von der ‘neuen FrauÂ’, die modern gekleidet,
öffentlich sichtbar und als Staatsbürgerin gleichberechtigt sein sollte, prägte Generationen von Frauen der Mittel- und Oberschichten, die über die ökonomischen
und familialen Bedingungen verfügten, die neuen Handlungsspielräume wahrnehmen zu können (vgl. ausführlich Kreile 1997: 258f).
"Die türkische Frau ist die glücklichste Frau der Welt", jubelte die Kolumnistin Sukufe Nihal damals stellvertretend für viele Frauen. "Heute haben wir kein Problem mehr. .. Für uns ist das Frauenproblem veraltet, ein Problem, dessen Mode vorbei ist" (zit. nach Özkan-Kerestecioglu 2001: 28).
Knapp 70 Jahre später sind islamische Diskurse von der Peripherie der politischen
Landschaft der Türkei in deren Zentrum gewandert, sind modernisiert und höchst erfolgreich reetabliert worden (vgl. White 2002: 198). Bei den Parlamentswahlen
im November 2002 gewannen die gemäßigten Islamisten der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter dem populären Parteichef Tayyip Erdogan mit Abstand die meisten Stimmen. Ihren Wahlsieg verdankt die AKP nicht zuletzt dem unermüdlichen Einsatz ihrer zahllosen Aktivistinnen, die wesentlich dazu beitrugen, die an der desaströsen Wirtschaftslage verzweifelnden Wählerinnen und Wähler zugunsten der AKP zu mobilisieren. Weithin wurde die Aktivistin, die selbstbewusst und unerschrocken das in staatlichen Institutionen verbotene Kopftuch trug, zum Symbol der islamistischen Bewegung.
Ein erhellendes Licht auf Art und Ausmaß des Engagements der islamistischen Partei-Aktivistinnen wirft bspw. der monatliche Bericht der Istanbuler Frauenkommission der Refah-Partei, aus der die AKP hervorgegangen ist. Im August
1997 existierten demzufolge in Istanbul in allen Wahlkreisen und in 805 von 863
Stadtvierteln Frauenorganisationen der Refah-Partei. Es gab in der Stadt 377.889
weibliche Parteimitglieder, die 3.465 Seminare, 1.572 Vorträge, 326 Versammlungen und 14.231 Hausversammlungen organisiert hatten. "Darüber hinaus hatten diese Frauen 2.656 junge Brautpaare beglückwünscht, 3.740 Neugeborene und 12.625 Kranke besucht und 4.245 Kondolenzbesuche gemacht. Mit all diesen Aktivitäten
konnten sie 1.262.577 Menschen persönlich erreichen" (Eraslan 2001: 54).
In der Türkei kristallisiert sich im "Kampf um das Kopftuch" die politische Auseinandersetzung zwischen den laizistischen Staatseliten einerseits und den aufsteigenden islamistischen Gegeneliten andererseits, die unter der Fahne des Kopftuchs die Re-Integration der Religion in den säkularisierten öffentlichen Raum einfordern und ihren Anspruch auf politische Teilhabe zum Ausdruck bringen (vgl. Göle 2002).
Zu einem besseren Verständnis der geschlechterpolitischen türkischen Entwicklungsdynamik möchte ich zunächst die konstitutive Funktion der Frauenfrage für das republikanische Staatsbildungsprojekt und die Reichweite des kemalistischen
Staatsfeminismus skizzieren. Anschließend untersuche ich die spezifische Bedeutung der Geschlechterpolitik vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen
des türkischen politischen Islam und beleuchte Paradoxien und Widersprüche islamistischer Geschlechterpolitik, wie sie insbesondere durch das massenhafte Engagement islamistischer Frauen hervorgebracht werden, die durch ihre Aktivitäten zunehmend auch patriarchalische Begrenzungen durch islamistische Männer überschreiten.
