NSU. Michael Menzel und der Tatort Eisenach-Stregda

Als Auffindezeitpunkt des im Eisenacher Ortsteil Stregda geparkten Wohnmobils vom Typ FIAT „Capron“ mit den Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 ist von der zuständigen Gothaer Polizeidirektion protokolliert worden: „gegen 12:05 Uhr“[1].
Der damalige Kriminaldirektor Michael Menzel, Leiter der regional für Eisenach zuständigen Polizeidirektion Gotha, ist nach eigenem Bekunden „12.06 Uhr über den Fakt informiert gewesen“[2] und anschließend nach Stregda gefahren: „Ich denke, dass mein Eintreffen 12.30 Uhr, 12.35 Uhr war.“[3]
Durch seine Dienststellung war Menzel automatisch weisungsbefugter leitender Ermittler – eine Funktion, die er bis zur Abgabe des Falles an das Bundeskriminalamt einige Tage später ausübte.
Vor Ort in Stregda verblieb Menzel am 04.11. etwa zwei Stunden und ist – wiederum nach eigener Aussage – „um 14.32 Uhr nach Gotha zurückgefahren“[4].
Dass gravierende Indizien dafür sprechen, dass Menzel schon zum Zeitpunkt seines Eintreffens in Stregda über detailliertes Vor-, respektive Täterwissen zum Tatort Wohnmobil verfügt haben muss, ist im Rahmen der Blättchen-Veröffentlichungen zum NSU-Komplex bereits thematisiert worden.[5] Ein zentraler Punkt dabei: Laut polizeilichem Einsatzverlaufsbericht zum 04.11.2011 wurde um 23:11 Uhr an diesem Tage im Wohnmobil eine Pistole Heckler & Koch, Modell P 2000 sichergestellt[6], die anschließend als die von den Tätern gestohlene Dienstwaffe der am 25. April 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter identifiziert wurde. Doch bereits in den Nachmittagsstunden desselben Tages, zwischen 16:30 und 17:00 Uhr, hatte Menzel telefonisch nach Baden-Württemberg die Information durchgegeben, dass die Kiesewetter-Waffe gefunden worden sei.[7] Das ist am Tage des Geschehens durch eine Baden-Württemberger Beamtin auch so protokolliert und später von ihr und weiteren Kollegen gegenüber dem zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages bestätigt worden.[8]
Dieses und andere Indizien führen zur Frage des Warum?
Warum sollte Menzel, der nach eigener Aussage in den zehn Jahren zuvor zu keinem Zeitpunkt in die Fahndung nach dem Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe involviert gewesen war[9], von dritter Seite mit Täterwissen gebrieft worden sein?
Dazu Ekkehard Sieker, der seit langem zu dieser Materie recherchiert[10]: „Es spricht einiges für die Hypothese, dass Menzel einen bestimmten Auftrag hatte: Er sollte am Tatort Wohnmobil, das präpariert worden war, um – in Verbindung mit dem zweiten Tatort des 4. November 2011, dem in der Frühlingstraße in Zwickau, dem letzten Wohnort des Trios – eine ganz bestimmte Geschichte zu erzählen, die Untersuchungen und zugehörigen Ermittlungen so zu führen beziehungsweise führen zu lassen, dass deren Ergebnisse diese Geschichte möglichst weitgehend bestätigen und nicht konterkarieren. Dafür wurde er entsprechend gebrieft. Als Menzel am 4. November in Stregda eintraf, wusste er daher, was ihn im Camper erwartete: vor allem zwei Leichen und die Dienstwaffen der Heilbronner Polizisten Kiesewetter und Arnold. Seine späteren Einlassungen vor dem ersten Thüringer NSU-Ausschuss legen nahe, dass er auch deren Platzierung kannte – die Kiesewetter-Waffe lag auf dem Tisch im Wohnbereich des Campers[11], die Arnold-Waffe in dessen Nasszelle.[12] Auch über die Identität der Toten wusste er natürlich Bescheid.[13]
Und welche Geschichte sollte erzählt werden?
„Die Kurzfassung“, erläutert Sieker, „geht so: In Stregda fühlten sich zwei Verbrecher, die neun Morde an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund begangen hatten, den Polizistenmord von Heilbronn, zwei Bombenattentate in Köln sowie 15 Banküberfälle, durch die Entdeckung ihres Campers durch zwei uniformierte Polizisten so final in die Enge getrieben, dass Mundlos Böhnhardt erschoss, dann das Wohnmobil in Brandt steckte und sich schließlich selbst entleibte[14]. Für den- oder diejenigen, die die Geschichte so präsentieren wollten, wäre damit ein Schlussstrich unter eine Menge bis dato unaufgeklärter Fälle gezogen worden, die zum Teil heikle Fragen aufwerfen. Vor allem zum Agieren des Verfassungsschutzes und womöglich weiterer und zwar nicht nur deutscher Dienste – wie etwa der letzte Migrantenmord in Kassel am 6. April 2006, als ein V-Mann des Verfassungsschutzes zum Tatzeitpunkt am Tatort war, oder der Mord von Heilbronn.“
Lege man diese Hypothese von einen Auftrag Menzels für den Tatort Wohnmobil zugrunde, so Sieker weiter, fänden eine Reihe eigentümlicher, fragwürdiger Verhaltensweisen und Entscheidungen des damaligen Gothaer Polizeidirektors in Stregda eine ziemlich schlüssige Erklärung: „Es ist, als ob die Teilchen eines Puzzles an die richtigen Stellen fallen und ein Bild ergeben.“

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Die ersten Fotos vom Inneren des Wohnmobils sind in Stregda von einem Feuerwehrmann nach dem Löschen des Brandes im Camper gemacht worden – „zur Einsatzdokumentation“[15]. Das geschah noch vor Menzels Eintreffen. Als dieser davon erfuhr, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als die Speicherkarte des Fotoapparates der Feuerwehr konfiszieren zu lassen. Menzel erklärte dies dem ersten Thüringer NSU-Ausschuss damit, „dass mir der Einsatzleiter (der Feuerwehr – G.M.) gesagt hat, ja, wir haben da drin fotografiert. Das zählt nicht zu seinen Aufgaben, die Beweisdokumentation […]. Deswegen habe ich angeordnet, dieses Speichermedium einzuziehen, um die Inhalte der Bilder in die staatsanwaltschaftlichen oder in die polizeilichen Ermittlungen einfließen zu lassen.“[16]
Zusätzlich Sinn ergibt diese Vorgehensweise allerdings, wenn verhindern werden sollte, dass unautorisierte Aufnahmen vom Inneren des Wohnmobils, die möglicherweise erklärungsbedürftige Sachverhalte zeigen oder bestimmte, später asservierte Gegenstände eben nicht zeigen, dem eigenen Zugriff und der eigenen Kontrolle entzogen werden und womöglich Außenstehenden wie den Medien zur Kenntnis gelangen.
Als der erste Thüringer NSU-Ausschuss Menzel zu diesem Vorgang befragte, konnte (oder wollte) der im Übrigen nichts Definitives dazu sagen, wie mit den Feuerwehr-Fotos weiter verfahren wurde und ob sie sich bei Rückgabe der Speicherkarte an die Feuerwehr noch auf derselben befanden oder warum diese Fotos in den dem Ausschuss übergebenen Ermittlungsunterklagen nicht enthalten waren.[17]

