Kaltblütige Morde, Demonstrationen, rassistische Ausschreitungen gegen Araber, Massenverhaftungen, Häuserzerstörungen, Kollektivstrafen und nun Krieg zwischen Israel und dem Gazastreifen: Im Nahen Osten ist der Teufel los. Die Möglichkeit auf Frieden oder auch nur Normalität liegt derzeit in weiter Ferne – für beide Seiten.
Ausgelöst wurde die aktuelle Welle von Gewalt durch die Ermordung dreier israelischer und – wenige Tage darauf – eines palästinensischen Jugendlichen. Die Taten erzeugten international Fassungslosigkeit und mediale Aufmerksamkeit. Die traurige Wahrheit ist, dass Kinder und Jugendliche schon seit Jahrzehnten physisch und psychologisch die Opfer dieses Dauerkonflikts sind, ohne dass die Öffentlichkeit davon je wirklich ausreichend Kenntnis genommen hätte. Den Morden folgte prompt intensiver Raketenbeschuss zwischen dem Gazastreifen und Israel. 160 Raketen aus Gaza explodierten innerhalb von zwei Tagen auf israelischem Gebiet; die israelischen Streitkräfte griffen nach eigener Aussage innerhalb von 36 Stunden 400 Ziele in Gaza an. Bereits am dritten Tag der am 8. Juli begonnenen Militäroffensive „Solider Fels“ waren mindestens 53 Palästinenser, meist Zivilisten, umgekommen. Man habe in diesem kurzen Zeitraum mehr operative Stellen von Hamas zerstört als in den gesamten achten Tagen der Offensive vom November 2012, brüstete sich ein Armeesprecher.
Der ehemalige Chef des israelischen Sicherheitsdienstes Shin Beit, Yuval Diskin, der sich bereits im preisgekrönten israelischen Dokumentarfilm „The Gatekeepers“ kritisch über die Besatzungspolitik seines Landes geäußert hatte, ist überzeugt, dass die gegenwärtige Eskalation von Gewalt mit der Ermordung der drei Jugendlichen aus einer jüdischen Siedlung nichts zu tun habe. „Sie ist das Ergebnis unserer Regierungspolitik, die sich so zusammenfassen lässt: Lasst uns die Öffentlichkeit mit allem, was im Nahen und Mittleren Osten geschieht, ängstigen, lasst uns beweisen, dass es keinen palästinensischen Partner gibt und weiter Siedlungen bauen, die unveränderbare Fakten schaffen, lasst uns die Probleme der Araber in Israel und die gravierende soziale Kluft in der israelischen Gesellschaft ignorieren.“[1] Die Regierung, so Diskin, sollte sich nicht länger der Illusion hingeben, dass die Palästinenser alle ihre Aktionen gegen sie passiv hinnähmen.
Die Stärkung der Hamas
Bis heute ist unklar, wer hinter dem abscheulichen Mord an den jungen Jeschiwa-Studenten steht. Vermutlich beging eine lokale Splittergruppe die Tat. Dennoch erklärte die israelische Regierung umgehend die islamistische Bewegung Hamas für verantwortlich. Ohne jeglichen Beweis ging sie ans Werk, Palästinenser durch Verhaftungen, Häuserdemolierungen und andere Aktionen zu bestrafen, anstatt sich allein auf die Täter zu konzentrieren und diese juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Die Tat Weniger führte so zur Bestrafung der gesamten Bevölkerung – eine Strategie, die Israels Politiker seit der Besatzung verfolgen. Die Gelegenheit, weiter gegen die Infrastruktur der Hamas vorzugehen, kam Netanjahus Regierung gelegen – zumal ihr die jüngst erfolgte Versöhnung und Kooperation von Hamas und Fatah ein Dorn im Auge ist: Eine politisch gespaltene palästinensische Bevölkerung ist leichter zu beherrschen als eine, die von einer breiten politischen Kraft vertreten wird.
