Te Awa Tupua – Der Ahne Fluss

Die Revolution der neuen Rechtssubjekte

Bisher deklarierte das moderne Rechtssystem die Natur vor allem als Eigentum, als Objekt, das an seiner Nützlichkeit für den Menschen bemessen und gehandelt wird. Diese Konzeption basiert auf der westlichen Auffassung von Natur, die Menschen als von dieser getrennt und über ihr stehend ansieht. In einigen Staaten verändert sich allerdings in den letzten Jahren das rechtliche Verhältnis zur Natur – nicht zuletzt ein Erfolg vieler indigener Bewegungen. Dieser Artikel nähert sich der Anerkennung der Rechte der Natur am Beispiel des Whanganui-Flusses in Aotearoa (Neuseeland) und wirft einen Blick auf die möglichen globalen Chancen solcher Gesetzgebung für Umweltrecht, kulturelle Menschenrechte und ein verändertes Subjektverständnis im Recht.

Am 15. März 2017 nahmen mehr als 400 Whanganui Maori an der dritten Lesung des »Te Awa Tupua«-Gesetzesentwurfs (wörtlich: »Fluss als Ahne«) im Repräsentantenhaus in Wellington, Aotearoa (Neuseeland), teil. Die Maori wollten den historischen Moment persönlich miterleben, in dem der Whanganui-Fluss nach mehr als 140 Jahren andauerndernder Rechtsstreitigkeiten mit der britischen Krone offiziell als ihr Ahne anerkannt werden würde. Kurz nach Mittag erhielt der Gesetzes­entwurf, nach fünf Jahren intensiver Diskussionen im Parlament, endlich die langersehnte königliche Zustimmung.

Mit seiner parlamentarischen Verabschiedung wurde das »Te Awa Tupua«-Gesetz der erste rechtliche Rahmen der Welt, der einen Wasserlauf als „ein unteilbares und lebendiges Ganzes“ mit all „seinen physischen und metaphysischen Elementen“ und „intrinsischem Wert“ anerkannte und ihn als Persönlichkeit mit allen „Rechten, Befugnissen, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person“ ausstattete (Te Awa Tupua Act 2017).

Ein neues Naturverständnis im Recht

Vor diesem revolutionären Beispiel neuer Rechtssetzung in Aotearoa (Neuseeland) waren die eigenständigen Rechte der Natur weltweit kaum irgendwo umfassender in einen rechtlichen Rahmen eingebunden. Aufsehen erregte davor deren gesetzliche Verankerung in der Verfassung von Ecuador im Jahr 2008 und in der »Allgemeinen Erklärung der Rechte von Mutter Erde« (»Universal Declaration of the Rights of Mother Earth«), verabschiedet von der Konferenz indigener Gruppen zum Klimawandel im Jahr 2010 in Cochabamba, Bolivien (vgl. Earth Law Center 2021; siehe Tabelle).

In der ecuadorianischen Verfassung heißt es seither in Kapitel 7, Artikel 71: „Die Natur oder Pachamama, in der sich das Leben reproduziert und existiert, hat das Recht, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und ihre Prozesse in der Evolution zu erhalten und zu regenerieren. Jede Person, jedes Volk, jede Gemeinschaft oder Nationalität kann die Anerkennung der Rechte der Natur vor den öffentlichen Organen einfordern.“ Es war dieser Verfassungsartikel, der 2011 die Rechtsgrundlage für die erste erfolgreiche Klage gegen die Provinzregierung von Loja, Ecuador, für die Wiedergutmachung wegen der Beschädigung des Vilcabamba-Flusses lieferte (Earth Law Center 2021).

Umweltaktivist*innen weltweit und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« begrüßen die rechtliche Verankerung dieser Rechte der Natur und ihrer Wandlung von einem nutzbaren Objekt für Menschen zu einem Subjekt mit Eigenwert und Recht auf Leben. Diese revolutionären Gesetzesänderungen ermöglichen es nun Umweltorganisationen, Gemeinschaften sowie einzelnen Privatpersonen, das »Recht auf Leben« der Natur vor Gericht einzufordern.