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Das Hauptproblem im Wohnmobil in Stregda war jedoch ein anderes: Wenn Mundlos und Böhnhardt zum Zeitpunkt des Auffindens des Campers bereits eine Zeit lang tot waren – wofür eine ganze Reihe von Indizien spricht, wie in diesem Magazin bereits ausführlich dargelegt wurde[18] –, wäre die Totenstarre, die bereits in den ersten drei bis fünf Stunden nach dem Ableben einsetzt[19], schon teilweise oder vollständig ausgeprägt gewesen.
Die Feststellung schon von Anzeichen von Totenstarre durch medizinisch einschlägig qualifiziertes oder zumindest entsprechend erfahrenes Personal wie Rettungssanitäter, Notarzt, Gerichtsmediziner, Tatortermittler oder Bestatter hätte aber die offizielle Lesart von der erweiterten Selbsttötung im Wohnmobil sofort ad absurdum geführt. Solchem Personal wurde daher in Stregda während der Anwesenheit Menzels und durch seine Anweisungen zum Verladen und Abtransportieren des Campers auch darüber hinaus der direkte Zugang zu den Leichen systematisch verwehrt, womit das auch in Thüringen gesetzlich vorgeschriebene Minimum an amtlicher Totenschau am Auffindeort einer Leiche[20] verhindert wurde.
Die beim Wohnmobil eintreffenden Rettungssanitäter wurden ebenso am Betreten gehindert wie der wenig später hinzukommende Notarzt Dr. Michael Schlichter. Das geschah, noch bevor Menzel selbst in Stregda auftauchte. Zunächst durchaus begründet – erst mit dem Hinweis auf Knallgeräusche (Schüsse?) im Camper, dann wegen des Brandgeschehens und schließlich wegen eines Gegenstandes im Innenraum, der als unter Umständen zu einer Sprengfalle[21] gehörig eingestuft wurde. Doch auch nachdem die letztere Frage nach Ankunft von Menzel und durch diesen geklärt worden war, erhielt der Notarzt keinen Zutritt[22] und zog schließlich unverrichteter Dinge wieder ab. Danach, um 13:12 Uhr[23], trafen die Jenenser Gerichtsmediziner Prof. Dr. med. Gitta Mall und Dr. Reinhard Heiderstädt in Stregda ein, die das Innere des Campers jedoch nur sehr flüchtig in Augenschein nahmen.[24] Dass bis dahin noch keine offizielle Feststellung des Todes und keine Untersuchungen zur Ermittlung des Todeszeitpunktes der vorgefundenen Leichen erfolgt waren, erfuhr Mall nach eigenem Bekunden überhaupt erst während ihrer Einvernahme vor dem zweiten Thüringer NSU-Ausschuss am 27. August 2015[25]. Dass seitens des leitenden Ermittlers vor Ort, Menzel, auch an die Gerichtsmediziner keine Aufforderung erging, eine amtliche Totenschau vorzunehmen, ist im Übrigen nur mit Vorsatz zu erklären, denn den Inhalt des Thüringer Bestattungsgesetzes kannte Menzel nach eigener Aussage bestens; er hatte an dessen Erarbeitung mitgewirkt.[26]
Auch dass Menzel in Stregda augenscheinlich von Anfang an darauf setzte, dass keine systematischem kriminaltechnischen Untersuchungen im Wohnmobil am Auffindeort vorgenommen werden sollten, sondern den Camper so rasch als möglich abtransportieren zu lassen[27], und das schließlich entgegen üblicher Polizeipraxis anordnete, ohne zuvor die Leichen bergen zu lassen, erklärt sich ebenfalls, wenn es darum ging, möglichst auf Zeit zu spielen, um das Ausmaß der bereits eingetretenen Totenstarre zu kaschieren.
Aus eben diesem Grunde dürfte Menzel in Stregda auch die sogenannte Tatortgruppe, also das für die unmittelbare Spurensicherung zuständige Polizeiteam, daran gehindert haben, die kriminaltechnische Regelroutine unmittelbar am Auffindeort des Campers abzuarbeiten – also zum Beispiel „spurensicherungssystematisch Schmauchspuren von den Händen der Leichen“[28] abzunehmen, was allerdings eine vorherige Bergung der Toten zur Voraussetzung gehabt hätte. Im zweiten Thüringer NSU-Ausschuss ist Menzel daher völlig zu Recht vom Ausschuss-Mitglied Jörg Kellner (CDU) gefragt worden: „Was war denn der Grund, dass Sie die Tatortgruppe […] an der Stelle […] ausgeblendet haben […]?“[29] Menzels Antwort darauf, dass man in Stregda „irgendwann um 17 oder 18 Uhr vor der Situation“ gestanden hätte, „dass es dunkel ist und wir die Tatortarbeit abbrechen müssen“[30] lieferte keine schlüssige Begründung. Ein räumlich so begrenzter Tatort wie das Innere eines Wohnmobils hätte jederzeit auch künstlich ausgeleuchtet werden können. So aber verzögerte sich die Bergung des ersten Toten, Böhnhardts, durch die Tatortgruppe schließlich bis 18 Uhr[31] und erfolgte somit sechs Stunden nach Auffinden des Wohnmobils. Die Klippe Totenstarre war umschifft, und als die Übergabe der Leichen an ein Bestattungsunternehmen erfolgte – weitere sechs Stunden später, um 00:03 Uhr[32] am 05.11.2011 – waren diesbezüglich ebenfalls keine Probleme mehr zu erwarten.

