85 Jahre nach den „Euthanasie“-Morden
Ab dem 1. September 1939 setzte die deutsche NS-Regierung – parallel zum Überfall auf Polen und Weltkriegsbeginn – einen Erlass Hitlers zur Ermordung von Menschen mit physischen und psychischen Behinderungen um. Den „Euthanasie“-Morden fielen in den folgenden Jahren fast 300.000 Menschen zum Opfer.
Anlässlich des 85. Jahrestages finden im September 2024 in mehreren Städten Veranstaltungen und Ausstellungen zur Erinnerung an die Opfer der „Euthanasie“-Morde (siehe Kasten) statt. Heute nimmt die Diskriminierung wieder zu, bei der behinderte Menschen Vorurteilen, Benachteiligung und Vorbehalten ausgesetzt sind, weil aus der Behinderung auf den Wert eines Menschen geschlossen wird. Für behinderte Menschen ist die Kontinuität der Menschenfeindlichkeit und die Gefahr durch die AfD und andere Wiedergänger des Faschismus extrem. Das macht der folgende Beitrag zweier direkt vom Ableismus betroffener Aktivistinnen deutlich. (GWR-Red.)
Am 27. Mai 2024 wurde ein faschistischer Anschlag auf ein Behindertenwohnheim der Lebenshilfe in Mönchengladbach verübt. Ein Stein mit der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ zerstörte eine Scheibe der Eingangstür. Ein klarer Aufruf, Menschen mit Behinderung zu ermorden, mit NS-Sprache, die an die T4-Aktion (1) erinnern soll, die Vernichtung von Behinderten durch die Nazis.
Der Rechtsruck der Gesellschaft begünstigt den Hass auf behinderte Menschen, eugenische Sprache – und schließlich Handlungen. Der Nährboden wurde durch die ableistischen Strukturen der bestehenden Gesellschaft bereitet. Das Ausmaß dieser Auswüchse hat man in Mönchengladbach sehr gut gesehen.
Euthanasieprogramme im Nationalsozialismus
Laut Statista wurden im Dritten Reich zwischen 1933 und 1945 mehr als 600.000 Menschen Opfer von Euthanasieprogrammen, etwa 300.000 behinderte Menschen wurden durch die Nazis ermordet.
Der systematische Massenmord der Nazis an tausenden Kindern begann mit einem Runderlass vom 18. August 1939, wenig später unter der „Aktion T4“ auch an Erwachsenen.
Bereits im Juli 1933, sechs Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, erließ die NS-Regierung im Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es trat am 1. Januar 1934 in Kraft und erlaubte erstmals in Deutschland die Zwangssterilisation. Menschen, die nicht den „Rasseidealen“ der Nazis entsprachen, sollte so die Möglichkeit verwehrt werden, Kinder zu zeugen. Bis zu 400.000 Menschen wurden auf Grundlage dieses faschistischen Gesetzes während der NS-Diktatur zwangssterilisiert. Betroffen waren Menschen mit psychischen Krankheiten oder mit geistigen und körperlichen Behinderungen, außerdem Menschen, die als „asozial“ oder „minderwertig“ stigmatisiert wurden, zum Beispiel Alkoholiker*innen.
Im Oktober 1939 ermächtigte Hitler Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt zur Ermordung von behinderten Menschen. Um das zu verschleiern, wurde der Begriff „Euthanasie“ („schöner Tod“) verwendet. Die Nazis haben den Todesgrund bewusst gegenüber den Familien verschleiert.
Die Aktion T4, die bekannteste systematische Ermordung behinderter Menschen, war eine Vorstufe zur Massenvernichtung von Jüd*innen und anderer Minderheiten. Die Gaskammern wurden zuerst an behinderten Menschen erprobt; die erste T4-Tötungsanstalt war die Nerven- und Heilanstalt Grafeneck. 70 000 Menschen wurden dabei ermordet. Nach kirchlichen Protesten wurde die Aktion unter der Bezeichnung 14F13 dezentral fortgesetzt und dabei 20.000 Menschen ermordet. Weitere 100.000 fielen dezentralen Ermordungen der Nazis zum Opfer. Weiter wurden 5.000 behinderte Kinder vernichtet. (2)
Es hat sehr lange gedauert, bis die Opfer anerkannt wurden, aber es gab keine Entschädigungszahlungen. Erst seit 2014 gibt es ein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasiemorde in Berlin. (3) Dies ist insbesondere Sigrid Falkenstein zu verdanken. (4) Sie ist Autorin zum Schwerpunktthema „Euthanasie“ im Nationalsozialismus. Zudem ist sie die Nichte von Anna Lehnkering, die 1940 in der Gaskammer von Grafeneck ermordet wurde.