Die durch Kolonialismus und Imperialismus geprägte, weltweit dominante Interpretation von Natur als vom Menschen dominierter Ressource kontrastiert stark zu vielen indigenen Weltverständnissen, die oftmals Menschen als Teil der Natur ansehen, die Natur als belebte Einheit wahrnehmen und sie als Teil der sozialen Gesellschaft definieren. Derartige indigene Verständnisse von Natur sind auch die Grundlage für die neuen Gesetzesentwürfe. Denn auch wenn Umweltschützer*innen und Organisationen wie »Nature’s Rights« und das »Earth Law Center« darin die Verwirklichung ihrer Forderungen sehen, den Eigenwert der Natur anzuerkennen und ihr das Recht zuzusprechen, „zu existieren, zu gedeihen und sich zu entwickeln“, so sind diese Gesetze nicht allein kreiert worden, um der Natur mehr Rechte zu verleihen, sondern vor allem um die Menschenrechte indigener Gruppen besser durchsetzen bzw. aufrechterhalten zu können.

Rolle der internationalen Menschenrechte

Seit dem »Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der Internationalen Arbeitsorganisation von 1989 (ILO-Übereinkommen 169), das von Regierungen weltweit forderte, die besondere Beziehung der indigenen Völker zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Rechte auf Eigentum und Besitz von Land durch die betroffenen Völker anzuerkennen, sind Regierungen angehalten, sich den völkerrechtlichen Normen der Selbstverwaltung von Minderheiten und Indigenen anzupassen.

Es lässt sich beobachten, dass durch die Verpflichtung, indigene soziale und kulturelle Rechte und die damit verbundenen religiösen und spirituellen Werte und Praktiken, die für die jeweilige indigene Identität wesentlich sind, anzuerkennen und zu schützen, weltweit schrittweise konstitutionelle Neuordnungen zur gesetzlichen Gleichstellung indigener Gruppen mit anderen Bevölkerungsgruppen unternommen werden. Beschleunigt wurde dieses Bestreben durch die im Jahr 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedete »Deklaration der Rechte indigener Völker« (UNDRIP), die für ein Überleben indigener Gruppen in Nationalstaaten entsprechende sozioökonomische, politische und kulturelle Zielsetzungen formulierte.

Te Awa Tupua – Ein Fluss als Ahne

Auch in Aotearoa (Neuseeland) tragen das ILO-Übereinkommen und die UNDRIP zu einer Transformation der Beziehungen zwischen der neuseeländischen Regierung und der Maori-Minderheit bei. Sie beeinflussen stark, wie seitdem mit den Anspruchsforderungen der indigenen Maori vor staatlichen Gerichten umgegangen wird. Seit diesen Abkommen ist die neuseeländische Regierung sichtbar bestrebt, die besondere Beziehung der Maori zu ihrem Land und ihren Territorien zu respektieren und die traditionellen Eigentumsrechte und den Besitz von Land anzuerkennen. Doch es bedurfte auch der Formierung einer organisierten Maori-­Protestbewegung und kontinuierlicher Prozessführung durch Maori, um der Forderung nach Anerkennung Nachdruck zu verleihen. Als Reaktion auf die mannigfaltigen Proteste richtete die Regierung von Aotearoa (Neuseeland) das sogenannte »Waitangi-Tribunal« ein, das den Weg für die revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetzgebung und die Verankerung einer indigenen Kosmologie im modernen Staatsrecht ebnete. Der historische Moment der Implementation dieses Gesetzes markierte auch das Ende des am längsten andauernden Rechtsstreits in der Geschichte Aotearoas (Neuseelands). Rechtsstreitigkeiten, die auf die Unterzeichnung des Vertrags von Waitangi im Jahr 1840 folgten.

