Evaluationen, Kapitalinteressen und der kurze Löffel der Studierenden
Im Zusammenhang mit der studentischen Beteiligung an den von Konzernen und Hochschulestablishment betriebenen "Evaluationen der Lehre" haben die Studierenden allen Grund, misstrauisch zu sein.
Glaubt mensch den Betreibern solcher Vorhaben, so scheint es im eigenen Interesse der Studierenden sein, wenn sie an "Evaluationen", d.h. an Erhebungen zur "Qualität der Lehre" an den Hochschulen teilnehmen dürfen. Stutzig sollte allerdings machen, dass sie dazu insbesondere von denen aufgefordert werden, die ohnehin schon seit Jahren und Jahrzehnten die Bildungs- und Hochschulpolitik bestimmen. Zu diesen gehört u.a. die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), die über Evaluationen sagt, sie seien "in einem unvollkommenen, nicht preisregulierten System ... Instrumente der Befriedung" von Verteilungskämpfen. Gemeint sind dabei jene Verteilungskämpfe, die durch die andauernde Kürzungspolitik des Staates im öffentlichen Bereich ausgelöst werden. Das Großkapital, das zu einer solchen Politik seinen nicht unerheblichen Teil beiträgt, beteiligt sich über Institutionen wie die Bertelsmann-Stiftung oder das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) selbstverständlich auch an der Entwicklung von Evaluationen.
Um als Befriedungsinstrumente im Sinne der herrschenden Hochschulpolitik zu funktionieren, müssen Evaluationen zum einen mindestens den Schein der Neutralität wahren, zum anderen dürfen ihre Ergebnisse auch nicht so "neutral" ausfallen, dass sie einer bisher machtlosen Gruppe argumentative Mittel an die Hand geben und damit neue Konflikte erzeugen.
Wie das Problem gelöst wird, lässt sich an einem Beispiel zeigen: Im Sommersemester 2000 ließ der für die Psychologie an der FU Berlin zuständige Dekan D. Kleiber - dem Druck des Senats -folgend einen typischen Evaluationsbogen an die Studierenden verschicken. Im ersten Abschnitt konnte mensch seine bzw. ihre "Zufriedenheit" mit bestimmten "Aspekten der Lehre" in einer Zahl ausdrücken, u.a. hinsichtlich der "Abstimmung des Lehrangebots auf die Prüfungsanforderungen". Damit ist implizit unterstellt, dass eine solche Abstimmung unter allen Umständen sinnvoll sei, während tatsächlich Prüfungsanforderungen von nicht wenigen Prüfenden auf bloßes Abfragewissen reduziert werden; die Frage, ob die jeweiligen Prüfungsanforderungen und das Lehrangebot überhaupt auf der Höhe wissenschaftlicher Argumentationen und Auseinandersetzungen stehen, wird nicht gestellt. Wenn es ferner möglich ist, die "Vorstrukturiertheit des Studienplans" mit -3 als "zu niedrig" zu bewerten, dann stellt sich die Frage nach den Konsequenzen: Bedeutet es, dass eventuell die "Strukturierung erhöht", also die Freiheit des Studiums beschränkt werden muss, oder kann es auch heißen, dass der Bedarf nach Vorgaben eine zu problematisierende Antwort ist auf institutionell bedingte Lernbehinderungen?
Ähnlich unklar ist die Frage nach der "Aktualität der vermittelten Inhalte" bzw. Lehrmittel. Es ist wissenschaftlich begründbar, die gesellschaftsanalytischen Forschungen z.B. eines Karl Marx als hochaktuell aufzufassen, obwohl sie, wie man weiß, bereits im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurden. Ob der "Praxisbezug" des Studiums ausreichend ist, kann man nur dann beurteilen, wenn klar ist, was darunter zu verstehen ist: die Fähigkeit, gesellschaftliche Anforderungen unhinterfragt zu erfüllen (in Management, Militär, Schule etc.) oder das kritische Unternehmen, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse aufzudecken und ihre Wirkungen zu sabotieren?
Die "Qualität der Lehre" ist in der Evaluation insgesamt quantitativ reduziert und qualitativ unbestimmt. Faktisch reichen die Formen des Lernens vom verschulten Curriculum bis zu Seminaren, in denen zwischen Studierenden ein gleichberechtigtes und wechselseitiges Lernverhältnis besteht, das es den Beteiligten erlaubt, Lerngegenstände selbsttätig und kritisch zu konstituieren und anzueignen; die Qualität der Lehrinhalte reicht von dominierenden positivistischen bis zu finanziell marginalisierten marxistischen Ansätzen.