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Zurück zur „Sprengfalle“: Um diese Frage zu klären, wurde am 4. November nicht etwa ein Sprengstoffexperte nach Stregda beordert, sondern Menzel, der von sich selbst einräumt, keine entsprechende Ausbildung zu haben[33], genügte, vor Ort eingetroffen, wortwörtlich ein Blick, um die Sache zu „entschärfen“: „Bei näherer Betrachtung – also ein Blick von außen in den Tatort hinein – konnte man feststellen, dass der äußeren Form nach es sich vermutlich oder sich um ein Batterieladegerät handeln könnte, sodass von da keine Gefahr ausging.“[34]
Als Ausschussmitglied Kellner trotz dieser Erklärung nachfasste, verwies Menzel auf seine beruflichen Erfahrungen:
Abg. Kellner:
[…] Ist denn das nicht üblicherweise […] so, dass man auch da die Spezialisten holt, wenn man schon diese Vermutung (dass eine Sprengfalle vorliegen könnte – G.M.) hat […]? Was hat Sie da bewogen, dass man das nicht beachtet hat?
Herr Menzel:
[…] bin ich als Polizeibeamter durchaus mit meiner Erfahrung in der Lage, mir visuell diesen Tatort anzuschauen und selber zu einer Einschätzung zu kommen und mir nicht nur die Einschätzung über Dritte zukommen zu lassen.“[35]
Nun war Menzel aber bei weitem nicht der einzige Polizeibeamte mit Erfahrung in Stregda. Bei den anderen reichte diese jedoch offenbar nicht aus, um die Frage „Sprengfalle oder nicht?“ durch bloße Inaugenscheinnahme zu entscheiden. Doch vielleicht ging das Menzel auch deswegen leichter von der Hand, weil er durch sein Briefing wusste, dass mit nichts dergleichen gerechnet werden musste.
Dann wäre auch seine Selbststilisierung als ein sich einem Berufsrisiko aussetzender verantwortungsbewusster leitender Beamter nur warme Luft gewesen:
„Abg. König:
Es ist Standard, dass, wenn der Verdacht besteht, dass eine Sprengfalle dort vorhanden ist, dort der Polizeieinsatzleiter hineingeht und schaut, ist das eine Sprengfalle oder nicht? Das ist der Standard der polizeilichen Arbeit?
Herr Menzel:
Man muss sich doch eine eigene Meinung bilden dürfen.
Abg. König:
Ja, aber im Zweifelsfall hat man dann keine eigenen Polizeibeamten mehr, Herr Menzel.
Herr Menzel:
Also dieser Rückschluss, Frau König, ist aus meiner Sicht nicht statthaft, sondern der Polizeiführer hat geradezu die Verpflichtung, die Informationen zu verdichten. […] Denn wenn bei der Außenansicht sich zum Beispiel der Hinweis ergeben hätte, dass es sich gegebenenfalls um eine Sprengvorrichtung handeln könnte, dann hätte natürlich logischerweise der Tatort oder der Tatortbereich, der ganze Straßenzug hätte weiter abgesperrt werden müssen. Diese Informationsverdichtung liegt nun mal auch im Berufsrisiko des Polizeibeamten, der da hingehen muss und muss gucken, was da los ist.“[36]

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Und schließlich liefert die von Sieker formulierte Hypothese auch die Erklärung für das unglaublich unprofessionell, teils nachgerade dilettantisch anmutende Verhalten Menzels in Stregda sowie ein zusätzliches Motiv für dessen mutmaßliche Verhinderung der Anfertigung sogenannter Spheron-Aufnahmen vor dem Verladen und Abschleppen des Wohnmobils.
Das begann schon damit, dass Menzel die Tür des Campers ohne Handschuhe öffnete[37] und diesen dann auch ohne Schutzbekleidung[38] betreten hat. „Die Tatortgruppe hat sich darüber doch sehr gewundert, dass man den Tatort […] betritt, ohne entsprechende Schutzkleidung anzuhaben“[39], wurde Menzel im zweiten Thüringer NSU-Ausschuss deshalb entgegengehalten, denn durch diese unsachgemäße Vorgehensweise besteht die Gefahr einer zusätzlichen Kontamination oder anderweitigen Verfälschungen des Tatortes.[40]
Doch damit nicht genug. Menzel hat darüber hinaus mit einer Feuerwehrharke am Tatort operiert. Damit habe er „Brandnester lokalisiert, die der neben mir stehende Kollege von der Feuerwehr gelöscht hat“[41]. Noch eine weitere Manipulation hat Menzel nach eigenem Bekunden vorgenommen – nämlich an „dem zweiten Pumpgun, welches sich unmittelbar unter der linken Körperhälfte von Herrn Böhnhardt befand. Die Frau Prof. Mall konnte dieses Pumpgun aufgrund des Brandschutts nicht erkennen. Das ist aber wichtig, weil natürlich die Waffe, auch der Waffentyp für die rechtsmedizinische Obduktion vonnöten ist. Daraufhin habe ich den Brandschutt mit der Harke ein kleines Stückchen zur Seite geräumt. Die Frau Prof. Mall hat das zur Kenntnis genommen, hat diese Waffe gesehen.“[42]
Diese Erklärung mag dem Laien schlüssig vorkommen, der Fachmann hingegen kann sich nur wundern: Welchen Sinn soll es haben, dass eine Gerichtsmedizinerin, die am Auffindeort einer Leiche keinerlei Untersuchungen an derselben vornimmt, eine unter dieser Leiche liegende Waffe betrachtet, die zwar theoretisch als Tatwaffe infrage kommen mag, über die sie, die Gerichtsmedizinerin, aber genauso gut informiert werden kann, sobald ihr die Leiche zur Obduktion überstellt wird? Zumal wenn für eine solche Betrachtung der Tatort verändert werden muss.
Zur kriminaltechnischen Routine bei entsprechenden Kapitalverbrechen zählt seit einigen Jahren die Anfertigung von sogenannten Spheron-Aufnahmen, mit denen ein Tatort in seinem ursprünglichen Zustand sowie dreidimensional dokumentiert werden kann.[43] Das geschieht logischerweise vor allen weiteren kriminaltechnischen Untersuchungen und ermöglicht es später unter anderem, nachfolgende Veränderungen zu erkennen und die Ausgangssituation zu rekonstruieren.
Die Bedeutung dieser Maßnahme sowie sein vorgebliches diesbezügliches Agieren in Stregda erläuterte Menzel dem zweiten Thüringer NSU-Ausschuss folgendermaßen: „Ich habe ihnen (der Tatortgruppe – G.M.) den Auftrag gegeben der Fotodokumentation, insbesondere den Einsatz des Spheron-Verfahrens. Das Spheron-Verfahren beschreibt im Prinzip eine 360-Grad-Aufnahme und ermöglicht damit die Rekonstruktion des Tatorts. Die Vorher- und Nachherabgleiche, also sprich die Bilder oder, ich nenne es mal, Aufnahmen im Original von Stregda und gegebenenfalls dann in der Wohnhalle (des privaten Abschleppunternehmens Tautz, wohin der Camper auf Anweisung Menzels verbracht wurde – G.M.) – Vorher-Nachher-Abgleich – sind zwingend für die Beurteilung der Rekonstruktion und der weiteren Spurensicherung von Bedeutung.“[44] Bei seiner „Auftragserteilung“[45] bezüglich der Spheron-Aufnahmen habe er „den Schwerpunkt auf die Innenaufnahmen (im Wohnmobil – G.M.) gelegt“[46].
Genau diese Auftragserteilung ist jedoch offenbar gar nicht erfolgt, denn vom Innenbereich des Wohnmobils in Stregda – vor dessen Verladung und Abschleppen – existieren keine Spheron-Aufnahmen. Aus der Wiedergabe einer Aussage der Leiterin von Sylvia Michel (Tatortgruppe) durch die Thüringer NSU-Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD) gegenüber Menzel ist vielmehr erkennbar, dass dieser auch in dieser Frage abgeblockt hat:
Vors. Abg. Marx:
Also die Frau Michel, die wir hier angehört haben, hat uns dazu gesagt, dass es nicht gefordert war oder auch nicht gewollt war, dass diese Spheron-Aufnahmen schon in Eisenach-Stregda gemacht werden. Die sind erst später in der Halle gemacht worden. Sie hat dann gesagt, na ja, sie hatte da eben den Hut für die Tatortgruppe nicht auf, das seien immer noch Sie gewesen vor Ort und deswegen habe man das nicht gemacht.“[47]
Und die ermittlungsrelevante Konsequenzen? Dazu nochmals Ekkehard Sieker:

  • Jeder Transport, jede Bewegung einer Leiche oder eines ganzen Tatortes führe zu Spurenverlusten.[48]
  • Da keine zusammenhängende oder systematische Dokumentation der zum Zeitpunkt des Auffindens des Wohnmobils in diesem befindlichen sichtbaren Objekte existiere, konnten bis zum Anfertigen der Spheron-Aufnahmen in der Tautz-Halle[49] Gegenstände entfernt oder hinzugefügt werden, ohne dass dies aufgefallen wäre.
  • Und weil beim Verladen des Wohnmobils über eine schräge Rampe alle ungesicherten Objekte in dessen Innenraum dem Risiko der Lageveränderung ausgesetzt wurden, war dies, soweit es geschah, im Nachhinein weder zu erkennen, noch war der Ausgangszustand rekonstruierbar.

Angesichts dieser Konsequenzen kann man durchaus von einer Zerstörung des Tatortes sprechen, wie es Hajo Funke getan hat[50], der von verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüssen als Sachverständiger gehört wurde, darunter in Thüringen. Und der Abschlussbericht des ersten Thüringer NSU-Ausschusses urteilte folgendermaßen: „Der Untersuchungsausschuss kommt zum Schluss, dass die Verbringung des Wohnmobils in eine Halle zum Zweck der Spurensicherung weder sinnvoll noch geboten gewesen ist. Für den Ausschuss ist offenkundig, dass die Spurenlage unter dem Transport zwangsläufig gelitten haben muss. Dies folgt nicht nur aus Erschütterungen bei der Fahrt, sondern auch daraus, dass das beschädigte Wohnmobil über eine Rampe mit einem Gefälle bzw. einer Steigung von 40 Grad auf den Sattelschlepper gezogen werden musste. […]
Es konnte von den Zeugen auch auf Nachfrage kein vergleichbarer Fall benannt werden, in dem eine derartige Verschiebung eines Ereignisorts stattgefunden hat. Die Spurensicherung hätte an Ort und Stelle erfolgen müssen und auch können. Der Umbau mit einem geeigneten Zelt und die Bereitstellung von Licht, ggf. auch Heizquellen, wäre, wie ansonsten üblich, auch hier möglich gewesen.
Der Zeuge PD Michael Menzel konnte überdies keine überzeugende Begründung dafür geben, warum er […] den Abschleppauftrag auslöste, obwohl er erst kurz davor in Stregda eingetroffen war.“[51]
Unprofessionell? Dilettantisch? Nicht, wenn unter der Annahme der eingangs genannten Hypothese das von Menzel verfolgte Ziel eben nicht in einer möglichst einwandfreien kriminaltechnischen Untersuchung des Wohnmobils, sondern vielmehr darin bestand, Möglichkeiten für nachträgliche Manipulationen offen zu halten, etwa um im Interesse der zu erzählenden Geschichte gegebenenfalls noch „nachbessern“ zu können.

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Aufgrund all dieser Sachverhalte scheint die Hypothese, dass Menzel im Zusammenhang mit dem Tatort Eisenach-Stregda einen bestimmten Auftrag hatte, zumindest nicht an den Haaren herbeigezogen. Der Thüringer NSU-Ausschussvorsitzenden Dorothea Marx schwant offenbar Ähnliches, denn sie erklärte auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Erfurt am 03.11.2016 zum Thema „Fünf Jahre NSU – Aufklärung unerwünscht?“, dass Menzel „möglicherweise doch von höherer Stelle gesagt bekommen hat: Schaff‘ das Ding dort mal weg. Das könnte […] sehr schlüssig sein […].“[52]
Schlagworte: Michael Menzel, Gabriele Muthesius, NSU, Eisenach, Stregda, Wießner, Dressler, Spheron, Tatortgruppe, Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe, Frühlingsstraße

[1] – Thüringer Polizei. Polizeidirektion Gotha: Ermittlungen der Soko „Capron“ wg. Raub- und Erpressungsdelikt zum Nachteil von Kreditinstituten i.V.m, unnatürlichem Todesfall in der Öffentlichkeit. Aktueller Sachstand, 05.11.2011 (Bearbeiter: Schilling, KHKin), S. 1.

[2] – Thüringer Landtag, 5. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 60. Sitzung am 31. März 2014, Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 5-1, 60), S. 20.

[3] – Ebenda.

[4] – Ebenda, S. 19.

[5] – Siehe Gabriele Muthesius: „Besenrein“ – oder: „Wie viel Staat steckt im NSU?“, Das Blättchen, Sonderausgabe, 05.09.2016; http://das-blaettchen.de/2016/09/%e2%80%9ebesenrein%e2%80%9c-%e2%80%93-oder-%e2%80%9ewie-viel-staat-steckt-im-nsu%e2%80%9c-37111.html#_edn5 – aufgerufen am 20.01.2017.
Dieselbe: Fünf Jahre NSU-Ermittlungen – Fakten, Fakes & Fehler, Das Blättchen, Sonderausgabe, 14.11.2017; http://das-blaettchen.de/2016/11/fuenf-jahre-nsu-ermittlungen-%e2%80%93-fakten-fakes-fehler-37920.html – aufgerufen am 20.01.2017.

[6] – Vgl.: Kriminalpolizeistation Eisenach, Aktenzeichen TH1309-023340-11/9 (Sachbearbeitung durch Möckel, KHM): Einsatzverlaufsbericht (im Folgenden: EVB), S. 2. Zur detaillierteren Schilderung der Bergung siehe Aussage von Sylvia Michel (am 04.11.2011 in Stregda zur Tatortgruppe gehörig, deren Aufgabe die Spurensicherung ist) – Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 7. Sitzung am 22. Oktober 2015, Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme (im Folgenden: UA 6-1, 7), S. 135.