Nationbuilding, Islam und Gender in der Türkei
- ein historischer Rückblick
In verschiedenen Staaten des Vorderen Orients stellte die staatliche Geschlechterpolitik ein wichtiges Instrument für den Prozess des Nationbuilding nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches dar. Zu besonders weitreichenden Eingriffen in die Geschlechterverhältnisse kam es in der Türkei, wo die kemalistische Frauenpolitik zu einem Kernelement im Projekt eines modernen laizistischen Nationalstaates wurde. "Sie bildete eine zentrale Komponente sowohl der Liquidierung der ‘theokratischen ÜberresteÂ’ des Osmanischen Staates wie auch der Etablierung einer republikanischen Idee von Staatsbürgerschaft" (Kandiyoti 1991: 42f).
Durch Mustafa Kemals "Revolution von oben" (Trimberger 1978) wurde die Macht der religiösen Institutionen radikal gebrochen: am 3. März 1924 wurde das Kalifat abgeschafft, die Schulen säkularisiert, die religiösen Stiftungen staatlicher Kontrolle unterstellt. Es folgten die Schließung der islamischen Gerichtshöfe, das Verbot der religiösen Orden, die Abschaffung des Religionsunterrichts und die Einführung der lateinischen Schrift. Einen wichtigen Schritt bei der "politischen Eliminierung der ulama" (Pawelka 1993: 64) stellte die eingangs schon erwähnte Neuregelung des Familienrechts dar, das mit den Regelungen der Scharia brach und zu einer weitgehenden rechtlichen Gleichstellung der Frauen führte. In einer energischen Propagandakampagne, die von Mustafa Kemal persönlich angeführt wurde, wurde der Schleier als Symbol der Rückständigkeit attackiert und die Frauen aufgefordert, sich ‘modernÂ’ zu kleiden. Gegenpropaganda wurde unter Strafe gestellt.
Die ‘neueÂ’, ‘modernÂ’ gekleidete, öffentlich sichtbare Frau wurde zum Symbol des Bruchs mit der osmanischen Vergangenheit und fungierte als Verkörperung des neuen Konzepts einer einheitlichen nationalen Staatsbürgerschaft. Dass die kemalistische Strategie wesentlich darauf ausgerichtet war, mittels Frauen- und
Familienpolitik die Patriarchen der religiösen und familiären Gemeinschaften zu schwächen und die Kontrolle des neuen Staates über die Gesellschaft auszuweiten,
zeigt sich nicht zuletzt daran, dass autonome Initiativen von Frauen zunehmend
unterbunden wurden (vgl. ausführlich Kreile 1997: 259, 275f). Die damalige
Frauenbewegung ließ sich ihrerseits in das autoritär-korporatistische Staatsbildungsprojekt einbinden. So legitimierte Latife Bekir, die Präsidentin der
Türkischen Frauenföderation, die 1935 von Ankara angeordnete Auflösung ihrer
Organisation mit dem Argument, die türkischen Frauen hätten nun die vollständige
Gleichberechtigung erreicht und die Föderation habe deshalb keine Daseinsberechtigung mehr (vgl. Kandiyoti 1991: 42).
Jenseits der Beschränkungen, die der "Staatsfeminismus" den autonomen Aktivitäten von Frauen auferlegte, prägte das Bild von der ‘neuen FrauÂ’ als gleichberechtigter Staatsbürgerin nachhaltig die "Sozialisation einer ganzen Generation von Frauen, die die kemalistische Botschaft verinnerlichten und sich neue Identitäten schufen als Berufstätige wie auch als Patriotinnen" (Kandiyoti 1991: 41). Insgesamt bot die vom Staat paternalistisch gewährte Verbesserung der rechtlichen Stellung der Frau und das damit verbundene neue Konzept von Weiblichkeit hauptsächlich Frauen aus den modernen Mittelschichten und den Oberschichten neue Handlungsspielräume. Da die neue Gesetzgebung jedoch nicht primär Ergebnis veränderter sozioökonomischer Realitäten war, verfügte die große Mehrheit der Frauen nicht über die Ressourcen, die erforderlich gewesen wären, um die neuen Optionen auch wahrnehmen zu können (vgl. Kandiyoti 1991: 39).
Markt, Macht und Moral:
Der gemäßigte politische Islam in der heutigen Türkei
Seit Ende der 1970er Jahren ist es in den Gesellschaften des Vorderen Orients zu einem Aufstieg islamistischer Bewegungen gekommen, die unter der Parole "Der Islam ist die Lösung" den verzweifelnden Bevölkerungsschichten einen Ausweg aus Marginalisierung und Verelendung, Arbeitslosigkeit und katastrophaler Wohnungsnot
versprachen.