Nicht nur durch solche Unbestimmtheiten, sondern auch durch das methodisch unhaltbare Verrechnen solcher Skalenwerte erzeugt die Evaluation Pseudoergebnisse (sog. Artefakte), insbesondere wenn aus konkurrierenden Beurteilungen "Durchschnittsprofile" erstellt werden, die tatsächlich kaum jemand angekreuzt hat.
Verzicht auf Auseinandersetzung
Die extreme Mehrdeutigkeit der Daten erlaubt den Betreibern der Evaluation eine beliebige Interpretation. Die Durchsetzung konkurrierender Auffassungen z.B. vonPraxisrelevanz wird dadurch verhindert, dass die bereits herrschenden Gruppen faktisch das Deutungsmonopol beanspruchen und sich dabei auf eine neoliberale Hegemonie stützen können. Äußerungen zu wirklich gefährlichen Themen wie den Inhalten des Studiums, den Lernformen, den Prüfungsanforderungen oder der finanziellen Ausstattung der Hochschule entthematisiert die Evaluation. Zugleich wird der Widerstand gegen die herrschenden Gruppen enorm erschwert, da sich deren Politik ja auf Daten beruft, die von einer mehr oder weniger großen Zahl von Studierenden selbst produziert wurden. Diese Daten können aufgrund der Struktur der Evaluation der herrschenden Hochschulpolitik nicht widersprechen, sie können aber zu deren scheinbarer Bestätigung verwendet werden. Z.B. könnte die überwiegend "schlechte" Beurteilung eines Studiengangs dahingehend gedeutet werden, dass dessen Lernformen und -inhalte noch nicht genügend an an das Ziel angepasst sind, die eigene Arbeitskraft unter flexiblen, d.h. nahezu allen Umständen zu verkaufen.
Die Evaluation ist somit ein Mittel zur Zerstreuung von Widerstand und zur Organisation von tatsächlicher oder scheinbarer Zustimmung. Die Gewalt des Kapitals ist nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Maßstab. Die Zensur als Form der Bewertung, welche in Prüfungen die Macht der etablierten scientific community über die Studierenden besiegelt, wird durch die Evaluation von den Studierenden selbst bekräftigt. Die "Studierenden zensieren die Lehrenden mit nicht-inhaltlichen Kriterien, später werden die Lehrenden als Prüfende die Studierenden zensieren, mit Zahlen, wobei die Zahlen sich u.U. danach richten, ob die Prüfungskandidaten "Wissen" so reproduzieren können, wie es der jeweiligen Sicht des Prüfenden entspricht. Diese Praxis ist an den Schulen vielfach und umfassend kritisiert worden - sie entspricht einer Universität nicht" - jedenfalls nicht einer, an der die Praxis der Gewinnung von Erkenntnissen ihre kritische Funktion behalten soll.
Statt dass die Betroffenen Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Studiums selbst führen, wird mit der Evaluation die entscheidende Initiative der "auswertenden" Obrigkeit überlassen, wie dem von den etablierten Professoren abhängigen Dekanat bzw. dem vom Senat bestellten Wissenschaftsrat. Politisch ausgetragene Interessenkonflikte können vor diesem Hintergrund leicht als "Grabenkämpfe", "Besitzstandswahrung", "persönliche Animositäten", "Ideologie" etc. diffamiert werden.
Dabei können die herrschenden Rechtskräfte ihren Bezug auf die Begriffe "deutsch" bzw. "Deutschland" je nach Situation variieren: Jubel über "Deutschland" liegt nah bei der Kritik an deutscher "Zurückgebliebenheit" hinter dem weltweiten, US-amerikanisch dominierten Neoliberalismus bzw. Kapitalismus. Einerseits kann man feststellen: "Das ideologische Pendant zum Begriff der Evaluation der deutschen Universität ist die Rede vom "Standort Deutschland", der, wie Wilhelm Zwo, letzter Kaiser von Deutschland, keine Klassen mehr, sondern nur noch Deutsche kennt (eine Blickverkürzung, die Wilhelm Zwo und die heutigen Standortstrategen mit manchen Linken gemeinsam haben, die nur noch von "den" Deutschen reden, wenn sie politische Verhältnisse in Deutschland meinen)." Andererseits diffamierte z.B. der Rektor der TU Braunschweig den Protest gegen eine Lehrveranstaltung, in der die Thesen des "Euthanasie"-Philosophen Singer unkritisch rezipiert wurden, als Ausdruck "einer gewissen deutschen Provinzialität". Auf gleiche Weise argumentierte Schuh im Bezug auf Proteste gegen Singer.