Tatsächlich waren es laut der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ der Islamische Dschihad und die Volkskomitees, die den Raketenbeschuss auf Israel begannen. Der Hamas passt die Eskalation derzeit nicht ins Konzept, da die Bewegung mit ihrer ökonomischen Krise und dem Verhältnis zur ägyptischen Regierung beschäftigt ist, die die Islamisten nicht nur im eigenen Land zu marginalisieren versucht. Für die Hamas steht im Vordergrund, die Macht in Gaza zu bewahren. Paradoxerweise kommt die israelische Regierung ihr dabei nun zur Hilfe. Denn je härter die israelische Armee zuschlägt, umso schwächer steht Fatah-Chef und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas da, der weiterhin an Friedensverhandlungen festhält. Seit den Oslo-Vereinbarungen von 1993 haben Verhandlungen und Abkommen das Leben der Palästinenser immer weiter erschwert, so dass diese kaum an deren Nutzen glauben. Schlagworte wie „Verhandlungen“, „Dialog“ oder „Friede“ sind unter Palästinensern seit vielen Jahren diskreditiert.
Frieden: Ein flüchtiger Traum
Friedenswillige Israelis sehen das mittlerweile kaum anders. So sagte der israelische Schriftsteller David Grossmann am 8. Juli in „Haaretz“: „Selbst wenn Mahmud Abbas sich mit allem, was in seiner Macht steht, dafür einsetzt, den Terror gegen Israelis zu bekämpfen und erklärt, er werde bestenfalls noch als Tourist in seine Geburtsstadt Safed [im heutigen Israel, Anm. d. A.] zurückkehren; selbst wenn er den Holocaust als größtes Verbrechen in der Geschichte der Menschheit anerkennt – selbst dann beeilt Premierminister Netanjahu sich, ihm einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht zu schütten.“
Im Gespräch mit dem israelischen „Haaretz“-Journalisten Akiva Eldar am 8. Juli, drang Mahmud Abbas dennoch weiter auf Verhandlungen. Er biete den Israelis Frieden mit den Palästinensern, Arabern und Muslimen an; die Arabische Friedensinitiative von 2002 bleibe für seine Regierung Verhandlungsgrundlage, doch bis heute habe er von israelischer Seite keine Antwort auf dieses Angebot erhalten. „Wenn die Absichten gut sind, muss Friede kein Traum bleiben, sondern wird zum Fakt“, so der Palästinenserpräsident.
In der Frage „Will die israelische Regierung Frieden mit uns oder nicht?“, konnte Abbas seine Zweifel an deren guten Absichten indes kaum verbergen. Der Vorsitzende der PLO forderte Netanjahus Regierung auf, die UN-Resolution vom 29. November 2012 anzuerkennen, in der Palästina als Nichtmitglied Beobachterstatus eingeräumt wurde. Wäre es nicht besser, wenn Israel und Palästina ihren Konflikt untereinander klärten, fragte er, anstatt dass Palästina sich gezwungen sähe, weitere internationale Organisationen in den Konflikt einzubeziehen?
So richtig Abbas’ Worte auch sein mögen, seine eigene Bevölkerung kann er damit kaum noch erreichen. Der israelischen Journalistin Amira Hass sagte ein Fatah-Mitglied, höchstens zehn Prozent aller Palästinenser stünden noch hinter ihm. „Unser Palästinenserpräsident hat stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt“, bestätigt die Politologin und Autorin Joharah Baker. „Die Menschen hier haben den Eindruck, dass er ihren Widerstand gegen die Besatzung nicht unterstützt. Die Beerdigung des jungen Muhammad Abu Khdeir, den jüdische Extremisten als Rache für den Mord an den jüdischen Jugendlichen verbrannt haben, geriet zu einer riesigen Trauerfeier. Dennoch übertrug das palästinensische Staatsfernsehen dieses Ereignis nicht. Viele sahen darin den Beweis, dass Abbas unter allen Umständen eine dritte Intifada verhindern will“, so die Jerusalemerin.