Nicht zuletzt der jüngste Wahlerfolg der türkischen Islamisten lässt den von manchen Regionalexperten neuerdings angestimmten Abgesang auf den politischen Islam (vgl. Kepel 2002) zumindest als verfrüht erscheinen. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die islamistischen Bewegungen und Parteien als einflussreiche
moderne Akteure auf den politischen Bühnen des Vorderen Orients präsent. Zwar wurden die Versprechungen einer ‘gerechten OrdnungÂ’ im Interesse der ‘Entrechteten und EnterbtenÂ’, mit denen die Islamisten in den verschiedenen Ländern der Region breite Massen zu mobilisieren vermochten, bislang nirgendwo auch nur
ansatzweise erfüllt. Nicht zuletzt unter dem Druck staatlicher Einbindungs- bzw.
Repressionsstrategien wie auch infolge einer Legitimationskrise militant-terroristischer islamistischer Gruppierungen kam es in verschiedenen Staaten der Region zu einer politischen Mäßigung der Mehrzahl der islamistischen Bewegungen und zu ihrer Einbindung in das politische System, wo sie aber weiterhin einen ernstzunehmenden politischen Faktor darstellen. Mit ihren Wohlfahrtsorganisationen füllen sie das sozialpolitische Vakuum, das die Staaten unter dem Druck der Strukturanpassung hinterlassen haben (vgl. Pawelka 2002: 443).
In der Türkei kam es insbesondere seit den 1990er Jahren zu einer deutlichen Ausdifferenzierung der islamistischen Bewegung. Unter den Interventionen der Staatseliten und in ständiger Auseinandersetzung mit ihnen entfaltete sich eine gemäßigte Strömung des politischen Islam, die keinen radikalen Systemwechsel mehr anstrebt, sondern den Aufstieg innerhalb des bestehenden Systems. Diese
mobilitiätsorientierten Pragmatiker, die heute wesentlich durch die AKP Erdogans
repräsentiert werden, stützen sich ökonomisch auf ein mittelständisches Unterehmertum, das im muslimisch geprägten Unternehmerverband MÜSIAD organisiertist, der 1990 als Gegengewicht zum Großunternehmerverband TÜSIAD
gegründet wurde. Diese hauptsächlich in Anatolien angesiedelten Unternehmer, die oftmals als Subunternehmer in internationale Produktionspläne eingebunden sind (vgl. Seufert 2002: 31), sehen ihre kulturellen Wurzeln bewusst im Islam und lehnen sowohl den Säkularismus wie auch die staatlichen Privilegien ab, die die großkapitalistischen Freunde der militärisch-politischen Elite erhalten (vgl. Henry/Springborg 2001: 211). Sie verknüpfen liberal-kapitalistische Werte und
Verhaltensweisen mit islamisch geprägten Normensystemen (vgl. Pawelka 2003:
94). Henry und Springborg zufolge repräsentieren die gemäßigten Islamisten eine Synthese von wirtschaftlicher Globalisierung und Islam:
"Da die islamistischen Kapitalisten in der Türkei weniger durch den Staat begünstigt worden sind als ihre säkularen Konkurrenten, sind sie glühende Anhänger des freien Marktes und wollen eine dramatische Reduzierung des Staates" (Henry/ Springborg 2001: 212).
Allerdings soll das Wirken der Marktkräfte durch ethische und moralische Elemente im Sinne einer islamischen moralischen Ökonomie gemäßigt werden (vgl. ebd.). Die Arbeitsbeziehungen in den kleinen und mittleren Unternehmen, die1 oft weniger als 25 Personen beschäftigen, orientieren sich dem entsprechend am Bild patriarchalischer Familienstrukturen (vgl. Seufert 2002: 30f).