Der Vertrag von Waitangi: Konzeptionelle Missverständnisse

Der Vertrag von Waitangi ist ein Abkommen, das zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und den Maori-Chiefs geschlossen wurde, um die steigende Zahl europäischer Siedler*innen in Aotearoa (Neuseeland) und die indigene Maori-Bevölkerung unter einer Regierung zu vereinen. Die darin festgehaltenen Versprechen der britischen Krone wurden von dem Missionar Henry Williams und seinem Sohn Edward ins Maori übersetzt. Nur etwa 40 Maori-Häuptlinge unterzeichneten die englische Version am 6. Februar 1840. Bis September desselben Jahres unterzeichneten weitere 500 Maori-Häuptlinge »Te Tiriti«, die Maori-Version des Vertrags, die im ganzen Land verschickt wurde.1 Kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages begannen Streitigkeiten über seinen Inhalt und die Eigentumsrechte an Land. Diese Streitigkeiten, die bis heute andauern, beruhten nicht nur auf der falschen Übersetzung der englischen Originalfassung ins Maori, sondern auch auf konzeptionellen Missverständnissen, da die Vorstellungen der Briten von Land und Besitz nicht mit den Vorstellungen der Maori übereinstimmten und umgekehrt (vgl. Ministry for Culture and ­Heritage 2017). Um 1840 war das britische Konzept des privaten Landbesitzes ein fremdes Konzept für die Maori, die ihren Anspruch auf Land durch gewohnheitsmäßige Nutzungen geltend machten. Land und andere natürliche Ressourcen konnten nicht besessen, sondern nur kontrolliert werden. Diese Autorität über Land, seine natürliche Umwelt und das Recht seiner Nutzung werden nach Ordnung der Maori bis heute durch Abstammung vererbt. Das System der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit bei der Kultivierung und der gemeinsamen Nutzung der natürlichen Ressourcen hemmt jeden Trend zum Individualismus und zum individuellen Besitz von Land, wie im westlichen Verständnis von Natur.

Tabellarische Auflistung aller erreichten rechtlichen Verankerungen

 

Kulturelles Menschenrecht auf Te Ao Maori (Die Maori Welt)

Die Maori verstehen sich als Hüter*innen ihres Landes, das sie von ihren Vorfahren vererbt bekommen haben. Dieses Land wird wiederum von ihnen für zukünftige Generationen geschützt. Abstammung und Verwandtschaft definieren so die traditionellen Nutzungsrechte am Territorium. Dabei bezieht sich Verwandtschaft gemäß der Kosmologie der Maori nicht nur auf Familienbande zwischen lebenden Menschen, sondern auf ein breiteres Netz von Beziehungen zwischen Menschen, Land, Wasser, Flora, Fauna und die spirituelle Welt der Götter, da diese durch eine gemeinsame Lebensessenz miteinander verbunden sind. Dieses Verständnis geht auf den Ursprungsmythos der Maori zurück, die sich, ebenso wie alle natürlichen Elemente (Wind, Regen, Vögel, Wälder, Flüsse, Pflanzen…), als direkte Nachkommen von Ranginui (dem Himmels-Vater) und Papatuanuku (der Erd-Mutter) verstehen. Aufgrund dieser gemeinsamen Abstammung sind alle diese Elemente miteinander verwandtschaftlich verbunden und haben auf sich gegenseitig mit Respekt zu achten.

Speziell die Menschen einer Maori Gruppe, ihre »rangatira« (Häuptling/Stammesoberster), ihre »tipuna« (Ahnen) und ihr Land teilen alle das »hau« (den Wind des Lebens) der gemeinsamen Vorfahren. In Maori sprechen die Menschen von sich selbst als ahau (ich selbst), und rangatira sprechen von einem Vorfahren in der ersten Person, weil sie das »kanohi ora«, sein »lebendiges Gesicht« sind. Entsprechend werden sie auch als Elemente einer gemeinsamen Identität verstanden. So erwähnen die Maori, wenn sie nach ihrer Identität gefragt werden, nicht sich selbst, sondern beziehen sich auf ihren geschätzten Vorfahren, ihren Berg, ihren Fluss und andere natürliche Orientierungspunkte.

