Wladimir Putin: Vom Staatsdiener zum Missionar?

Häufig ist im Kontext des russischen Agierens im Ukraine-Konflikt in der hiesigen Politik und in den Medien über die Unberechenbarkeit Wladimir Putins und seine mangelnde Verlässlichkeit sowie darüber geklagt worden, dass man nicht mehr wisse, wie der russische Präsident eigentlich „ticke“. Bundeskanzlerin Angela Merkel wähnte dessen Denken gar in einer „anderen Welt“.
Auch die Autorin hat in diesem Magazin wiederholt Zweifel geäußert, ob mit diesem Präsidenten eine Rückkehr von der Konfrontation zu einem kooperativen Beziehungsgefüge überhaupt noch möglich erscheint.
Nun mögen die erwähnten Klagen zum guten Teil daraus resultieren, dass es westlichen Einblicken in die Politikfindungsprozesse hinter den Mauern des Kreml von jeher an Tiefe und Substanz gemangelt hat, weil schon die dafür erforderliche grundlegende Bereitschaft, sich auch in die russische Seite hineinzuversetzen, bei westlichen Eliten noch nie zum selbstverständlichen Standardhandwerkszeug gehörte. Das bedeutet aber nicht, dass die angesprochenen Zweifel an der Kooperationswilligkeit, wenn nicht -fähigkeit Putins, wenn dann doch einmal etwas mehr Licht ins „russische Dunkel“ fällt, quasi automatisch geringer würden. Das Gegenteil kann der Fall sein.
So erging es mir, als ich Kenntnis von einem Papier eines Experten erlangte, der als Insider gilt – Dmitri Trenin, seit 2008 Leiter der Moskauer Dependance der Carnegie Stiftung.
Trenin war zu Sowjetzeiten Militär – unter anderem als Berater im Irak (1975-76) und als Verbindungsoffizier der GSSD in Potsdam (1978-83); er schied 1993 mit dem Rang Oberst aus. 1984 hatte er am damaligen Institut für USA- und Kanada-Studien der sowjetische Akademie der Wissenschaften in Moskau promoviert; von 1985 bis 1991 gehörte er zum Stab der sowjetischen Delegation bei den Genfer Verhandlungen mit den USA über nukleare und Weltraumwaffen. 1993 war er der erste Non-NATO Senior Research Fellow am NATO-Defense College in Rom.
Das in Rede stehende Papier, das kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurde, trägt den Titel „Russlands Ausbruch aus dem Post-Cold War System: die Triebfedern von Putins Kurs“. „Die neue Periode der Rivalität zwischen dem Kreml und dem Westen“, konstatiert Trenin, sei das „Ergebnis des Scheiterns von Versuchen, Russland in die euro-atlantische Gemeinschaft zu integrieren“, und diese Periode werde „wahrscheinlich Jahre andauern“.
Trenin erinnert daran, dass Putin im Jahr 2000, unmittelbar nach dem Kosovo-Krieg der NATO, als ein Führer angetreten war, „der versuchte, die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wiederherzustellen und auf eine höhere Stufe zu heben“. Insbesondere nach dem 11. September habe er eine Allianz mit den USA anvisiert, „einschließlich Mitgliedschaft in der NATO und Integration in Europa“. Putin habe das amerikanische Vorgehen in Afghanistan unverzüglich massiv unterstützt. Seine Hoffnungen seien jedoch zunichte gemacht worden – unter anderem durch die einseitige Aufkündigung des ABM-Vertrages durch die USA sowie durch die Einbeziehung der baltischen Staaten in die NATO. Bereits ab Ende 2004 habe Putin daher Abstriche an seinen früheren Vorstellungen gemacht, Russland könne Teil eines erweiterten euro-atlantischen Westens werden, und begonnen, sich stärker auf nationale Interessen zu fokussieren. Doch noch im Jahre 2008 habe Putin, trotz seiner scharfen Kritik an der globalen Dominanz der USA in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007, den neuen Präsidenten Dmitrij Medwedjew mit weiteren kooperativ angelegten Initiativen „auf eine Art Pfadfindertour in den Westen“ geschickt. (Putin selbst promotete die Idee eines größeren Europas – von Lissabon bis Wladiwostok – während seiner Visite in Deutschland im Jahre 2010.) Dreieinhalb Jahre später war die Bilanz allerdings „nicht vielversprechend“: Kein Durchbruch in Schlüsselfragen wie der Raketenabwehr; Missbrauch des durch Russland (und China) ermöglichten UNO-Mandats in Sachen Libyen durch die NATO; Ablehnung des russischen Vorschlags von 2008 für einen neuen europäischen Sicherheitsvertrag; statt dessen NATO-Beitrittsangebote an Georgien und die Ukraine sowie die vermutliche Zustimmung der USA gegenüber Tblissi, Süd-Ossetien anzugreifen; letzteres „offensichtlich in dem Bestreben, ethnische Konflikte in Georgien mit Gewalt zu lösen und so Georgien für eine NATO-Mitgliedschaft salonfähig zu machen“. Im dadurch ausgelösten russisch-georgischen Krieg habe der Westen dann an der Seite Georgiens agiert.