Ein aufschlussreiches, besonders erfolgreiches Beispiel für den islamistisch orientierten Unternehmertypus ist einer der Besitzer von Tekbir Inc., der größten Kette für muslimische Bekleidung in der Türkei, den Yael Navaro-Yashin 1994 interviewt hat. Mustafa Karadurman stammt aus bescheidensten ländlichen Ver-hältnissen der östlichen Provinz Malatya; nach dem Besuch der Primarschule zog er nach Istanbul, wo er sich in der Textilindustrie vom Bügler zum Schneider hocharbeitete. Zusammen mit seinen Brüdern eröffnete er später ein Näh-Studio, das auf Anfrage auch Schleier produzierte. Heute sind die acht Brüder Besitzer von Tekbir. Die Firma kommt ihrer islamischen Spendenverpflichtung (zekat) umfassend nach; sie hält sich an das islamische Zinsverbot und arbeitet deshalb nicht mit staatlichen Banken zusammen. Von seinen Angestellten, ausnahmslos Frauen mit ‘islamischer BedeckungÂ’, wird Karadurman als "Bruder Mustafa" angesprochen. Obwohl er mittlerweile Eigentümer eines multinationalen Unternehmens ist, sitzt er in einem seiner Geschäfte selbst an der Kasse und kennt seine Angestellten persönlich.
Karadurman erzählt, wie es ihm und seinen Brüdern gelang, einen Markt für die ‘islamische BedeckungÂ’ zu schaffen. Sie organisierten Moden-Schauen und präsentierten in ihren Anzeigen Ärztinnen, Studentinnen und Geschäftsfrauen mit ‘islamischer BedeckungÂ’. "Die Frauen dachten, dass sie sich einen Sack überwerfen
müssten, um den Islam zu praktizieren. Wir durchbrachen diese Vorstellung.
Sämtliche Medien mussten einräumen, dass die ‘islamische BedeckungÂ’ schön ist. Was die Prediger durch ihre Ansprachen nicht erreichten, konnten wir durch unsere Geschäfte und Moden-Schauen kommunizieren" (zit. nach Navaro-Yashin 2002: 235). Mittlerweile richten sich die Ambitionen Karadurmans auf den globalen Markt:
"Wir wollen nicht nur die Mode in der Türkei beeinflussen. Wir wollen die Mode weltweit prägen. ... Wie hat sich der Mini-Rock weltweit verbreitet? Genauso wollen wir die islamische Bedeckung in der ganzen Welt verbreiten" (zit. nach Navaro-Yashin 2002: 235).
Auch bei den anatolischen Migranten, die in den Großstädten neue Gemeinschaftlichkeiten und Solidaritäten suchten, fanden die Islamisten in den 1980er Jahren Anklang. Heute lehnen die Aktivisten von damals die Idee eines islamischen Staates ab und propagieren eine Partei, "die zwar religiöse Gebundenheit als wichtiges Element gesellschaftlicher Kohäsion und Solidarität begrüßt, jedoch ansonsten Religionsfreiheit und Demokratie einfordert" (Seufert 2002: 30).
Neben kleinen und mittleren Unternehmern und ihren Beschäftigten und den
Migrantenfamilien in den Außenbezirken der Städte gehören wesentlich auch die
Intellektuellen, die in den islamistischen Verlagen, Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten tätig sind, zur Basis der AKP. Sie fühlen sich durch staatliche Kontrolle und Restriktionen blockiert und gegenüber den laizistischen Eliten benachteiligt.
Da die verschiedenen Segmente des islamistischen Milieus sich durch den laizistischen Staat marginalisiert bzw. in ihren Aufstiegswünschen blockiert sehen,
wendet sich die AKP als politische Repräsentantin dieses Milieus gegen den vorherrschenden Etatismus und fordert eine ‘VerschlankungÂ’ des Staates. Ihr Ziel ist "die Herrschaft des Marktes, auf dem sich das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital des Milieus in freier Konkurrenz mit der laizistischen Elite messen kann" (Seufert 2002: 32). Angestrebt wird die Integration ins System auf der Basis von Chancengleichheit und Wettbewerb, nicht sein Umsturz. In diesem anti-etatistischen Konzept ist auch die Idee eines islamischen Staates aufgegeben, der alle Lebensbereiche nach seiner Ideologie zu formen beansprucht. Statt dessen wird im Rahmen einer ‘moralischen MarktwirtschaftÂ’ eine muslimische Gesellschaft propagiert, in der die bisherigen Einschränkungen im religiösen Leben aufgehoben sind (vgl. Seufert 2002: 32). Dies kann allerdings durchaus "zu einer Verstärkung konservativer Moralität durch effektive Sozialkontrolle führen" (ebd.).