Maori der Gruppe Te Atihaunui-a-Paparangi (auch Atihaunui oder Ngati Hau genannt), die entlang des Whanganui-Flusses wohnen, sind eine relativ homogene Abstammungsgruppe. Sie sind durch den Whanganui-Fluss, der durch ihr Ahnenterritorium fließt, miteinander verbunden. Sie sehen den Fluss als ihren gemeinsamen Vorfahren, mit dem sie gemeinsames hau teilen und nennen ihn »tipuna awa« (Ahne Fluss).

Entsprechend ihres Verständnisses gemeinsamer Identität zitieren Whanganui-Maori den Spruch „Ko au te Awa, ko te Awa ko au“ („Ich bin der Fluß und der Fluß bin ich“), wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt werden (Salmond 2017, Waitangi Tribunal 1999). Seit Ankunft der europäischen Siedler*innen wurde dieses alternative Weltverständnis von der Kolonialmacht in der steten Aneignung von traditionell genutztem Maori-Territorium fortlaufend ignoriert und trotz unzähliger gerichtlicher Einsprüche nicht angehört und beachtet. Auf diesem Weg wurden den Maori nicht nur Land und Ressourcen entzogen, sondern auch ein wichtiger Teil ihrer Identität entrissen. Mit der Implementierung der »Te Awa Tupua«-Gesetz­gebung wurde der Whanganui River nun endlich als „eine spirituelle und physische Einheit, die sowohl das Leben und die natürlichen Ressourcen innerhalb des Whanganui-Flusses als auch die Gesundheit und das Wohlergehen der Maori-­Gemeinschaften am Fluss unterstützt und aufrechterhält“, anerkannt (Te Awa Tupua Act 2017). Dadurch wurde nach 140 Jahren kontinuierlicher Unterdrückung die Maori-Kosmologie erstmals rechtlich verankert und zu einem anerkannten Teil neuseeländischer Realität, geleitet von der Überzeugung, Gerechtigkeit für (post)koloniale Ungleichheiten und damit einhergehendes Leid zu üben, um Maori für erlittene Diskriminierungen zu entschädigen.

Das Waitangi-Tribunal

Doch diese Gesetzgebung wäre nicht ohne den unermüdlichen landesweiten Protest der Maori zustande gekommen. Die kontinuierlichen Landenteignungen aktivierten großen Widerstand aufseiten der Maori. Neben zahlreichen Klagen vor Gericht wurde die steigende Unzufriedenheit auch in der Formierung einer aktiven Maori-Protestbewegung zum Ausdruck gebracht. Der bemerkenswerteste Protest war der große »Maori hikoi« (Landmarsch) von 5.000 Maori von Te Hapua nach Wellington im Jahr 1975. Die Demonstrant*innen überreichten Premierminister Bill Rowling eine Petition mit 60.000 Unterschriften, um gegen die fortlaufende Landenteignung der Maori zu protestieren. Dieser Marsch lenkte landesweit die Aufmerksamkeit auf den Vertrag von Waitangi und damit einhergehende Klagen von Maori. Als Reaktion darauf richtete die neuseeländische Regierung noch am 10. Oktober des gleichen Jahres das »Waitangi-Tribunal« unter dem »Treaty of Waitangi Act Nr. 114« ein.