Trenin fasst zusammen: „Putin schloss daraus [...], das die Behandlung Russlands durch den Westen nicht von einer speziellen Person im Kreml abhing. Medwedjew trug, im Unterschied zu Putin, keinen KGB-Ballast mit sich. [...] Aber das Ergebnis war genau dasselbe: Russland stand es frei, mit den USA und ihren Verbündeten zu kooperieren, aber nur zu deren Bedingungen und nach einer Tagesordnung, die in Washington verfasst worden war.“
Dieses Fazit sei für Putin ein entscheidendes Motiv gewesen, Medwedjew keine zweite Amtszeit einzuräumen. Mit Putins Rückkehr in den Kreml im Mai 2012 sei dann ein Kurswechsel in der russischen Außenpolitik erfolgt. Hauptziel sei seither, „die volle Souveränität für Russland zu gewinnen“. Dies erfordere nach Ansicht des russischen Präsidenten „sowohl die Unabhängigkeit der russischen Innenpolitik gegenüber äußerem Einfluss als auch Moskaus diplomatische Gleichstellung gegenüber Washington“.
Putin sehe letztlich, hebt Trenin hervor, seine von jeher gehegten unterschwelligen Befürchtungen gegenüber den USA und dem Westen bestätigt: Deren Ziel habe in der Vergangenheit darin bestanden, Russland niederzuhalten sowie in der einen oder anderen Form unter Kontrolle zu bringen. Und nach dem Ende des Kalten Krieges, „als Russland schwach war, lehnte es der Westen ab, Moskau und dessen Interessen zu respektieren, was in der NATO-Expansion nach Osten seinen Ausdruck fand“. Eine Fortsetzung dieser Ungleichbehandlung und Zurücksetzung Russlands wolle Putin nicht länger akzeptieren.
Mitentscheidend für den außenpolitischen Kurswechsel sei dabei, wie Trenin darlegt, ein persönlicher Wandlungsprozess Putins selbst gewesen, der in dessen vierjährigem Intermezzo als russischer Premierminister zu einem gewissen Abschluss gekommen und durch intensivierte Kontakte zur Russisch-Orthodoxen Kirche sowie zu Land und Leuten geprägt worden sei: „Am Ende seiner vierjährigen Zeit als Premier erschien Putin inspiriert durch ein Gefühl für Geschichte und ein Mandat von Gott. Der renommierte Pragmatiker und selbst ernannte Staatsdiener [...] hatte sich in einen Missionar verwandelt.“ Das habe es Putin später, in der Ukraine-Krise, „erlaubt, entspannt und überzeugt zu bleiben, dass Gott auf seiner – und Russlands – Seite war im rauen Wettstreit mit den Vereinigten Staaten“.
Darüber hinaus habe Russland unter Putin nunmehr „zweifellos [...] die Rolle eines globalen Verteidigers bodenständiger Werte“ (Heiligkeit der Familie, Unerlässlichkeit religiöser Orientierung, zentrale Rolle des Staates gegenüber allen politischen und sozialen Institutionen, Patriotismus) übernommen. Das schließt, wie man weiß, unappetitliche Kontakte zu weit rechts stehenden – nach Putins heutigen Maßstäben „gesunden“ – Kräften in anderen europäischen Staaten, zu politischen Parteien und Bewegungen, ein, die sich einen ähnlich tradierten Wertekanon auf die Fahnen geschrieben haben (Front Nationale, Frankreich; Independence Party, Großbritannien; Jobbik, Ungarn und andere). Ein maßgeblicher Unterschied besteht allerdings, folgt man Trenin, darin, dass der russische Präsident die diskriminierende und nicht selten gewaltbereite Xenophobie europäischer Rechtskonservativer nicht teilt, sondern sich in der russischen Gesellschaft erfolgreich um ein ausgewogenes Verhältnis zu allen vier Hauptreligionen im Lande (orthodoxes Christentum, Islam, Judentum, Buddhismus) bemüht.
