Des Rätsels Lösung

Bei der Sichtung und Auswertung des Materials in den Moskauer Archiven
des Verteidigungsministeriums und des Sicherheitsdienstes war Eile geboten.
Schließlich sollte das Buch »Das Rätsel des Jahres 1937« von Nikolai Welikanow
bereits zum 70. Todestag von Wassili Blücher, der sich 2008 jährte und
nicht erst zum bevorstehenden 120. Geburtstag des ersten Marschalls der Sowjetunion
und Trägers des ersten in Sowjetrußland verliehenen Rotbannerordens,
herauskommen.
Das Geburtsjahr von Wassili Blücher, das ist nunmehr belegt, ist nicht, wie
in vielen Lexika aus Sowjetzeiten vermerkt, 1889, sondern 1890. Anhand der
erstmals zugänglichen Archivdokumente rekonstruiert Welikanow die Ereignisse
nach den Kämpfen an der japanischen Grenze – die Ende Juli 1938 durch
eine Provokation der sowjetischen Grenztruppen und nicht durch eine Provokation
der Japaner an der Grenze am Chasansee ausgelöst wurden –, die Abberufung
von Blücher, der sich als unfähig erwies, »die Japaner vernichtend
zu schlagen« und seine anschließende »Untersuchungshaft«.
Blücher hat, in diesem Punkt sind alle zuvor veröffentlichten Studien – auch
der Bericht der vom Politbüro des ZK der KPdSU eingesetzten Rehabilitierungskommission
über die »antisowjetische trotzkistische Militärorganisation« – ungenau, das Innere Gefängnis der Lubjanka seit seiner Verhaftung nie
verlassen. Er ist nicht im berüchtigten Lefortowo-Gefängnis erschlagen worden,
sondern in der Lubjanka.
Was Blüchers Kindheit und Jugendjahre betrifft, hält Welikanow kaum
neue Informationen bereit. Dafür zeichnet er anhand der Archivdokumente
sowohl die Biographie Blüchers als Kommandeur im Bürgerkrieg und als Militärberater
in China präziser nach, als es bisher möglich war. Er nennt die Namen
der Militärs und Politiker, die an der Seite des Marschalls agierten. Ihre
Haltung und ihre Auseinandersetzungen mit Stalin wirkten sich auf Blüchers
Schicksal aus. Die »Verschwörung« der Militärs sollte dem im Führungszirkel
um Stalin entworfenen Prozeßszenario folgend mit der angeblich von den
Rechten um Bucharin geplanten »Palastrevolution« verbunden werden.
In diesem Zusammenhang sind die Hinweise auf den schwelenden Konflikt
mit Lew Mechlis, Redakteur der »Prawda« und verantwortlich für die Politverwaltung
der Roten Armee über die Auswertung des Bürgerkriegs aus Anlaß
des 15. Jahrestages des Sieges bei Perekop 1935, die Tätigkeit Blüchers als
Militärberater in China und seine Kontakte mit den in Ungnade gefallenen Mitgliedern
der Parteiführung aufschlußreich.
Der schwerkranke Blücher war achtzehn Tage in Haft. In dieser Zeit wurde
er 21 Mal verhört, sieben Verhöre leitete Berija persönlich. Nur zehn von
ihnen – jene, die im Nebenzimmer von Berijas Kabinett stattfanden – sind im
Dienstbuch vermerkt, in der Akte ist jedoch nur ein Vernehmungsprotokoll
überliefert. Es enthält Hinweise auf die Gegenüberstellung mit der geschiedenen
Frau aus zweiter Ehe, die über die Verbindungen ihres Mannes zu Rykow
aussagt. Mit dem »Kronzeugen« aus der Militärführung, der die U-Haft nicht
überlebte, wurde auch das Szenario des geplanten vierten Schauprozesses –
gegen die »Kominternverschwörer« – beerdigt.
Doch nicht nur der militärischen Laufbahn des Marschalls, auch dem Lebensweg
seiner Angehörigen und Kinder, die aus den drei Ehen hervorgingen,
wird die bisher versagte Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Ausführungen
über deren Schicksal fügen der Geschichte des Stalinismus ein weiteres
Kapitel zum Thema Sippenhaft hinzu.
Weil zum Zeitpunkt der Verhaftung von Wassili Blücher seine Eltern und
die Schwestern Alexandra und Jelisaweta nicht mehr am Leben waren, konnten
Mitarbeiter des NKWD nur den Bruder, Pawel Konstantinowitsch Blücher
festnehmen. Der Geschwaderkommandeur der Luftwaffe hatte angeblich vor,
mit seinem Bruder nach Japan zu fliehen, wie es kurz zuvor der Leiter der Gebietsverwaltung
des NKWD in Fernost getan hatte. Die Ehefrau des Piloten,
Lidija Bogutzkaja, wurde zusammen mit ihren Ehemann am 22. Oktober 1938 verhaftet und am 14. März 1939 zum Tode verurteilt. Pawel ist nicht 1943 im
Gulag hinter dem Ural verstorben, wie Welikanow angibt, sondern in Moskau
erschossen und zusammen mit den anderen Angehörigen im März 1939 auf
dem Donskoj-Friedhof verscharrt worden. Das geht aus den 2005 veröffentlichten
Erschießungslisten hervor.
Blüchers Lebensgefährtinnen Galina Pokrowskaja und Galina Koltschugina
wurden im März 1939 zum Tode verurteilt und erschossen. Gedenktafeln auf
dem Donskoj-Friedhof erinnern an Koltschugina und ihren Ehemann. Glafira
Beswerchowa, in dritter Ehe mit Blücher verheiratet, wurde zu Zwangsarbeit
in Kasachstan verurteilt. Nach Ablauf der Haftstrafe im Karlag durfte sie die
Region nicht verlassen. Von den Kindern haben vier die Stalinzeit in Kinderheimen
und die erneuten Verhaftungen »als Angehörige von Volksfeinden«
in den fünfziger Jahren überlebt, von zwei Kindern verliert sich die Spur, sie
bleiben verschollen.
Welikanow wendet sich mit seinem Buch nicht zuletzt an jene Mitbürger,
die im März mit Blumen zur Kremlmauer oder in den Park hinter der Neuen
Tretjakowgalerie pilgern, um sie an den dort abgestellten Denkmalen für Stalin
niederzulegen. Diese Blumen gehören – mit Blick auf die hier geschilderten
Ereignisse – eigentlich auf das Grabfeld 1 auf dem Donskoj-Friedhof in
Moskau.
Nikolai Welikanow, Ismena Marschalow: Der Verrat der Marschälle, Moskau,
Algoritm 2008, 400 Seiten (Sagadka 37-goda / Das Geheimnis des Jahres
1937); zum Weiterlesen: Konstantin G. Paustowski, Wassili K. Blücher: Der
lange Marsch. Partisanen und Soldaten im russischen Bürgerkrieg. Mit einem
Text von Gawriil W. Enborisow und einem Nachwort von Nadja Rosenblum,
herausgegegen von Wladislaw Hedeler, BasisDruck Berlin 2009, 128 Seiten,
14 Euro