Das Waitangi-Tribunal ist eine Untersuchungskommission, die von Maori vorgebrachte Verletzungen des Vertrages von Waitangi durch die Britische Krone prüft und auf Basis ihrer Ergebnisse Empfehlungen an das neuseeländische Parlament ausspricht, wie mit den einzelnen Fällen zu verfahren ist. Die Errichtung des Tribunals war die erste institutionelle Veränderung nach mehr als 130 Jahren andauernder Proteste der Maori gegen die Verletzungen des Vertrages von Waitangi. Damit gestand die neuseeländische Regierung offiziell ein, dass der Vertrag von Waitangi in englischer Sprache von der Maori-Version abweicht und stellte mit dem Tribunal ein juristisches Verfahren bereit, durch das Maori Ansprüche an die Krone geltend machen konnten.

Zu Beginn löste das Tribunal die langjährigen Maori-Forderungen relativ ineffektiv und nicht zufriedenstellend ein, aufgrund seiner beschränkten Zuständigkeit auf Klagen, die nach dem 10. Juli 1975 eingereicht wurden. Dadurch hielt die Diskriminierung der Maori-Bevölkerung an. Als Reaktion auf anhaltende Proteste wurden 1985 die Befugnisse des Tribunals auf ausstehende Klagen ausgeweitet, die bis zum Jahr 1840 zurückreichende Vertragsbrüche anzeigten. Bis heute wurden mehr als 2.000 Klagen vor das Waitangi-Tribunal gebracht. Einer davon war der am 14. Oktober 1990 eingereichte Whanganui River Claim der Whanganui Maori.

Nach Prüfung der Klage veröffentlichte das Waitangi-Tribunal 1999 seine Untersuchungsergebnisse im Whanganui River Report (WAI 167): Es entschied zu Gunsten der Whanganui Maori und deklarierte den Whanganui-Fluss als ein unteilbares und metaphysisches Ganzes, das für die Whanganui Maori eine besondere Bedeutung als Ahne habe. Die Whanganui Maori besitzen demnach weiterhin die Verwaltungshoheit über den Whanganui Fluss und haben diese Interessen nie verkauft. Eingriffe in den Fluss durch die Krone, ohne Konsultation oder Entschädigung der Whanganui Maori, stehen nach den Ergebnissen des Tribunals im Widerspruch zu den Prinzipien des Vertrages von Waitangi und müssen adäquat entschädigt werden.

Auf Basis dieses Urteils erarbeitete das neuseeländische Parlament gemeinsam mit den Whanganui Maori in konflikt­reichen Verhandlungen, die sich über einen Zeitraum von 13 Jahren erstreckten, das revolutionäre »Te Awa Tupua«-Gesetz (Hayward und Wheen 2004; Keane 2012).

Ein revolutionäres Umweltrecht

Die Maori-Umweltjuristen James Morris und Jacinta Ruru waren die ersten, die vorschlugen, neuseeländische Flüsse als juristische Personen anzuerkennen. Sie bezogen sich in ihrer Argumentation auf Christopher Stones rechtliche Konzeption für natürliche Entitäten. Stone, Professor am University of Southern California Law Center, hatte bereits 1972 seinen revolutionären, aber auch heftig diskutierten Aufsatz »Should trees have standing? Law, Morality and the Environment« (Stone 2010 [1972]) veröffentlicht. Seine Überlegungen basierten auf der Beobachtung, dass die juristischen Begriffe des Eigentums und der juristischen Person im modernen Staatsrecht im Laufe der Geschichte ständig verändert und angepasst wurden. Für Stone gab es eine kontinuierliche Entwicklung in der Überlegung, welche Dinge als »besitzbar« anerkannt wurden (z. B. Land, bewegliche Sachen, Ideen, andere Personen wie Sklav*innen), wer als besitzfähig galt (z. B. Individuen, verheiratete Frauen) und welche Befugnisse und Privilegien dieses Eigentum beinhaltete. In seiner Überlegung dazu, welche undenkbaren Entitäten in Zukunft zu juristischen Personen werden könnten, schlug Stone das Konzept der juristischen Persönlichkeit für natürliche Objekte vor.