Behinderte als eine Last?
Viele Aspekte dieses faschistischen Gedankenguts begleiten uns bis zur Gegenwart.
Neben Mönchengladbach sorgten 2021 die Morde im Oberlinhaus Potsdam für Schlagzeilen. Eine Pflegerin ermordete vier Bewohner*innen, Lucille H, Andreas K, Martina W, Christian S, und verletzte ein*e Bewohner*in schwer. Ihr Tatmotiv war die „Erlösung von den Qualen“. Menschen mit Behinderungen werden immer noch als Belastung der Gesellschaft wahrgenommen, das knüpft an den Nazi-Begriff zu Ballastexistenzen an (5). Der Propagandabegriff wurde in der Zeit der Weimarer Republik im Zuge der Weltwirtschaftskrise geprägt. Damals wie heute müssen Menschen leistungsfähig sein. Entsprechen sie nicht den Leistungserwartungen der kapitalistischen Produktionsweise werden sie als defizitär betrachtet und ausgesondert. Das vorherrschende Bild von Behinderung ist das individuelle Modell (medizinisches Modell), was diese als Defizit sieht und die Menschen auf ihre Diagnose reduziert. Im Gegensatz dazu steht das soziale Modell, welches Behinderung als gesellschaftlich konstruiert ansieht. Dieses ist jedoch in den Köpfen der Menschen weniger präsent.
Die Folge sind Sonderwelten wie Förderschulen, Heime und Werkstätten für Behinderte. Behinderte Menschen werden gezwungen, sich dem Leistungsdruck der kapitalistischen Gesellschaft zu unterwerfen. Davon profitieren große Konzerne maßgeblich, indem sie Menschen in sogenannten Behinderten-Werkstätten für ca. 1,35 Euro die Stunde ausbeuten. In unserer Gesellschaft gilt das Motto: „Kannst du nichts, bist du nichts!“.
Auch der Sonderschulbegriff ist stark durch die Nazizeit geprägt worden.
Das oben erwähnte Oberlinhaus ist Teil dieser Sonderwelten und Teil der Behindertenhilfe-Industrie mit Heimen, Werkstätten, Klinik, etc.
Auswüchse der kapitalistischen Verwertungslogik sind auch im neuen Staatsangehörigkeitsgesetz verankert. Voraussetzung für die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit ist, dass die Antragstellenden finanziell unabhängig sind. Dies ist eine große Barriere insbesondere für behinderte Menschen.
Triage
Auch im Zuge der Coronapandemie hat sich die Wertbeimessung von behinderten Menschen gezeigt. Es wurden Diagnosen für den Ausschluss von lebensrettenden medizinischen Maßnahmen genutzt, um nicht behinderten Menschen einen Vorzug zuzugestehen, weil sie kapitalistisch verwertbarer sind als behinderte Menschen. Es wurde öffentlich nicht so ausgesprochen, aber faktisch in zahlreichen Ländern so gehandhabt auf Grund ableistischer Strukturen. Wenn das Gesundheitssystem überlastet ist, treten diese Aussonderungsmechaniken besonders hervor. Dies wurde auch als „Triage“ bezeichnet.
Selbst viele Linke scheinen das nicht verstanden zu haben. Solidarität mit Menschen, die durch eine Coronainfektion besonders gefährdet sind, fehlt heute in praktisch jedem linken Raum, da Corona für die meisten vorbei ist. Bewusstsein dafür kommt erst, wenn sie selbst an Longcovid erkranken.
Aussonderung vor der Geburt
Heutzutage werden Behinderte sogar vorgeburtlich ausgesondert. Gebärende haben die Möglichkeit, ein pränatal diagnostisches Verfahren durchführen zu lassen, um bestimmte Beeinträchtigungen zu erkennen. Die Folgen sind verheerend. Neun von zehn Eltern, die den Test (NIPD, Nicht invasive Pränataldiagnostik) machen, entscheiden sich dafür, das Kind mit Down-Syndrom nicht zu bekommen. Die Praxis führt langfristig dazu, dass keine Menschen mit Down-Syndrom mehr geboren werden. Das ist Ausdruck der ableistischen Verhältnisse, in denen wir leben: „Was der Norm nicht entspricht, muss weg.“
Menschen mit Down-Syndrom leisten aktiven Widerstand gegen den NIPD Test. Nathalie Dedreux, eine bekannte Aktivistin mit Down-Syndrom, startete 2019 eine Petition dagegen. „Ihr sollt nicht mehr so viel Angst vor uns haben. Es ist doch cool auf der Welt zu sein mit Down-Syndrom.“ (6)
Heute können alle Menschen, die es wollen, leider diesen Test auf Kosten der Krankenkasse durchführen lassen, Betroffene wurden nicht gehört.