[7] – Diese Angabe machte Menzel selbst – gegenüber dem ersten Thüringer NSU-Ausschuss; siehe: UA 5-1, 60, S. 119.

[8] – Siehe ausführlicher Gabriele Muthesius: „Besenrein“; Sucheingabe: 16. Ausschusssitzung.

[9] – Konkret sagte Menzel vor dem ersten Thüringer NSU-Ausschuss aus, dass er „in Jena mit der Fahndung oder mit den Sachverhalten nichts zu tun hatte“ (UA 5-1, 60, S. 31) und dass „wir nichts mit dem Fall zu tun hatten, von Gotha“ (ebenda, S. 32).

[10] – Eingegangen sind Siekers Recherchen vor allem in das Buch „Die schützende Hand“ von Wolfgang Schorlau (siehe dazu Gabriele Muthesius: Das NSU-Phantom, Das Blättchen, 26/2015; http://das-blaettchen.de/2015/12/das-nsu-phantom-34760.html – aufgerufen am 22.01.2017), das demnächst als Taschenbuch-Ausgabe mit erweitertem Dokumentations-Anhang erscheint.

[11] – Im Abschlussbericht des ersten Thüringer NSU-Ausschusses hieß es zu einer diesbezüglichen Aussage Menzels: „Die Pistole, die vom Anschein her Ähnlichkeiten zu einer Dienstwaffe aufgewiesen habe, habe auf dem Tisch der Sitzecke gelegen und sei teilweise von Brandschutt verdeckt gewesen. Sie habe seine (Menzels – G.M.) Aufmerksamkeit erregt, weil der Plastikbereich des Magazinbodens offenbar durch thermische Verformung aufgeweicht gewesen sei, sodass die im Magazin befindliche Feder eine von den Patronen aus dem Magazinboden nach unten herausgedrückt habe. Deswegen sei die Waffe relativ gut zu sehen gewesen. Er habe diese Pistole als eine mögliche Polizeiwaffe anhand des Griffstückes, des Magazinbodens aus Plaste und der Verwendung polizeitypischer Munition (‚9 mm Para‘) identifiziert.“ (Thüringer Landtag, 5. Wahlperiode, Drucksache 5/8080, 16.07.2014, Bericht des Untersuchungsausschusses 5/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“ – im Folgenden: Abschlussbericht UA 5-1 –, S. 1275.)

[12] – In diesem Zusammenhang erinnerte Sieker die Autorin daran, dass Menzel später vor dem ersten Thüringer NSU-Ausschuss ausführlich erläutert hatte, warum er am Nachmittag des 4. November angeblich nur von der Kiesewetter-Waffe Kenntnis haben konnte:
Vors. Abg. Marx: […] Und da ist aber dann ja auch noch eine zweite Polizeiwaffe im Wohnmobil gewesen, und zwar die Waffe des Kollegen von der Frau Kiesewetter, des Herrn Arnold. Und die lag ja relativ unbeschädigt und auch gut zu erkennen […] in der Nasszelle. Wann haben Sie denn diese Waffe gesehen, die hätte man doch wahrscheinlich sehr schnell identifizieren können, weil, die war nicht angeschmort und nicht mit verglühtem Material (wie die Kiesewetter-Waffe, die unter Brandschutt – zum Foto hier klicken! – überdies nur schwer zu erkennen – zum Foto hier klicken! – war – G.M.)?
Herr Menzel: Ja, ich war nicht in der Nasszelle. Das ist ganz einfach die Erklärung.[…] Ich habe diese (die Waffe – G.M.) nicht gesehen, weil ich sie (die Tür der Nasszelle – G.M.) nicht geöffnet habe.“ (UA 5-1, 60, S. 101 f.)
Die Tür sei überdies durch die Leichen blockiert gewesen, weshalb diese zweite Heckler & Koch in Stregda keinesfalls habe geborgen werden können:
Vors. Abg. Marx: Also hätte man da über die Toten hinwegsteigen müssen?
Herr Menzel: Nicht nur das, sondern man muss ja auch noch die Tür öffnen können und wenn ich mich richtig dran erinnere, lagen die Leichen vor diesem Öffnungsbereich der Tür, das hätte gegebenenfalls, ich sage es jetzt mal, auch einer Veränderung der Leichen bedurft.“ (Ebenda, S. 104.)
Zu diesem Sachverhalt war Menzel offenbar unzutreffend gebrieft worden, und in Stregda ist ihm im Eifer des Gefechtes der Fehler nicht aufgefallen. Denn tatsächlich war die Tür der Nasszelle nicht nur offen, sondern von Mundlos‘ rechtem Oberarm und Ellenbogen auch noch so „arretiert“, wie ein Foto vom Tatort zeigt (hier klicken!). Dazu Sylvia Michel (Tatortgruppe): „Die Tür musste nicht extra gesichert werden, dadurch, dass die .hintere Person so mit dem Rücken, also teilweise mit dem linken Oberarm und Rücken direkt an der Tür lehnte, war die in sich fest.“ (UA 6-1, 7, S. 202).
Michel war es übrigens auch, die bei einer Begehung des Wohnmobils die Waffe in der Nasszelle entdeckte und auf deren Anregung hin sie geborgen wurde (siehe ebenda, S. 130)als überhaupt einziger Gegenstand vor dem Verladen und Abschleppen des Campers (siehe ebenda, S. 131).
Damit übereinstimmend sagte Tilo Hoffmann, am 04.11.2011 in Stregda Leiter der Tatortgruppe (siehe UA 6-1, 7, S. 79), aus: Die Pistole aus der Nasszelle, die haben wir […] rausgeholt, weil es da wirklich wahrscheinlich gewesen wäre, dass sie (beim Verladen des Campers – G.M.) verrutscht wäre.“ (Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 15. Sitzung am 28. April 2016, Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme – im Folgenden: UA 6-1, 15 –, S. 179.)
Ekkehard Sieker merkte dazu an: „Hoffmanns Argument, dass diese Waffe beim Verladen des Wohnmobils über eine schräge Rampe, wie es in Stregda geschah, verrutscht wäre, ist ja völlig zutreffend. Das galt aber für alle im Camper frei herumliegenden Körper und Gegenstände.“