Während Bryant (1975, S. 319) Stones Buch als „philosophisch gut durchdachter Vorschlag für neue rechtliche, ökonomische, politische und soziale Ansätze für die Probleme der Harmonisierung einer industrialisierten Gesellschaft mit einer sich rapide verschlechternden Umwelt“ bezeichnete und Huffman (1974) meinte, „Das vorgeschlagene System ist wahrscheinlich praktikabel und hätte den positiven Effekt, uns zu zwingen, die tatsächliche Schädigung der Umwelt zu betrachten. Es ist klar, dass Stone den ersten großen Schritt gemacht hat: Er hat das Undenkbare vorgeschlagen“, kritisierte Elder (1984) den Vorschlag mit der Begründung, „Menschen und Pflanzen sind nicht in der gleichen Kategorie, die notwendig wäre, um eine solche Schlussfolgerung zu rechtfertigen. Selbst wenn das Gras und die Pflanzen Wasser ‘brauchen‘, in dem Sinne, dass sie ohne Wasser sterben werden, warum folgt daraus, dass wir die Pflicht haben, sie zu gießen? Haben sie irgendeine moralische Wichtigkeit?“, und Keeler (1975) meinte sogar, es sei „sehr schwierig, die Konsequenzen dieser These zu bedenken, ohne in Parodie zu verfallen.“

Trotz dieser Kontroversen wurde der Aufsatz schon kurz nach seinem Erscheinen von Umweltschützer*innen aufgegriffen, um ihre Bewegung und ihr politisches Engagement zu untermauern. Auch Morris und Ruru argumentierten, dass das Konzept der Rechtspersönlichkeit perfekt mit der Rolle der Flüsse im relationalen Universum der Maori Kosmologie übereinstimmt. „Sicher, Stones Idee ist radikal. Was er vorschlug, war ein neuartiger Ansatz zum besseren Schutz der Umwelt und der Ressourcen, die den Menschen erhalten. In gewisser Weise beabsichtigt seine Idee, die Lücke zwischen natürlichen Ressourcen und Menschen zu schließen und ihre Nähe zueinander zu betonen, die zwischen uns herrschen sollte. Aus der Perspektive der Maori (und vielleicht auch anderer indigener Gruppen) ist die Idee weniger radikal, da sie mit einer Weltanschauung übereinstimmt, in der es eine genealogische Verbindung zwischen allen Lebewesen gibt, einschließlich Flüssen und Menschen.“ (Morris und Ruru 2010, S. 58)

Soziale Gerechtigkeit in postkolonialen Nationalstaaten

Das tägliche Leben der Maori in Aotearoa (Neuseeland) ist in vielerlei Hinsicht noch immer von (post)kolonialen Strukturen und ungleichen Machtverhältnissen durchdrungen. Doch in dem Bestreben, Gerechtigkeit für vergangenes Unrecht zu erreichen, konnten (post)koloniale Rechtsstrukturen aufgebrochen und ein neues, gerechteres Recht entwickelt werden. Solche Veränderungen im Recht und in der politischen Praxis sind unerlässlich, um eine echte Gleichstellung zu erreichen und Machtverhältnisse dauerhaft verschieben zu können. Das Recht hat daher das Potenzial, in postkolonialen Staaten soziale Gerechtigkeit herzustellen und als »Brücke zwischen den Welten« zu dienen, um unterschiedliche Kosmologien und die damit verbundenen spezifischen Werte und Praktiken im nationalen staatlichen Recht zu vereinen (vgl. Geddis und Ruru 2019). Seit der Implementierung des »Te Awa Tupua Acts« in Aotearoa (Neuseeland) haben weitere Staaten wie Kolumbien, El Salvador oder die USA das Potential dieses juristischen Konzepts erkannt und angewandt (vgl. Earth Law Center 2021; vgl. Tabelle).