Geschlechterordnung als zentrales Element islamistischer Politik
Während in den Gesellschaften des Vorderen Orients strukturelle entwicklungspolitische Umgestaltungsoptionen im Interesse der städtischen und ländlichen Armen angesichts interner und externer politischer Rahmenbedingungen sowie der sozialen Heterogenität der islamistischen Bewegungen blockiert waren, wurde die Geschlechterfrage und die ‘MoralÂ’ der Frauen schichtübergreifend und
mehrfach codiert zum Schlüsselthema in den Diskursen und der Praxis des politischen Islam in allen seinen Facetten und Ausprägungen. Der schillernde und
sozial mehrdeutige Begriff einer ‘gerechtenÂ’ und ‘authentischenÂ’ islamischen Ordnung wurde inhaltlich gefüllt mit dem sozialmoralischen Konzept einer ‘gottgewolltenÂ’ Geschlechterordnung und verknüpft mit einer Re-Formulierung und
Politisierung des traditionellen patriarchalischen Geschlechterdiskurses. Für die
Wiederherstellung der ersehnten ‘gottgewollten OrdnungÂ’ gewinnt die Ordnung der Geschlechter (vgl. Senghaas-Knobloch/Rumpf 1991: 125) zentrale Bedeutung; diese ist in den Augen der Islamisten offenkundig aus den Fugen geraten, gleichsam als Symbol und Indikator einer als chaotisch erlebten Gesellschafts- und Weltordnung. Die soziale Desintegration wird als moralische Desintegration wahrgenommen und bekämpft.
Konstitutiv für die ‘gottgewollteÂ’ Gestaltung des Geschlechterverhältnisses ist die Geschlechtertrennung. Im Hinblick auf die Türkei notiert Seufert:
"Die Trennung der Geschlechter, die große Bedeutung, die der Ehe beigemessen wird, und der Ausschluß jeglicher Form von nichtehelichem Geschlechtsleben sind die einzigen Prinzipien islamischen sozialen Lebens, auf die sich alle Rechtsschulen, Orden, Sekten, philosophischen Strömungen und politischen Gruppen genauso wie die verschiedenen Flügel der religiösen Partei zu einigen in der Lage sind. ... Auch in den kulturellen Produktionen (Filme, TV-Serien, Romane) der neuen islamistischen Szene ist es allein die Trennung der Geschlechter, die durchgängig als soziale Kon-sequenz bewussten islamischen Lebens thematisiert wird" (Seufert 1999: 152).
In ihrer Untersuchung der ‘neuen islamischen Jugend-KulturÂ’ in der Türkei stellt Saktanber fest, dass ungeachtet einiger gemeinsamer Vorlieben und geteilter populärer kultureller Formen die Jugendlichen der islamischen Szene sich von ihren säkularen Altersgenossinnen und -genossen vor allem dadurch unterscheiden, dass sie gewissenhaft die Geschlechtertrennung beachten und Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen ablehnen (vgl. Saktanber 2002: 268f).
Die Geschlechtertrennung kann mittels räumlicher oder symbolischer Regelungen
durchgesetzt werden. Im traditionellen islamischen Geschlechterdiskurs stellt eine Frau, die unverschleiert den öffentlichen ‘männlichenÂ’ Raum betritt, durch ihre erotische Anziehungskraft eine sexuelle Versuchung dar, die die Selbstbeherrschung der Männer ins Wanken bringt, die Sozialordnung gefährdet und Zwietracht und Chaos (fitna) verursacht. Um den Zusammenbruch der sozialen Ordnung zu verhindern und die Eintracht in der Gesellschaft zu wahren, muss die potentiell als sozial zerstörerisch gedachte weibliche Sexualität streng kontrolliert und durch räumliche bzw. symbolische Separierung der Geschlechter qua Verschleierung der Frau auf den privaten Bereich beschränkt und somit buchstäblich ‘domestiziertÂ’ werden (vgl. Mernissi 1987: 26ff).