[13] – Die offizielle Lesart der Identifizierung der Toten aus dem Camper besagt, dass von beiden nach ihrer Bergung durch die Tatortgruppe in den Abendstundes des 04.11.2011 die Fingerabdrücke genommen und anschließend im Thüringer Landeskriminalamt (TLKA) abgeglichen worden seien. Dabei sei Mundlos identifiziert worden; eine entsprechende telefonische Nachricht an die Polizeidirektion Gotha sei, wie Menzel selbst aussagte, „auf die Minute […] 3.17 Uhr“ (UA 5-1, 60, S. 41) in der Nacht des 05.01.2011 zugegangen.
Dass Menzel allerdings auch in dieser Frage vorinformiert war, machte die dezidierte Aussage des früheren V-Mann-Führers beim Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen und späteren Mitarbeiters des TLKA, Norbert Wießner, am 08.04.2013 vor dem damaligen NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages deutlich:
Zeuge Norbert Wießner: Ich werde das in meinem ganzen Leben nicht vergessen, wie am 04.11. der Anruf kam […]: In Eisenach sind Mundlos und Böhnhardt gefunden worden. […]
Dr. Eva Högl (SPD): Wer hat Sie denn damals angerufen?‘
Zeuge Norbert Wießner: Es hat mich damals der Leiter […] der Polizeidirektion Gotha (Menzel – G.M.) angerufen und hat gesagt: Sag mal, du warst ja vorher bei dem LfV (Landesamt für Verfassungsschutz – G.M.). Sag mal, wo können wir ansetzen; die Zschäpe fehlt, die Zschäpe ist nicht da!“ (Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode 17. Wahlperiode, 2. Untersuchungsausschuss, Protokoll Nr. 56, Zeugenvernehmung: Öffentlich, 8. April 2013: Stenografisches Protokoll, Endgültige Fassung, S. 11.)
„Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Herr Wießner, wann kam am 04.11. konkret der Anruf bei Ihnen an?
Zeuge Norbert Wießner: Das war nach-mittags. Das kann ich Ihnen gar nicht konkret sagen. […] Ich war total geschockt, wie es am Telefon hieß: In Eisenach sind Mundlos und Böhnhardt gefunden worden.“ (Ebenda, S. 12.)
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Herr Wießner, […] direkt am 04.11. ruft Sie der PD-Leiter an. Kannten Sie den Herrn schon vorher?
Zeuge Norbert Wießner: Ja, ich kannte den PD-Leiter.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Also das heißt, zum PD-Leiter war ein enger Kontakt da, dass er Sie sofort noch am Nachmittag, wo zumindest mal der Ablauf des 04.11. noch interessant ist, wann welche Informationen konkret feststanden […] er rief Sie […] – Sie als Person – direkt an?
Zeuge Norbert Wießner: Er rief zu Hause bei mir an, ja.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Aber als Sie aktiv waren, hatten Sie dann auch mit dem PD-Leiter damals schon zu tun?
Zeuge Norbert Wießner: Ja.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Und Sie wissen auch genau, dass es der 04.11. war?
Zeuge Norbert Wießner: 04.11., werde ich nie vergessen.“ (Ebenda, S. 18.)
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): […] Sie haben jetzt gerade eben gesagt, Sie hätten am 04.11., eben auch am Nachmittag, von Herrn Menzel den Anruf bekommen. Das habe ich richtig verstanden, ja?
Zeuge Norbert Wießner: Ja.“
[…]
Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): […] War das ein inoffizieller Anruf?
Zeuge Norbert Wießner: Ja, davon gehe ich doch aus. Ich war in Pension. Mich hat das auch verwundert, dass der da anrief.“ (Ebenda, S. 48.)
Zeuge Norbert Wießner: Also, ich habe diesen Anruf am 04.11. bekommen von dem Polizeileiter oder – – in Gotha. […]
Petra Pau (DIE LINKE): Und das war Herr Menzel?
[…]
Zeuge Norbert Wießner:
Menzel.“ (Ebenda, S. 50.)
Diese Aussagen revidierte Wießner zwar später vor dem Thüringer NSU-Ausschuss und beim Münchner NSU-Prozess – aber auf eine letztlich eher unglaubwürdige Weise. Nachfolgend Auszüge aus der NSU Watch-Protokollierung des 157. Verhandlungstages in München, 11.11.2014:
Wießner sei befragt worden, ob er „was zu einem Anruf am 04.11.2011 vom Leiter der PD Gotha sagen könne. Das könne er, so Wießner, er habe das im UA in Thüringen widerrufen. Er sei nicht am 04.11. angerufen worden, sondern am 06.11. Von Berlin die Aussage müsse er zurückziehen, weil er am 04.11. nicht habe angerufen werden können, er sei da gar nicht zu Hause gewesen, habe in der Familie gesundheitliche Probleme gehabt und da sei der 04. und 06. verwechselt worden.“
Und etwas später: „RA Stolle sagt, er wolle nochmal zum Anruf am 04.11.11 fragen, wann Wießner denn für sich rekonstruiert habe, dass der Anruf später kam. Wießner sagt, […] er sei am 04./05.11. bei den Schwiegereltern gewesen und am 06.11. zurückgekommen. Stolle hält aus Wießners Vernehmung beim Bundestags-UA vor, dass der dort gesagt habe, er werde in seinem ganzen Leben nie vergessen, wie am 04.11. der Anruf kam. Stolle fragt: ‚Wann ist Ihnen die Erkenntnis gekommen, dass der Anruf am 06.11. gekommen sein soll? […]‘ und Wießner sagt, diese Aussagen beim Bundestags-UA seien falsch gewesen. Es sei ihm bewusst geworden, als er zurückgefahren sei vom UA. Man habe ja 14 Tage Zeit für Korrekturen, da hätte er das schon korrigieren können, wie er von Berlin zurückgekommen sei. Stolle sagt, im Thüringer UA habe Wießner sieben Monate später angegeben, […] er könne mit Gewissheit nicht sagen, ob er am 04., 05. oder 06.11. angerufen wurde. Wießner sagt, er sage heute, der Fehler sei gewesen, dass er diese Aussage nicht in den 14 Tagen berichtigt habe.“ (https://www.nsu-watch.info/2014/11/protokoll-157-verhandlungstag-11-november-2014/ – aufgerufen am 22.01.2017.)
Also – ein berufserfahrener Ex-Polizist macht vor einem Bundestagsuntersuchungsausschuss eine falsche Aussage, bemerkt dies auf der Heimfahrt und lässt die 14 Tage, die befragten Zeugen in solchen Fällen zur Korrektur zur Verfügung stehen, ungenutzt verstreichen, um Monate später umso vehementer auf einer neuen Version zu bestehen?
Auch ein weiterer Zeuge, Jürgen Dressler, damals Erster Kriminalhauptkommissar beim TLKA, ist nach eigener Aussage schon an Abend des 04.11.2011 aus dem Bereich der Polizeidirektion Gotha (vom damals dort zeitweise eingesetzten Polizeibeamten Andreas Nuschke) über die Identität mindestens eines der Toten aus dem Camper informiert worden. (Siehe Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode. 2. Untersuchungsausschuss: Protokoll Nr. 54, Zeugenvernehmung: Öffentlich, 10. April 2013, S. 43 f.)
Dressler hat darüber sogar mit einem Kollegen, dem Zielfahnder Sven Wunderlich vom TLKA, gesprochen, der seinerseits entsprechend dazu aussagte. (Siehe Deutscher Bundestag. 17. Wahlperiode. 2. Untersuchungsausschuss: Protokoll Nr. 51, Zeugenvernehmung: Öffentlich, 19. März 2013, S. 62.)
Am 15.09.2016 jedoch rückte Dressler vor dem zweiten Thüringer NSU-Ausschuss von seiner ursprünglichen Aussage ab – ebenfalls auf eigentümliche Weise:
Herr Dressler:
Ich würde die Gelegenheit auch gern nutzen, noch etwas klarzustellen. Ich habe noch mal Rücksprache genommen mit dem Kollegen Nuschke (Hervorhebung – G.M.) […], weil klar war, dass diese Diskrepanz zwischen dem 04.11. und dem 05.11. hier im Raum stand. Ich war wirklich der eisernen Überzeugung, dass ich am 4. mit dem Kollegen Nuschke telefoniert hätte, aber […] er hat mir immer (Hervorhebung – G.M.) gesagt, dass es am 5. erst gewesen wäre – muss ich wohl einräumen, dass ich mich da vom Datum her geirrt habe.  […] Das Gesprach war offensichtlich am 05.11.“ (Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 19. Sitzung am 15. September 2016: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme, S. 31 f.)
Als ihm die Thüringer NSU-Ausschussvorsitzende Dorothea Marx entgegenhielt, dass er aber „bei vielen Nachfragen, auch hier in unserem Ausschuss, immer am 04.11. geblieben“ (ebenda, S. 33) sei, nahm der Dialog folgenden Verlauf:
„Herr Dressler:
Ja. Ich war aber auch wirklich davon uberzeugt, muss ich ganz ehrlich sagen. Es hat sich jetzt, weil das nun noch mal explizites Beweisthema war, der Umstand ergeben, dass wir (Dressler und Nuschke – G.M.) uns noch mal zusammengesetzt haben, da noch mal auch wirklich drüber gesprochen haben (Hervorhebung – G.M.). Ich komme wirklich zu der Überzeugung, dass es wohl der 5. gewesen ist.
Vors. Abg. Marx:
Wann haben Sie sich denn mit Herrn Nuschke jetzt noch mal zusammengesetzt?
Herr Dressler:
Ja.
Vors. Abg. Marx:
Wann?
Herr Dressler:
Gestern.
Vors. Abg. Marx:
Gestern. Von wem ging zu dieser Absprache die Initiative aus?
Herr Dressler:
Ich weiß nicht. Wir haben miteinander telefoniert. Aber wann, das kann ich nicht mehr genau sagen. Das war im Prinzip nachdem die Ladung eingegangen ist. Dann gab es den ersten Kontakt. Dann war die Frage, wann kommen wir einfach mal zusammen. Gestern hat es halt funktioniert. Mehr Zeit war auch nicht mehr.
Vors. Abg. Marx:
Wer hat denn wen angerufen? So meinte ich meine Frage.
Herr Dressler:
Das habe ich schon verstanden. Kann ich nicht mehr sagen, wann der Erstkontakt war, wer wen angerufen hat. Da wir das Treffen mehrmals verschoben haben, gab es sicher auch mal, dass er mich angerufen und dass ich ihn mal angerufen habe. Möchte mich jetzt nicht festlegen, wer nun die Initiative da hatte.“ (Ebenda, S. 33 f.)
Zwei revidierte Aussagen – die zunächst Vor-, respektive Täterwissen bei Menzel und in seinem dienstlichen Umfeld nahelegten und dann widerrufen wurden – sind natürlich noch kein Muster, zählen aber trotzdem zu den zahlreichen Ungereimtheiten und Widersprüchen im gesamten NSU-Komplex.