Die neuen Rechtssubjekte und ihre Transformation der Beziehungen

Eine Welt, in der indigene Konzepte und Praktiken zu einer anerkannten und realen Alternative zu den modernistischen Annahmen des Seins werden, könnte davon sogar transformiert werden: Gesetzesneuerungen wie der »Te Awa Tupua Act« werden die Art und Weise verändern, wie natürliche Entitäten in Zukunft konzipiert und wie mit ihnen interagiert werden wird. Indem sie als Lebewesen definiert werden, sind sie nicht mehr instrumentelle Dinge zum Nutzen der Menschen, sondern Personen, mit denen eine ständige Beziehung besteht (vgl. Geddis und Ruru 2019, S. 270f). Dieses neue Verständnis von belebter, dem Menschen nahestehender Natur kann in letzter Konsequenz auch zu einer nachhaltigeren Lebensweise führen, von der alle Lebewesen auf diesem Planeten profitieren.

Mit einem solchen Verständnis ist auch eine Diskussion darüber obsolet, ob dieses Recht eher den Eigenwert der Natur anerkennt oder die kulturellen Rechte der Menschen durchsetzt. Denn diese Diskussion basiert wiederum auf der modernen Trennung von Natur und Kultur und einer darauf begründeten Unterscheidung zwischen Umweltrecht und Menschenrecht. Sobald der Mensch als Teil seiner Umwelt verstanden wird, können die neuen Gesetze als ein gemeinsames planetares Recht für alle Lebewesen verstanden werden, in dem das Recht auf Leben für alle Entitäten des ganzen Planeten gesichert ist.

Anmerkung

1) Während einige Häuptlinge sich weigerten, den Vertrag zu unterzeichnen, hatten andere nicht die Möglichkeit, ihn zu unterzeichnen.

Literatur

Bryant P. (1975): Should trees have standing? Toward legal rights for natural objects by ­Christopher D. Stone (review). Western ­American Literature 9 (4), S. 319-320.

Earth Law Center (o.J.): Timeline. earthlawcenter.org

Elder, P. P. (1984): Legal rights for nature. The wrong answer to the right(s) question. Osgoode Hall Law Journal 22(2), S. 285-296.

Geddis, A.; Ruru, J. (2019): Places as persons: creating a new framework for Maori-Crown relations. In: Varuhas, J.; Stark, S.W. (Hsg.): The frontiers of public law. Oxford: Hart Publishing, S. 255–274.

Hayward, J.; Wheen, N. R. (2004): The Waitangi Tribunal. Te Roopu Whakamana i te Tiriti o Waitangi. Wellington: Bridget Williams Books.

Huffman, J. (1974): Trees as a minority. Environmental Law 5 (1), S. 199-202.

International Labour Organisation (ILO) (1989): Indigenous and Tribal Peoples Convention. No. 169.

Keane, B. (2012): Nga ropu tautohetohe – Maori protest movements. Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand. Homepage.

Keeler, D. (1975): Should trees have standing? In: Reason, November 1975.

Ministry for Culture and Heritage New Zealand (2017): The Treaty in brief. Homepage.

Morris, J.; Ruru. J. (2010): Giving voice to rivers: legal personality as a vehicle for recognising indigenous peoples’ relationships to water? Australian Indigenous Law Review 14(2), S. 49-62.

New Zealand Government (2017): Te Awa Tupua (Whanganui River Claims Settlement) Act. Wellington.

Salmond, A. (2017): Tears of Rangi. Experiments across worlds. University of Auckland: Auckland University Press.

Stone, Ch. (2010 [1972]): Should trees have standing? Law, Morality and the Environment. 3. Edition. New York: Oxford University Press.

Waitangi Tribunal (1999): The Whanganui River Report. Wai167. Wellington: GP Publications.

Daniela Triml-Chifflard ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Fach Sozial-und Kulturanthropologie der Philipps-Universität Marburg. Sie arbeitet im Bereich der Umweltanthropologie zu sozialen Klimawandelfolgen und zur Politischen Ontologie des Wassers.