Diese Frage stand kürzlich im Mittelpunkt des Egon-Bahr-Symposiums 2019. Nicht nur der Klimawandel gefährde die Zukunft der Menschheit, auch die Gefahr eines militärischen Suizids im Atomkrieg sei von Menschen gemacht, warnte Heidemarie Wieczorek-Zeul, Ministerin a. D. und Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreises. Allein die USA planten, in den nächsten 30 Jahren 1,3 Billionen Dollar für Kernwaffen auszugeben. Nur zu verständlich also, dass das Ziel einer kernwaffenfreien Welt verstärkter öffentlicher Unterstützung bedürfe.
Das beherzte Engagement junger Menschen für Maßnahmen gegen den Klimawandel begrüßte auch Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, der anstelle des zur UN-Generalversammlung nach New York gereisten Staatsministers Niels Annen (SPD) die Einführungsrede hielt. Jedoch sei es seltsam, dass derartige Aktionen gegen das neue nukleare Wettrüsten ausblieben. Bereits seit einigen Jahren habe die Deep Cuts Commission, eine Gruppe deutscher, russischer und US-Sicherheitsexperten, vor einer gefährlichen Situation wie heute gewarnt. Der INF-Vertrag sei Geschichte, nun müsse die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenwaffen in Europa verhindert werden. Im Hinblick auf den New-START-Vertrag verwies Neuneck auf die zahlreichen internationalen Forderungen, das Abkommen zu verlängern und die damit gewonnene Zeit für Verhandlungen zu nutzen. Auch China solle einbezogen werde, immerhin habe es bereits den Verzicht auf die Erstanwendung von Kernwaffen erklärt. Leider gebe es heute keinen substanziellen Dialog zwischen den Kernwaffenstaaten. Die bisherigen russischen Vorschläge seien marginal, bei den USA sei der Wille zur Rüstungsbegrenzung schwach. Die im nächsten Jahr anstehende Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) sei gefährdet, da vor allem die USA und Russland ihren unter Artikel VI übernommenen Abrüstungsverpflichtungen nicht nachkommen. Neben den Kernwaffen müsse es auch um neue Waffenentwicklungen wie Cyber- oder Hyperschallwaffen gehen.
Rüstungskontrolle müsse neu gedacht werden. Begrüßenswert sei, dass sich die Bundesregierung hier engagiere. Zugleich kritisierte Götz Neuneck, dass viele der im Annen-Papier genannten Schritte, das auf der Tagung verteilt wurde, „zu klein gedacht“ seien. Sowohl er als auch Wieczorek-Zeul machten deutlich, dass die Bundesregierung trotz aller Beteuerungen zu wenig tue, um Dialog und Abrüstung in Europa voranzubringen. Ein Umdenken sei nötig; Deutschland müsse sich zum nuklearen Verbotsvertrag von 2017 bekennen. Auch die NATO halte sich zurück, statt auf Russland zuzugehen. Auch da könne die Bundesregierung aktiver sein, meinte Wieczorek-Zeul und verwies auf das Beispiel des französischen Präsidenten Macron.
Die beiden mit deutschen und internationalen Experten besetzten Diskussionsrunden beschäftigten sich mit der Verhinderung eines neuen atomaren Wettrüstens nach dem Wegfall des INF-Vertrages beziehungsweise der Rolle der Europäischen Union zwischen den USA, Russland und China. Rüstungskontrolle müsse weiterhin Teil der Sicherheitsarchitektur bleiben, betonte der russische Experte Dmitri Stefanowitsch. Wenig Hoffnung bestehe, dass die USA zur Verlängerung des New-START-Vertrages bereit seien. Stefanowitsch verwies auf die Erklärung von Russlands Präsident Putin, dass Russland nicht als erster Mittelstreckenwaffen stationieren werde. Eine Reaktion von USA und NATO habe es aber bisher auf dieses Angebot eines Moratoriums nicht gegeben.
Leider habe Russland zu spät und auch nicht ausreichend auf die westlichen Beschuldigungen hinsichtlich einer Verletzung des INF-Vertrages reagiert. Die Vorwürfe hätte man im Rahmen des Kontrollmechanismus des Abkommens klären können, so der US-Rüstungskontrollexperte Paul F. Walker, Träger des Alternativen Nobel-Preises. Es sei schon merkwürdig, dass die Trump-Administration bereits kurze Zeit nach dem Ausstieg aus dem Vertrag mit Flugtests bisher vom INF-Vertrag verbotener Systeme begonnen habe. Nach Erklärungen des neuen Verteidigungsministers Mark Esper wolle man „früher oder später“ mit der Stationierung solcher Waffen beginnen. Walker meinte, Europa müsse aktiver Druck auf die USA und Russland ausüben, damit diese neue Gesprächskanäle eröffnen. Wichtig seien auch eine europäische kernwaffenfreie Zone, der Abzug der B61-Bomben der USA und die Ablehnung der Stationierung der neuen Mittelstreckenwaffen, aber auch die Ratifizierung des umfassenden Kernwaffenteststopp-Vertrages durch die USA.