Im Rahmen der Bemühungen der türkischen Islamisten, die kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft zu erringen, erhält der Einsatz islamischer Symbolik eine strategische Bedeutung. Dabei wird die ‘islamische BedeckungÂ’ einerseits zur Markierung von Differenz und sozialer Unterscheidung eingesetzt. Sie wird zum "Distinktionszeichen" (Bourdieu 1987: 752) einer aufstrebenden neuen Elite, die den Lebensstil der alten kemalistisch geprägten Machtelite radikal in Frage stellt und eine neue Gemeinschaftlichkeit mit einem neuen Werte-System schaffen will (vgl. White 2002: 192; Rumpf 2003: 203). Verschleierung und Geschlechtertrennung werden gemäß der Logik dieser aufstiegsorientierten Strategie einer Umdeutung unterzogen3 : während derartige Praktiken in der Vergangenheit weithin als ländlich/ rückständig/ungebildet galten, sollen sie nun mit dem Bedeutungskomplex städtisch/
modern/gebildet verknüpft werden (vgl. White 2002: 194).
Gleichzeitig soll die islamische Symbolik eine vereinheitlichende klassenübergreifende gemeinsame Identität für eine politische Partei schaffen, deren heterogene soziale Basis aus konservativen Unternehmern, städtischen und ländlichen Armen und aufstiegswilligen Akademikern besteht (vgl. White 2002: 193). Whites Beobachtungen bei einer Parteiveranstaltung der Tugendpartei 4 mit dem heutigen türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan als Hauptredner im Sportstadium von Izmit veranschaulichen, wie es den Islamisten gelingt, sich mittels symbolischer Politik als Partei zu porträtieren, in der soziale Unterschiede keinem Rolle spielen.
Der augenfälligste Unterschied zu den Veranstaltungen säkularer Parteien bestand demnach zum einen in der vollständigen Geschlechtertrennung im Publikum, zum anderen in der bescheidenen Einheitlichkeit der Kleidung, die soziale Unterschiede unsichtbar machte. Als abschreckendes Gegenbild wurden während der Veranstaltung Videos gezeigt, in denen krasse Gegensätze von arm und reich als nationales Problem thematisiert wurden. White kommentiert die moralisch-politische Botschaft der Inszenierung:
"Die ‘klassenlosenÂ’, sittsam bedeckten Frauen auf der Parteiveranstaltung verkörperten eine sichtbare strenge Rüge gegenüber den im Filmclip gezeigten reichen Frauen, die in kurzen Kleidern und mit nackten Armen zu sehen waren" (White 2002: 204f).
Vermittelt über die real und medial vorgeführten unterschiedlichen Frauenbilder unterstrichen die Islamisten ihr Selbstverständnis als ‘Tugend-ParteiÂ’ und präsentierten sich als Partei der sozialen Solidarität; gleichzeitig delegitimierten sie die laizistische Elite als moralisch fragwürdig und als herzlos gegenüber den Armen. Paradoxien und Widersprüche islamistischer Geschlechterpolitik Während zunächst der Aufstieg der islamistischen Bewegungen im Vorderen Orient einen empfindlichen Rückschlag für die Rechte der Frauen in der Region bedeutete, exemplarisch manifestiert im Schleierzwang und den einschlägigen frauenfeindlichen rechtlichen Regelungen im Iran, erweisen sich die Auswirkungen für die Frauen auf längere Sicht als komplex, uneinheitlich und widersprüchlich. So hat die Politisierung der Geschlechterfrage durch die Islamisten den Frauen auch neue Spielräume eröffnet, in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten und ihre eigenen Stimmen zu Gehör zu bringen. Seufert notiert:
"Tatsächlich ist der Ort der Frau in der Gemeinschaft, ihr Ausschluss aus dem öffentlichen Bereich der Männer, der springende Punkt im islamischen sozialmoralischen Milieu. Doch die (ideologische) Verteidigung dieses Milieus geschieht heute über Medien, die sich als solche an einen öffentlichen Raum richten. In diesem öffentlichen Raum wird für verschiedene Modelle richtigen Lebens gestritten, indem diese Modelle jeweils präsentiert werden. Die islamische Fraktion muss deshalb für die Verteidigung ihrer sozialen Ordnung ... die Frau präsentieren, für deren Abschließung sie eigentlich eintritt" (Seufert 1999: 129).