Die Palästinenser fühlen sich nicht nur von der internationalen Gemeinschaft, sondern auch von ihrer eigenen Führung im Stich gelassen. Die Raketen aus Gaza bleiben in den Augen vieler deshalb das letzte Mittel zur Verteidigung. „Netanjahu stärkt mit dem Einsatz militärischer Gewalt Hamas’ Image in der Bevölkerung“, so Baker. „Die Ereignisse sind derweil wieder so fürchterlich, dass kaum noch jemand den Gesamtzusammenhang im Blick hat. Die palästinensischen Wahlen, der ungehemmte Bau von Siedlungen usw. sind vergessen“, sagt sie resigniert. Der Schlüssel zur Beendigung des Konflikts liegt ihrer Ansicht nach bei der internationalen Gemeinschaft. Diese müsse handeln, um die Zivilbevölkerung zu schützen: „Seit Oslo hat man zunehmend vergessen, dass wir noch immer unter einer Besatzung leben. Nachdem alle anderen Versuche gescheitert sind, sollten wir uns auf internationales Recht und die Grundsätze von Gerechtigkeit konzentrieren.“[2]
Netanjahu unter Druck
Doch der internationale Druck auf die Konfliktparteien ist gering. Weder die EU noch die USA zeigen den Willen, entscheidenden Einfluss auf die Konfliktparteien zu nehmen. Die Obama-Regierung beließ es einstweilen bei mahnenden Statements, und auch seitens der EU ist bislang wenig Protest zu hören. Dabei wäre ein stärkeres internationales Engagement gerade jetzt entscheidend.
Ofer Zalzberg, israelischer Nahostexperte bei der International Crisis Group ist überzeugt, dass der Konflikt zwischen Israel und der Hamas in Gaza auch ohne die Entführung der Jugendlichen erfolgt wäre: „Netanjahu muss sich entscheiden, ob er Hamas zerschlägt und die palästinensischen Gebiete der Anarchie überlässt, oder ob er die Islamisten in den politischen Prozess integriert.“ Zalzberg hält es für erforderlich, die religiösen Parteien beider Nationen – Israels National-Religiöse und die Hamas – in Verhandlungen einzubeziehen, um den sozio-politischen Realitäten vor Ort gerecht zu werden. „Die Hamas ist durch die regionalen Veränderungen insbesondere in Ägypten geschwächt. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, sie in eine unbewaffnete, politische Partei zu transformieren und mit den Palästinensern als geeinter Fraktion zu verhandeln, um ein solides Friedensabkommen zu erreichen. Die israelische Regierung sollte den palästinensischen Behörden erlauben, als Teil der Anfang Juni gegründeten Regierung von Unabhängigen und Technokraten nach Gaza zurückzukehren.“ Dass sie allerdings Verhandlungen über den Endstatus mit der PLO wieder aufnimmt, hält Zalzberg für unwahrscheinlich: Netanjahu und seine Minister seien der Ansicht, dass Abbas kein Partner mehr für Frieden sein könne, wenn die Hamas Teil der palästinensischen Autorität ist. Dabei führe kein Weg daran vorbei, die Besatzung zu beenden und einen eigenständigen palästinensischen Staat zu akzeptieren.[3]
Netanjahu steht nun zusätzlich unter Druck, weil sein Außenminister, Avigdor Liebermann, am 7. Juli das Bündnis mit dem Likud verließ und die Regierung jederzeit zu Fall bringen könnte. Ginge es nach Liebermann und anderen Politikern wie Wirtschaftsminister Naftali Bennett, sollte die Hamas vollkommen zerschlagen und der Gazastreifen am besten wieder eingenommen werden. Friede mit den Palästinensern oder gar eine Zweistaatenlösung stellen für sie keine Option dar. So bestimmen auf beiden Seiten weiter die Hardliner und Extremisten den Verlauf der Ereignisse.