Angesichts der gegenwärtigen US-Politik äußerte sich der schwedische Botschafter a.D. Rolf Ekeus, ein langjähriger Veteran internationaler Sicherheits- und Abrüstungspolitik, enttäuscht über die scheue Reaktion Deutschlands und Europas gegenüber Trump. Die neue Nuklearpolitik der USA wie auch mögliche russische Gegenmaßnahmen nach dem Ende des INF-Vertrages würden auch die Sicherheit der nordischen Länder bedrohen.
Sie erwarte von ihrer Partei eine aktivere Entspannungspolitik, betonte die ehemalige Bundestagsabgeordnete Ute Finck-Krämer (SPD). Ein positives Beispiel sei Österreich, das eine wichtige Rolle beim Zustandekommen des Vertrages über das Verbot der Kernwaffen spielte. Mit ihm sollte Deutschland stärker kooperieren. Angesichts der gegenwärtigen Klimadebatte kritisierte sie: Während weltweit gewaltige finanzielle Mittel für das Militär vergeudet werden, fehle das Geld für Klimaschutz und andere lebenswichtige Zwecke.
„Es verschiebt sich was“, Russland und China seien auf der Erfolgsspur, so der Kommentar von Staatsminister a.D. Gernot Erler zu Beginn der Diskussion über die künftige Rolle der EU zwischen den USA, Russland und China. Bei aller Attraktivität für Beitrittskandidaten sei die Organisation aber im Krisenmodus, fehle es ihr an Problemlösungsfähigkeit. Als vordringlich bezeichnete er drei Projekte: die Lösung des Ukrainekonflikts, Abrüstung und Klimaschutz, Dialog mit Russland.
Letzteres denke immer mehr strategisch, stärke seine Wirtschaft und bewege sich in Richtung Osten, so Alexej Gromyko, Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften. Peking sei heute schon in vielen Aspekten eine Supermacht, werde die USA in 2025 überholen und erstarke auch militärisch. Die EU müsse sich in den nächsten 10 Jahren zwischen einem größeren Europa und dem Atlantizismus entscheiden. Als Russe bevorzuge er jedenfalls eine strategische Autonomie der EU.
In der EU würden die transatlantischen Beziehungen zunehmend infrage gestellt, sie sei in den letzten Jahren immer irrelevanter geworden, urteilte der US-amerikanische Politologe und ehemalige Diplomat James D. Bindenagel. Gleichzeitig habe die Trump-Administration nicht nur Verträge zerstört, sondern lehne auch Partnerschaften ab. Auf die Frage, wie die EU relevanter werden könnte, fand Bindenagel aber auch keine schlüssige Antwort.
Die unipolare Vorherrschaft der USA sei nun vorbei, eine Phase der Machtverschiebung habe begonnen, schätzte Hans-Joachim Spanger (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung) ein. Nun entstehe zwischen den USA und China eine neue Bipolarität, während Russland stagniere, jedoch stärker wahrgenommen werde, als es sei. Die EU könnte potenziell ein gewichtiger Faktor sein, hätte aber bisher geringere Fähigkeiten entwickelt. Strategische Autonomie sei deshalb zwingend nötig. Was sei mit einer „EU-Ostpolitik“ gemeint? Wolle man sich hinter der EU verstecken? Soll das Feld Polen und den baltischen Staaten überlassen werden? So jedenfalls Spangers Kritik an dem Vorschlag von Außenminister Maas. Auch die von ihm kreierte „Allianz für Multilateralismus“ klinge schön, ihr fehle aber auch alles. Man solle doch eher die Erfahrungen der 1970er Jahre kreativ nutzen. Am zentralen Grundsatz, dass man nur dann eine konstruktive Politik betreiben kann, wenn man von den Realitäten ausgehe, habe sich nun mal nichts geändert.
Fazit: Auch in diesem Jahr widmete sich das von Willy-Brandt-Kreis und Friedrich-Ebert-Stiftung ausgerichtete Symposium grundsätzlichen Sicherheitsfragen. Nicht wenige Vorschläge für eine aktivere Rolle Deutschlands wurden vorgebracht. Allerdings muss man sich fragen, warum die Beteiligung der SPD an der Bundesregierung dabei so wenig ausrichtet.