Die ‘islamische BedeckungÂ’, der ‘neueÂ’ Schleier, bietet nun den Frauen die Möglichkeit, massenhaft den öffentlichen, traditionell als männlich definierten Raum zu betreten und so das soziokulturell tief verwurzelte Strukturprinzip der Geschlechtersegregation faktisch aufzuheben und zugleich symbolisch fortzuführen (vgl. Sariönder 1999: 180).
Bemerkenswerterweise wird die Bedeutung der ‘islamischen BedeckungÂ’ wie auch der Geschlechtertrennung von vielen Frauen in den islamistischen Bewegungen durchaus anders eingeschätzt als von den meisten ihrer männlichen Mitstreiter. So betrachten etwa viele islamistische Aktivistinnen in der Türkei Verschleierung und soziale Separierung der Geschlechter als politische Symbole, mit denen neue soziale Identitäten und Möglichkeiten für Frauen innerhalb und außerhalb der Bewegung befördert werden können; sie fungieren in ihren Augen als Vehikel, um die traditionellen Rollenzuschreibungen zu überschreiten und politische und berufliche Aktivitäten zu ermöglichen. Für die islamistischen Männer gilt dem gegenüber eher das konventionelle Verständnis, wonach die männliche Kontrolle über die Sexualität und die Bewegungsspielräume ‘ihrerÂ’ Frauen durch die faktische bzw. symbolische Geschlechtertrennung gewährleistet bleibt (vgl. White 2002: 194f).
Für viele islamistische Aktivistinnen insbesondere auch aus den unteren sozialen Schichten bedeutet die neue politische und ‘missionarischeÂ’ Rolle Sinnstiftung, Anerkennung und Selbstbewusstsein. "Ich war auch so wie die anderen Frauen in der Nachbarschaft", erzählt eine Aktivistin der Refah-Partei, die im Istanbuler Arbeiterviertel Ümraniye lebt. "Ich saß herum und aß und unterhielt mich, aß und unterhielt mich. Aber jetzt habe ich mich selbst gefunden. Ich bin aktiv und produktiv geworden" (zit. nach White 2002: 210).
Yesim Arat sieht die besonders erfolgreiche Mobilisierungstätigkeit der Aktivistinnen der Refah-Partei darin begründet, dass es ihnen gelungen sei, die etablierten Schranken zwischen privatem und politischem Bereich und zwischen Individuum und Gemeinschaft zu durchbrechen (vgl. Arat 2003: 1). In ihrem sicheren und vertrauten Zuhause wurden Hausfrauen, die traditionell in der Politik unsichtbar waren, als Parteimitglieder gewonnen. Die Aktivistinnen der Refah-Partei knüpften an traditionelle Werte und Geselligkeitsformen von Frauen an und politisierten diese mit scheinbar ‘unpolitischenÂ’ Mitteln. In diesem Prozess erhielten die traditionellen Werte und Verhaltensmuster neue Funktionen, indem Frauen die Möglichkeit wahrnahmen, neue Quellen von Macht und Anerkennung jenseits ihrer traditionellen Rollen für sich selbst zu schaffen und neue individuelle Identitäten zu suchen jenseits der gemeinschaftlichen, religiösen Werte, die sie propagierten (vgl. Arat 2003: 2).