Von strategischer Bedeutung in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht für die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen dürften im hier skizzierten Gesamtkontext trotz allem aber folgende, von Trenin herausgearbeitete Punkte sein:

  • In Putins Sicht implizieren die innenpolitischen Veränderungen in der Ukraine (Orange Revolution 2004-2005, Euromaidan 2014) „im besten Fall“ die Gefahr, das Land „durch NATO-Mitgliedschaft in eine gegen Russland gerichtete Militärbasis zu verwandeln“. „Im schlimmsten Fall“ seien Sie „Probeläufe für einen Regimewechsel in Moskau gewesen“.
  • Nach Putins Vorstellung soll Russland zum „Herzstück einer großen geoökonomischen Einheit werden, einer Eurasischen Union, komplett mit politischen, kulturellen und Sicherheitsvereinbarungen. [...] Insbesondere preist Putin diese Eurasische Union als ein Mittel für Russland zu verhindern, sowohl gegenüber Europa als auch gegenüber Asien an den Rand gedrängt zu werden und sowohl der EU als auch China zu gleichen Bedingungen gegenüberzutreten“.
  • „Zum ersten Mal in der Neuzeit hat Russland Europa zurückgewiesen – nicht nur als Mentor, sondern auch als Modell.“ Putin sei überzeugt, dass die europäischen Länder begonnen haben, „ihre Wurzeln zu verleugnen, einschließlich der christlichen Werte, auf denen die westliche Zivilisation beruht“.Bereits 2011 hatte Putin die Grundsatzentscheidung getroffen, eine groß angelegte Modernisierung der russischen Streitkräfte bis zum Jahre 2020 zu realisieren; veranschlagt dafür wurden 700 Milliarden Dollar.
  • Nach dem Scheitern des russischen Vorschlages von 2010, mit der NATO zusammen eine gemeinsame Raketenabwehr aufzubauen – „als de facto militärische Verbündete“ –, sei Putin zu Plänen übergegangen, eine Raketenabwehr gegen die NATO zu schaffen.
  • Syrien markierte eine Wegscheide im Verhältnis zu den USA: „Dort hat Moskau nicht einfach Rache an Washington für Libyen genommen. Das erste Mal seit Ende des Kalten Krieges hat Russland nicht bloß gegen die Außenpolitik der USA protestiert, sondern aktiv dagegen opponiert.“
  • Ähnliches gilt für die Snowden-Affäre: Russland sei bereit gewesen, den Flüchtling den US-Behörden zu überstellen – auf der Basis eines gegenseitigen Auslieferungsabkommens. Das habe Washington „kategorisch abgelehnt“.
  • Die US-geführten Sanktionen hätten Putin innenpolitisch erheblich gestärkt. Seine Wertschätzung in der Bevölkerung sei höher denn je und der Präsident lege viel Wert darauf, „in Kontakt mit dem einfachen russischen Volk zu bleiben“. Das sei, im Gegensatz zu anders lautenden westlichen Mutmaßungen, der Schlüssel zur Stabilität seiner Macht.

Trenins Warnung, dass Konfrontation mit Moskau „das nicht zu unterschätzende Risiko einer direkten militärischen Konfrontation früherer Feinde des Kalten Krieges in sich berge – mit unvorhersehbaren Konsequenzen“, sollte dabei nie aus dem Blickfeld geraten. „Sendbote Gottes“ ist Wladimir Putin gewiss nicht. Das (nuklearstrategische) Potenzial, zur „Geißel Gottes“ zu werden hat Russland jedoch allemal. Eben dieser Sachverhalt – mindestens – ist gemeint, wenn die Rede davon ist, Sicherheit in Europa sei ohne oder gar gegen Russland nicht zu haben.