Mythos, Macht und Intersections

in (04.11.2021)

[…] it feels as if we’re in a particular moment for black artists, and even more specifically black female artists.[i] Verschränkungen von Gender und Race gelten als Basis der Debatten um Intersektionalität und sind seit vielen Jahren Teil des künstlerischen und aktivistischen Diskurses. Jüngst erzielte die Benennung von Simone Leigh als erste afroamerikanische Vertreterin der USA auf der Venedig Biennale mediale Aufmerksamkeit.[ii] Auch Organisationen wie die Feminist Art Coalition oder Art+Feminism forcieren kritische Debatten hierzu und fordern die Sichtbarkeit diskriminierter Gruppen in Kunstinstitutionen.[iii]

Die demgegenüber marginale Berücksichtigung von „intersections“ in den deutschsprachigen Kunstwissenschaften sowie der Kunstsoziologie verwundert. Umso mehr, als das Thema seit vierzig Jahren in wissenschaftlichen Kontexten kursiert und in der Genderforschung international auf der Agenda steht.[iv]
Erklären lässt sich diese Missachtung nicht zuletzt im Mythos einer vermeintlichen Egalität, die Hervorhebung erreichter
Umwälzungen dient dabei der Ausblendung persistenter Diskriminierungen. Angela McRobbie diskutiert solche Historisierungen von Geschlechterasymmetrien, die mit der Offerte einer rhetorischen Gleichheit einhergehen, auch als Teil einer postfeministischen Strategie.[v]
Darüber hinaus lässt sich ein Machtdefizit dieses wissenschaftlichen Randthemas identifizieren, wobei das vergleichsweise geringe „Karrierepotenzial“ die Entwicklung eines weitgehend von Frauen geführten Nischendiskurses mit befördert. Pierre Bourdieu etwa ignorierte die Geschlechtervariable sowie deren Verschränkungen mit Klasse viele Jahrzehnte, obgleich er deren zentrale Bedeutung als soziales Struktur- und Ungleichheitsmerkmal bereits in Studien der 1960er Jahre erkannte.[vi]
Dabei ist das analytische Potenzial enorm. Als nur ein Beispiel der „intersections“ von Geschlecht und sozialer Herkunft eröffnete die kulturelle Sphäre bereits im 19. Jahrhundert Frauen, die qua ihrer Familie über die notwendigen Kapitalien verfügten, einen Möglichkeitsraum, meta-offizielle gesellschaftliche Positionen einzunehmen. Auch im Anschluss an Bourdieu erschließt sich hier eine Prädisposition von Frauen der Bourgeoisie, die Rolle von Vermittlerinnen zwischen den herrschenden und beherrschten Fraktionen einzunehmen, die sie insbesondere über Salons ausüben konnten.[vii] Relikte dessen finden sich bis heute in der horizontalen Differenzierung von Professionen, wobei Frauen in vermittelnden gegenüber produzierenden Positionen eine sehr viel höhere Sichtbarkeit erlangen.[viii] Solche Verschränkungen, bei Petra Frerichs und Margareta Steinrücke als Klassengeschlecht und Geschlechterklassen diskutiert, gaben im Entstehungskontext der intersektionalen Forschung um Kimberlé Crenshaw  einen maßgeblichen Impuls.[ix] In der Kunstwissenschaft und -soziologie noch heute ein Desiderat, wäre die Integration solcher Forschungsperspektiven ein entscheidender Gewinn im kritischen Verstehen von Ungleichheitsverhältnissen und sozialen Bedingungen.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 58, Herbst 2021, intersections.


Katrin Hassler ist Kulturwissenschaftlerin, sie arbeitet und lehrt zu Themen der zeitgenössischen Kunst sowie den Gender Studies an der Leuphana Universität Lüneburg und der Nuova Accademia die Belle Arti in Mailand.
 

 

[i]Jenna Wortham: I want to explore the wonder of what it is to be a black American, Interview, New York Times, Oct. 8, 2019, https://nyti.ms/3awE6h2[10.09.2021].

[ii]Siehe dazu Sarah Cascone: Art World, Artnet.com, 14.10.2020[10.09.2021].

[iii]Siehe dazu www.feministartcoalition.org, https://artandfeminism.org[10.09.2021].

[iv]Vgl. Nina Degele: Intersektionalität: Perspektiven der Geschlechterforschung. In: Beate Kortendiek et al. (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Vol. 65, Wiesbaden, 2018.

[v]Vgl. Angela McRobbie: Top Girls, Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden, 2016, S. 18.

[vi]Siehe dazu bspw. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M., 1976sowie Bridget Fowler: Reading Pierre Bourdieu's Masculine Domination: Notes Towards an Intersectional Analysis of Gender, Culture and Class. In: Cultural Studies, 17, 2003, S. 469 und Katrin Hassler: Kunst und Gender, Bielefeld, 2017, S. 69–143.

[vii]Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Frankfurt a. M., 1999, S. 249 sowie Jens Kastner: Die ästhetische Disposition. Eine Einführung in die Kunsttheorie Pierre Bourdieus, Wien, 2009, S. 60 und Hassler, 2017, S. 133.

[viii]Vgl. Hassler, 2017, S. 232267.

[ix]Siehe dazu Petra Frerichs: Klasse und Geschlecht als Kategorien sozialer Ungleichheit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Heft 52/2000, S. 36–59 sowie Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. In: The University of Chicago Legal Forum, 1989, S. 139167.