Selbstbestimmung
Behinderte Menschen und ihre Selbstvertretungsorganisationen (7) kämpfen seit Jahren für ein selbstbestimmtes Leben fern ab von Heimen und Behindertenwerkstätten. Nun sollen aber Menschen, die auf intensive Pflege, wie künstliche Beatmung, angewiesen sind, dauerhaft stationär untergebracht werden, aufgrund von neuen bürokratischen Hürden und Einsparungsmaßnahmen mit dem IPReG (Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz)! (8).
Jens Spahn machte sich stark für das Gesetz mit vor Ableismus strotzenden Argumenten. Ein nicht-behinderter Menschen will wissen, was für Betroffene am besten sei. Diese sagen aber: „Nichts über uns ohne uns!“
Das Motto richtet sich auch an die Lebenshilfe. Nach dem Anschlag in Mönchengladbach rief sie zu einer Solidaritätsveranstaltung auf und veröffentlichte eine Liste der Redner*innen, freute sich dabei über offizielle Vertreter*innen von Lebenshilfe und Politik. Auf der Redner*innenliste stand lediglich der Bundesbeauftragte Jürgen Düsel als behinderter Mensch.
Aktion in Mönchengladbach
Daran übten Menschen u.a. von der informellen Aktionsgruppe rollfender Widerstand (9) im Vorfeld Kritik. Eine Person aus der Gruppe bat darum, als behinderter Mensch eine Rede halten zu dürfen. Schließlich galt der Anschlag, wie an der hinterlassenen Botschaft erkennbar, den Behinderten selbst und nicht den Mitarbeitenden, die Botschaft galt der gesamten Behindertencommunity. Die Person erhielt eine Absage von der Lebenshilfe.
Die Aktivist*innen entschieden sich deshalb dafür, die Solidaritätsveranstaltung der Lebenshilfe am 6. Juni 2024 in Mönchengladbach solidarisch-kritisch zu besuchen.
Solidarisch mit den Bewohner*innen und direkten Opfern des faschistischen Anschlages und kritisch gegenüber dem Heimbetreiber und seinen Umgang mit dem Anschlag.
In einem Interview hatte Özgür Kalkan, hauptamtlicher Geschäftsführer der Lebenshilfe Mönchengladbach Wohnen gGmbH, der LebensFreude gGmbH und der Lebenshilfe Mönchengladbach Service gGmbH, der Taz gegenüber, mehr Mittel für die Inklusion gefordert und die Heimpolitik mit Inklusion gleichgesetzt.
Die Abschottung von Menschen mit Behinderung in Sonderwelten wie Sonderschule, Heim oder Werkstatt ist jedoch das Gegenteil von Inklusion. Und auch kein Teil der Lösung.
Folgerichtig entschieden sich die Aktivist*innen, die Bühne innerhalb der Kirche, wo die Veranstaltung stattfand, zu betreten, nahmen kurz das Mikrofon an sich und zeigten ein Banner mit den Forderungen „Werkstätten abschaffen“, „Behinderten zuhören“ und „Mindestlohn für alle“. Die Aktivist*innen wurden jedoch übertönt, rasch unterbrochen und zur Seite gedrängt. Nichts Neues.
AfD, eine Gefahr auch für behinderte Menschen
Wenn die Rechte und die AfD an Einfluss gewinnen, bedeutet das für behinderte Menschen einen massiven Einschnitt in die erkämpften Grundrechte, wie zum Beispiel die persönliche Assistenz, die es Betroffenen ermöglicht in den eigenen vier Wänden zu leben. Inklusion an Schulen will die AfD bekämpfen bzw. verhindern. Neonazi Höcke bezeichnete im Sommerinterview 2024 auf MDR die Inklusion als eines der „Ideologieprojekte“, von dem man das Bildungssystem „befreien“ müsse. Solche Projekte würden „unsere Schüler nicht weiterbringen“ und „nicht leistungsfähiger machen“. (10) Höcke deutet hierbei indirekt auf den in der Nazizeit geprägten Begriff der „Ballastexistenzen“. In der Welt der AfD ist behindertes und queeres Leben unerwünscht. Emanzipatorische Kämpfe sind ihr ein Dorn im Auge. Das Erstarken der AfD bedeutet jetzt schon die Zunahme von Gewalt gegen behinderte Menschen. Ableismus tötet.