Wenngleich weithin anerkannt wurde, dass die Parteiaktivistinnen außerordentlich
erfolgreich in der Mobilisierung waren und weitgehend verantwortlich für den Erfolg der islamistischen Partei gerade in Arbeitervierteln wie Ümraniye, waren Frauen innerhalb der formalen Strukturen der Partei kaum repräsentiert. Die Frauenabteilungen und -kommissionen verfügten über keinerlei formalen Status. Das traditionelle Rollenverständnis der meisten islamistischen Männer ließ Frauen in offiziellen Machtpositionen der Partei nicht zu (vgl. White 2002:
210ff). Ihre Marginalisierung innerhalb der formalen Entscheidungsstrukturen der Refah-Partei glorifizierten die Aktivistinnen mit dem propagierten Selbstverständnis, sie arbeiteten zum "Wohlgefallen Gottes" und strebten nicht nach weltlichem Ruhm und Ehre (vgl. Eraslan 2001: 56). Um den Zuwachs an Anerkennung und Bewegungsspielraum, den die politische Arbeit ihnen eröffnet, nicht aufs Spiel zu setzen, verhielten sie sich innerhalb der Partei sehr angepasst. Sibel Eraslan, von 1989-1995 Vorsitzende der Frauenkommission der Refah-Partei, notierte kritisch:
"Anstatt weibliche Opposition zu üben, versuchen die Frauen, mit allen Parteigremien gut auszukommen. Die Frauenkommissionen können deshalb als Einheiten beschrieben werden, die mit Disziplin und ‘weisem SchweigenÂ’ mit allen harmonieren möchten" (Eraslan 2001: 58).
Ironischerweise wird die engagierte Basisarbeit und die innerparteiliche Unterordnung den islamistischen Frauen von ihren männlichen Mitstreitern nicht unbedingt gedankt:
"egal ob in den Medien, der Medizin, der Justiz, der Beamtenschaft oder in der Kunst: Islamistische Männer behandeln Frauen, die ein Kopftuch tragen, genauso wie in der Politik als kleine Schwestern oder Amateure, wo hingegen sie Frauen, die kein Kopftuch tragen als gleichwertige und professionelle Teampartner akzeptieren"
(Eraslan 2001: 65).
Neuerdings sind islamistische Aktivistinnen allerdings auch in die formalen Parteistrukturen vorgedrungen und stellen heute10% des zentralen Entscheidungsgremiums der AKP (vgl. Kristianasen 2003).
Die Stimmen islamistischer Frauenrechtlerinnen
Für viele gebildete junge Frauen, die die islamistische Geschlechterideologie in ihren Grundzügen mittragen und sich selbstbewusst für die Verschleierung entscheiden, bedeutet die Hinwendung zum politischen Islam eine bewusste Abgrenzung von westlichen Lebenskonzepten, Orientierungsmustern und Emanzipationsmodellen. Sie propagieren eigenwillige Frauen aus der islamischen Frühgeschichte wie etwa Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten, als Rollenvorbilder und verabschieden sich vom Leitbild der gehorsamen, unterwürfigen Frau. In ihrer Vielstimmigkeit sind die Islamistinnen augenscheinlich in der Lage, ein breites soziales Spektrum zu bedienen und so politisch Einfluss zu gewinnen.
Während die ‘alteÂ’ Rolle der Hausfrau und Mutter ideologisch aufgewertet wird, werden die neuen Rollen als Berufstätige, Studentin, Wissenschaftlerin etc. durch das Tragen des Schleiers sozialmoralisch abgesichert. Mit der ‘islamischenÂ’ Bedeckung können Frauen traditionelle Grenzen überschreiten und den öffentlichen Raum betreten, ohne die gängigen Normen ‘tugendhafter WeiblichkeitÂ’ zu durchbrechen und ihr soziales Ansehen zu verlieren.
Islamistische Frauen empfinden den Schleier nicht als unterdrückerisch, sondern als befreiend; er befreie sie von den Diktaten der Modeindustrie und den Anforderungen des Schönheitsmythos, den Zwängen der Konsumideologie, und er schütze sie vor sexueller Belästigung. Durch die Verschleierung wollen sie darüber hinaus augenfällig machen, dass Sinnlichkeit und Sexualität nur im privaten Bereich ihren legitimen Platz haben.
Islamistische Intellektuelle verbinden mit dem Schleier auch alternative Auffassungen über Körper, Sexualität und Privatheit, die westlichen Konzepten bewusst entgegengesetzt werden (vgl. Göle 1995: 31f), wie folgende Äußerungen türkischer Islamistinnen ansatzweise illustrieren:
"Im Westen demonstrieren die Frauen, indem sie sich schminken und Schmuck tragen, ihre Sexualität in größerem Ausmaß nach außen. Gleichzeitig aber wird die Sexualität dadurch geschwächt. Wir machen genau das Gegenteil und behalten uns unsere Sexualität für bestimmte Situationen vor...