All jene Israelis, die sich weiterhin für Frieden einsetzen, treiben die Entwicklungen unterdessen zur Verzweiflung. So bezeichnete der Schriftsteller Sayed Kashua das Zusammenleben von jüdischen und palästinensischen Israelis als gescheitert, und auch der Journalist Gideon Levy glaubt, seine Landsleute wollten sich von den Palästinensern lösen – allerdings ohne einen Preis dafür zu zahlen: „Die meisten Israelis sind für die Zweistaatenlösung, aber bloß nicht jetzt und auch nicht hier.“[4] Den Luxus der Verzweiflung könne sich in dieser Situation keiner leisten, sagt David Grossmann, allenthalben herrschen jedoch Enttäuschung und Ratlosigkeit vor. Schließlich ist seit vielen Jahren bereits alles gesagt, ausgehandelt und aufgeschrieben worden. Die Lösung des Nahostkonflikts liegt in den Schubladen der verantwortlichen Politiker. Allein der Wille zur Umsetzung fehlt.
Der israelische Intellektuelle Avraham Burg weist wiederholt darauf hin, dass zu einem vertrackten Konflikt immer zwei Seiten beitragen und nicht nur einer verantwortlich zu machen ist. Er gehört zu den wenigen Akteuren im öffentlichen Diskurs, die zu Recht auch auf die psychologischen Aspekte der Auseinandersetzung eingehen: Die Vergangenheiten beider Seiten – Holocaust und Nakba – spielen in der Gegenwart eine größere Rolle als gemeinhin wahrgenommen wird. Nicht nur die Religion, Nationalismus und Machtgelüste beherrschen auf israelischer Seite die Szene, so Burg in „Haaretz“ vom 5. Juli, sondern auch echte und eingebildete Ängste. „Da aber Friede und Ängste nicht zusammenpassen, haben wir noch immer keinen Frieden“, folgert der ehemalige Knesset-Sprecher, der der israelischen Arbeitspartei angehört.
Somit stellt sich die Frage, wie lange die internationale Gemeinschaft dieser Tragödie weiter tatenlos zusehen will. In jeder schlechten Beziehung führt Passivität zu wachsender Destruktion für alle Beteiligten. Es bedarf eines neutralen Vermittlers, der Verständnis für die Bedürfnisse, Ängste und historischen Erfahrungen von Israelis und Palästinensern zeigt. Wie in einer Paartherapie sollte er das Narrativ jeder Seite anhören und würdigen, ohne Partei zu ergreifen. Ein guter Mediator muss sich seiner eigenen Identität, seiner Motive und Absichten bewusst sein, um fair vermitteln zu können. Diese Rolle haben die USA als Vermittler bislang leider nicht gespielt.
Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Sicherheit, und das gilt für die Israelis ebenso wie für die Palästinenser. Der einzige Weg aus der Sackgasse ist deshalb, sich gerecht für beide Seiten einzusetzen. Mit Antisemitismus, anti-israelischen Gefühlen, Muslimfeindschaft oder Schuld- und Schamgefühlen wegen der Shoah hat das nichts zu tun. Wer das nicht begreifen will und aus Eigeninteresse oder historischer Befangenheit keinen Standpunkt bezieht, der beiden Kontrahenten gerecht wird, beteiligt sich selber am Nahostkonflikt – ob bewusst oder unbewusst.
Aus diesem Grund sind die mahnenden Worte, wie sie US-Präsident Barack Obama und seine Stellvertreter im Angesicht der neuen Krise äußerten, wichtig – sie reichen aber bei weitem nicht aus. Stattdessen müssen Israelis und Palästinenser an den Verhandlungstisch zurückkehren und von der internationalen Gemeinschaft durch Anreize und Sanktionen zum Frieden in zwei Staaten gedrängt werden. Nur so kann das Überleben und Wohlergehen beider Bevölkerungen auf Dauer gewährleistet werden.
[1] Vgl. Moran Azuly, Diskin: Delusional government brought us to this security deterioration www.ynetnews.com, 5.7.2014.
[2] Interview mit der Autorin, 9.7.2014.
[3] Interview mit der Autorin, 8.7.2014.
[4] Vgl. „Haaretz“, 4.7.2014
(aus: »Blätter« 8/2014, Seite 5-8)