Deshalb bleibt Antifaschismus notwendiger denn je. Wir müssen uns diesen Tendenzen aktiv widersetzen und die antiableistischen, antifaschistischen und antirassistischen Kämpfe verbinden. Und viel mehr!
Joni und Eichhörnchen
Anmerkungen:
1) Die Zentraldienststelle T4 war die Bezeichnung einer Tarnorganisation der mit der Durchführung der Krankenmorde in der NS-Zeit beauftragten „Kanzlei des Führers“ (KdF), die alle Bereiche und Mitarbeiter*innen umfasste, die räumlich außerhalb der KdF ihren Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 (T4) hatten. Aufgabe war die Durchführung der Erwachsenen-„Euthanasie“ („Aktion T4“) und die „Häftlings-Euthanasie“ („Aktion 14f13“).
3) Denkmalseite: https://www.t4-denkmal.de/
4) Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Sigrid_Falkenstein
5) Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Ballastexistenzen
7) Selbstvertretungsorganisationen wie z.B. ISL e.V.: https://isl-ev.de/
8) Betroffene berichten über ihre Erfahrung: https://aki-hkp.de/
9) Blog der Gruppe: https://fightableism.noblogs.org/
10) Höckes Aussage: https://www.youtube.com/watch?v=-tmW0IxWe-I
[Kasten:]
Opfer der „Euthanasie“-Morde
Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen in Berlin und Münster
Der Hitler-Erlass zur Ermordung von Menschen mit physischen und psychischen Behinderungen wurde ab dem 01. September 1939 von den Nazis und ihren Schergen umgesetzt. Den „Euthanasie“-Morden fielen in den folgenden Jahren fast 300.000 Menschen zum Opfer. Weitere 350.000 bis 400.000 von den Nazis ebenfalls als „lebensunwert“ stigmatisierte Menschen wurden zwangssterilisiert.
Anlässlich des 85. Jahrestages finden im September 2024 in mehreren Städten Veranstaltungen und Ausstellungen zur Erinnerung an die Opfer der Euthanasie-Morde statt, zum Beispiel in Berlin und Münster.
Berlin: 10 Jahre Gedenk- und Informationsort für die Opfer der „Euthanasie“-Morde
Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Gedenk- und Informationsorts für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, am 2. September 2024, luden der Förderkreis Gedenkort T4 e.V. und die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu einem Festakt (1) in das Hauptfoyer der Philharmonie ein.
„Als ‚lebensunwert‘ entwürdigt“
Unter diesem Titel finden bis zum 29. September 2024 an drei Orten in Münster vier Ausstellungen und zahlreiche Veranstaltungen (2) zur Erinnerung an die Opfer der NS-Zwangssterilisierungen und „Euthanasie“-Morde statt:
Die Wanderausstellung „Die nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde“ des „Gedenk- und Informationsortes Tiergartenstraße 4 in Berlin“ ist in der Kreuzkirche Münster zu sehen.
In der LWL-Klinik Münster wird die Ausstellung „Lebendig! Skulpturen und Bilder aus der Psychiatrie“ gezeigt.
„Ich lehre euch Gedächtnis“, eine Ausstellung aus dem Nachlass des von den Nazis 1938 zwangssterilisierten Anarchisten und Antifa-Aktivisten Paul Wulf (1921-1999) ist in der Apostelkirche Münster, Neubrückenstraße 5, zu sehen. Sie wird am 9. September um 20 Uhr mit einem Vortrag von GWR-Redakteur und Freundeskreis-Paul-Wulf-Mitglied Bernd Drücke eröffnet.
Anmerkungen:
1) Weitere Infos: https://www.stiftung-denkmal.de/aktuelles/terminankuendigung-gedenkort-fuer-die-opfer-der-euthanasie-morde/
2) Weitere Infos: https://ms-alternativ.de/node/4969
https://ev-kirchenkreis-muenster.de/wp-content/uploads/lebensunwert_flyer_RZ_02_web.pdf
https://www.wn.de/muenster/euthanasie-ns-opfer-ausstellung-3088480?pid=true
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 491, September 2024, www.graswurzel.net