[14] – So die offizielle BKA-Version, die auch Eingang in die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft für den Münchner NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und andere gefunden hat: „Uwe Mundlos erschoss […] Uwe Böhnhardt […] und legte in dem Wohnmobil Feuer, bevor er sich selbst […] erschoss.“ (Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Anklageschrift v. 5. November 2012, 2 BJs 162/11-2, S. 214.)

[15] – UA 6-1, 15, S. 29.

[16] – UA 5-1, 60, S. 69.

[17] – Siehe ebenda, S. 70.

[18] – Siehe dazu ausführlich Gabriele Muthesius: Fünf Jahre NSU-Ermittlungen, Sucheingabe: Selbsttötung.

[19] – Zeitangabe nach Armin Mätzler: Todesermittlung. Polizeiliche Aufklärungsarbeit, Grundlagen und Fälle, Heidelberg 2009, S.67.

[20] – Als Mindestanforderung ist im Thüringer Bestattungsgesetz vorgeschrieben: „Ist an diesem Ort (dem Auffindeort einer Leiche – G.M.) eine ordnungsgemäße Leichenschau nicht möglich oder zweckmäßig, kann sich der Arzt zunächst auf die Feststellung des Todes, des Todeszeitpunkts und der äußeren Umstände beschränken.“ (Thüringer Bestattungsgesetz – ThürBestG – vom 19. Mai 2004, § 6.1; (http://landesrecht.thueringen.de/jportal/?quelle=jlink&query=BestattG+TH&psml=bsthueprod.psml&max=true  – aufgerufen am 17.08.2016.

[21] – Diesen Begriff verwendete Menzel gegenüber dem zweiten Thüringer NSU-Ausschuss; siehe: UA 6-1, 15, S. 9.

[22] – Schlichter fasste vor dem zweiten NSU-Ausschuss zusammen: „Ich kann das immer nur wieder sagen, wir sind dorthin gerufen worden, wir waren vor Ort, und uns wurde dann von den Einsatzkräften nicht gestattet, dahin zu gehen […].“ (Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 8. Sitzung am 3. Dezember 2015, Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme, S. 102.)

[23] – Siehe Polizeistation Eisenach, Einsatzverlaufsbericht zum Überfall auf die Sparkassenfiliale in Eisenach/Nord am 04.11.2011, Aktenzeichen TH1309-023340-11/9, Sachbearbeitung durch: Lotz, KOK, 23.02.2012 (im Folgenden: Einsatzverlaufsbericht zum Überfall), S. 4.

[24] – Siehe dazu ausführlicher Gabriele Muthesius: „Besenrein“; Sucheingabe: Tatortfundbericht.

[25] – Siehe Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 5. Sitzung am 27. August 2015, Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme, S. 362.