Anteil am Kuchen?
Die Tatsache, dass die Bertelsmann-Stiftung und das CHE Evaluationen unterstützen und aktiv vorantreiben, gibt Grund genug, diese Institutionen des Kapitals näher zu untersuchen.
Mit 21,5 Mrd. DM Umsatz und 905 Mio. DM Gewinn im Jahr 1996 ist der Bertelsmann-Konzern neben Disney der zweitgrößte Medienkonzern der Welt. Zu ihm gehören zahlreiche Buchverlage, darunter Goldmann und Siedler, Zeitschriften (z.B. Stern, Brigitte, Capital, TV Today, Anteile am Spiegel), Zeitungen (z.B. Berliner Zeitung, Die Zeit usw.), Plattenfirmen (BMG) und Beteiligungen bei RTL2, Vox, Super RTL usw. Die Bertelsmann-Stiftung besitzt einen Konzernanteil von 68,8%. Sie unterstützt "in gesellschaftspolitischer Perspektive flächendeckende Initiativen (...). Dementsprechend reichlich und z. Zt. rapide wachsend ist ihr Budget: es beträgt 1998/99 ... 83 Mio. DM, elf Mio. mehr als im letzten Geschäftsjahr" . Das CHE wiederum wurde 1994 von der Stiftung und auf Mitbetreiben der HRK gegründet und mit einem Jahresetat von zwei bis drei Mio. DM versehen. Im Beirat des CHE sitzen u.a. der Vorstandsvorsitzende des Bertelsmann-Konzerns Wössner, ein Vorstandsmitglied der OBI AG, zwei Wissenschaftsminister, der HRK-Präsident Landfried und der oben zitierte jetzige Vizepräsident der europäischen Rektorenkonferenz Erichsen; im vergangenen Jahr gehörte auch der Vizepräsident des BDI zu diesem Kreis. Das CHE mischt direkt in der Bildungspolitik der Länder Baden-Würtemberg, Niedersachsen und Thüringen mit. Nach eigenen Angaben führt es derzeit etwa 23 Projekte an Hochschulen selbst durch, darunter neben Evaluationen auch "strategische Positionierungen", "Strukturentwicklungen", "Qualitätsmanagement", "Profilbildungen" usw. Insgesamt vertritt es inhaltlich die Interessen der Kapitalverbände und setzt allmählich entsprechende Forderungen durch, z.B. die weitere Beschränkung des Hochschulzugangs, die Privatisierung der Hochschulfinanzierung (wobei Studiengebühren ein Teil dieser Privatisierung sind bzw. wären), die Einführung von Globalhaushalten, die Beseitigung demokratischer Strukturelemente und eben die Durchführung von Evaluationen. Die äußerst guten Kontakte des CHE zur Bundesregierung dürften durch den stattgefundenen Parteienwechsel nicht gelitten haben.
Eine solche Politik mag, was die Studierendenschaft betrifft, konservativen Fraktionen nützen, dem Interesse der Gesamtheit steht sie jedoch schroff entgegen, weil sie diese Gesamtheit selbst zu reduzieren versucht. Sich auf die Methoden der herrschenden Politik einzulassen, mag im Einzelfall und kurzfristig taktisch in Frage kommen, langfristig und insgesamt ist es für die linken oder auch nur demokratischen Kräfte an den Hochschulen schädlich. Es wäre fatal, reformistischen Illusionen zu huldigen: Wer mit dem Teufel essen will, muss einen langen Löffel haben, allerdings fehlt den Studierenden ein solches Gerät. Die Fixierung auf einen Anteil an einem verkorksten Kuchen ist angesichts der konservativen Revolution des Neoliberalismus zwar verständlich, aber kein Ausweg aus der gefährlichen Situation, sondern lediglich der Köder in der Falle.
Michael Zander studiert an der FU Berlin
(Forum Wissenschaft 1/2001)