[26] – Menzel vor dem zweiten Thüringer NSU-Ausschuss im Hinblick auf das „Leichenschaugesetz“: „[…] ich kenne das sehr gut, weil ich habe es geschrieben, im Thüringer Innenministerium, oder durfte zumindest mitwirken […].“ (UA 6-1, 15, S. 60.)

[27] – Schon als gegen 14:00 Uhr (siehe UA 6-1, 7, S. 196) oder 14:12 Uhr (siehe Einsatzverlaufsbericht zum Überfall, a.a.O.) die Tatortgruppe in Stregda eintraf und somit vor jeglicher Spurensicherung, stand das Abschleppfahrzeug bereits vor Ort (siehe ebenda, S. 66). Der Camper war unter anderem bereits durch Abdeckung des Daches mittels einer Plane (siehe ebenda, unter anderem S. 63) zum Abtransport teilvorbereitet, was Tatortgruppenmitarbeiterin Michel in ihrer Praxis so noch nie zuvor erlebt hatte (siehe UA 6-1, 7, S. 145 f.) – zumal das Wetter an diesem Tage, obwohl es Anfang November war, ein rasches Abdecken des durch Brandschaden oben offenen Wohnmobils nicht gebot (siehe ebenda, S. 74 f.).
Beauftragt worden war das Abschleppunternehmen Tautz nach dessen Abschleppbericht (Kopie liegt der Autorin vor.) im Übrigen bereits um 13:00 Uhr. Die Thüringer Ausschussvorsitzende Marx erklärte auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Erfurt am 03.11.2016 überdies: „Wir haben auch Indizien […], einen Lagefilm, aus dem hervorgeht, dass das Abschleppunternehmen eigentlich schon bestellt ist, bevor der Ermittlungsführer überhaupt richtig angekommen ist […].“ (Fünf Jahre NSU – Aufklärung unerwünscht?; https://www.youtube.com/watch?v=HRXWIl6jJjc – Aufruf und Download am 22.01.2017, Minute 13:15.)

[28] – So eine amtliche Formulierung in der zusammenfassenden Darstellung der Ermittlungsergebnisse zum Wohnmobil: TH1309-023340-11/9, Stregda, publiziert am 27.12.2011 (im Folgenden: Stregda), S. 8.

[29] – UA 6-1, 15, S. 41.

[30] – UA 6-1, 15, S. 42.

[31] – Siehe EVB, S. 1.

[32] – Siehe ebenda, S. 2.

[33] – „Herr Menzel: […] Auch wenn Sie mich in einer vorhergehenden Sitzung als Sprengmeister bezeichnet haben, diese Ausbildung habe ich nicht.“ (UA 6-1, 15, S. 40.)

[34] – Ebenda, S. 10.

[35] – Ebenda, S. 40.

[36] – Ebenda, S. 80 f.

[37] – Die Thüringer NSU-Ausschussvorsitzende Marx bei der Betrachtung eines Fotos vom Tatort zusammen mit einem Zeugen:
Vors. Abg. Marx:
Können Sie das noch mal größer machen! Ja, also immer noch keine Handschuhe. Und das ist Herr Menzel, der da die Tür öffnet?
Herr Willms:
Ja.“ (UA 6-1, 7, S. 15.)

[38] – Siehe ebenda, S. 72.

[39] – UA 6-1, 15, S. 41.

[40] – Allerdings konnte Menzel als Dienststellungshöchster in Stregda auch von niemandem an seinem unsachgemäßen Vorgehen gehindert werden:
Vors. Abg. Marx:
[…] Wir haben hier von anderen Zeugen […] gehört, wenn überhaupt jemand […] da reinläuft (in das Wohnmobil – G.M.) , bevor es die Tatortgruppe macht, dann eigentlich nur, um festzustellen, ob da noch Leben zu retten oder das Feuer richtig aus ist, also die beiden Kriterien, aber alles andere wird doch dann eigentlich der Tatortgruppe überlassen. Wie kann es denn dann da möglich sein […], dass da Herr Menzel eben einfach reingeht, und das noch nicht mal mit Handschuhen, noch nicht mal mit Schutzschuhen, geschweige denn mit Schutzanzug?
Herr Schminkel (in Stregda am 04.11.2011 als Praktikant Mitglied der Tatortgruppe – G.M.):
Ich könnte es platt beantworten, er ist der Verantwortliche vor Ort.“ (UA 6-1, 7, S. 72.)

[41] – UA 6-1, 15, S. 11.

[42] – Ebenda.

[43] – In einem populärwissenschaftlichen Beitrag wurde das Verfahren folgendermaßen beschrieben: „Die sogenannten Spheron-Bilder zeigen den Ort des Verbrechens im 360-Grad- Rundumblick und vom Boden bis zur Decke. Ihre Auflösung ist so hoch, dass Ermittler im Nachhinein jeden Zigarettenstummel wie mit einer Lupe heranzoomen können. Eine Spezialsoftware kombiniert verschiedene Spheron-Aufnahmen so miteinander, dass sich die Ermittler am Monitor wie durch eine künstliche Welt bewegen können.“ (Ch. Tanneberger:Hightech, Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010; http://www.sueddeutsche.de/wissen/forensik-kommissar-hightech-1.446598 – aufgerufen am 20.01.2017.)

[44] – UA 6-1, 15, S. 12.

[45] – Ebenda.

[46] – Ebenda, S. 24.

[47] – Ebenda.

[48] – So hat Sylvia Michel (Tatortgruppe) dem zweiten Thüringer NSU-Ausschuss erläutert: „Bei Fasern zum Beispiel, wenn ich jetzt ein Kapitaldelikt habe und es haben sich welche geschlagen, dann gibt es Faserüberkreuzungen. Wenn ich nachweisen will, dass die beiden wirklich aneinander gehakelt haben, dann kann ich nicht noch die Bekleidung beim Opfer ausziehen, weil jeder Transport verliert halt Fasern.“ (UA 6-1, 7, S. 139.)

[49] – Dass die Spheron-Aufnahmen tatsächlich erst dort erfolgten, geht aus einer weiteren Aussage von Sylvia Michel hervor (siehe ebenda, S. 132). Bestätigt hat dies auch Markus Schminkel, Praktikant in der Tatortgruppe (siehe ebenda, S. 70.).

[50] – In der Fernseh-Dokumentation „Was geschah am 04.11.2011 in Eisenach?“, die auf ZDF info am 08.05.2016 ausgestrahlt wurde; https://www.youtube.com/watch?v=qy5XWig6SoY – Aufruf und Download am 11.10.2016, Minute 1:12:13.

[51] – Abschlussbericht UA 5-1, S. 1571.

[52] – „Fünf Jahre NSU …“, Minute 13:35.