Zwanzigtausend Meilen für die Anarchie

40 Jahre Edition Nautilus. Nina Nadig und Bernd Drücke im Gespräch mit den Verlegerinnen Hanna Mittelstädt und Katharina Picandet

Seit 500 Millionen Jahren gibt es den Nautilus, den Urvater der heutigen Tintenfischarten. Das fiktive Unterseeboot Nautilus von Jules Verne ist verglichen mit diesem Kopffüßler nicht ganz so alt. Es tauchte erstmals 1869 und 1874 in den Romanen Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer und Die geheimnisvolle Insel auf. „Das Boot ist zum einen eine Art Asyl für ‚Aussteiger‘ aus der irdischen Welt und zugleich unterseeische Forschungsstation. Zum anderen ist sie ein Rachewerkzeug, mit dem Nemo – früher selber Opfer von Unterdrückung – als Rächer der Unterdrückten auftritt“.(1)

Noch jünger als die Kopffüßler und das berühmte U-Boot ist die Edition Nautilus. Sie wurde 1974 als libertärer Verlag für politische Sachbücher, Biografien und Belletristik in Hamburg gegründet. Vor zehn Jahren erschien in der Graswurzelrevolution Nr. 292 zum 30. Geburtstag der Edition Nautilus ein Interview mit Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt.(2) Im April 2014 feierten die „subversiven Kopffüßler“ ihren 40. Geburtstag. Höchste Zeit also für das folgende Gespräch, das GWR-Praktikantin Nina Nadig und GWR-Redakteur Bernd Drücke im Mai 2014 mit den Nautilus-Steuerfrauen Hanna Mittelstädt und Katharina Picandet geführt haben.(3) (GWR-Red.)

 

Bernd Drücke (GWR): Hanna, vor 40 Jahren hast du mit Lutz Schulenburg und Pierre Gal­lissaires die Edition Nautilus gegründet. Kannst du erzählen, wie das alles anfing?

 

Hanna Mittelstädt: Angefangen hat das alles mit viel Begeisterung und ohne Geld. 1972 haben Lutz und ich uns in der anarchistischen Bewegung in Hamburg getroffen. Wir hatten einen dritten Mann dabei, das war Pierre Gallissaires, der war 20 Jahre älter als Lutz und ich. Lutz und ich waren Anfang 20 und hatten entsprechend wenig Verlagserfahrung und über­haupt wenig Erfahrung, was Li­teratur und Geschichte im Detail betrifft.

Wir waren einfach politisierte junge Menschen und haben mit dem Verlag auch unseren eigenen Kosmos erkundet.

 

Nina Nadig (GWR): Katharina, kannst du uns erzählen, wie du dazu gekommen bist?

 

Katharina Picandet: Ich bin auf dem klassischen Weg als Prak­tikantin zu Nautilus gekommen. Ich habe im zweiten Semester, als ich in Hamburg Literatur studierte, ein Praktikum gemacht und war gleich begeistert von dem ganzen Nautilus-Kosmos, der sich aufgetan hat und dem gelebten Kollektiv. Ich hatte das nicht aktiv gesucht, aber hier gesehen und bin dann seit dem Praktikum, also seit fast 20 Jahren, mit Unterbrechungen und in verschiedenen Arbeitsbereichen dabei.

Bernd Drücke: Hanna, du bist schon seit über 40 Jahren dabei. Du und Lutz, ihr habt euch in ein­ander verliebt. Ihr ward damals aktiv in der anarchistischen Jugendbewegung in Hamburg.

 

Hanna Mittelstädt: Wir haben uns 1971 kennen gelernt und dann gleich 1972 den Verlag gegründet.

Lutz war ab 1968 in der sozialistischen Jugendorganisation AUSS (Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler) in Hamburg. Ich war noch gerade mit dem Abitur be­schäftigt und habe dann angefangen, zu studieren und war über einen Hamburger Anarchisten politisiert. Lutz und ich haben uns im so genannten Ge­winde, einem Lokal, in dessen Keller Anfang der 70er Jahre ein Anarchotreff war, kennen gelernt. Wir haben uns gleich verliebt, sind gleich zusammen gezogen und haben gleich den Verlag gemacht. Pierre Gallis­saires und Lutz hatten sich schon kurz vor mir kennen gelernt und die Zeitschrift MAD gegründet. MAD stand für „Materialien, Analysen, Dokumente“ und sollte die Brücke in die Geschichte der anarchistischen Bewegung schlagen.

Materialien zum spanischen Bürgerkrieg, zur Rätebewe­gung, auch der deutschen Geschichte, der deutschen Rätebewegung und aber auch eine internationale Sichtweise bringen, das waren die Aufgaben dieser Zeitschrift. Das waren ja sehr viele sehr junge Menschen damals, die sich eine neue Perspektive erst angeeignet hatten. Es gab sehr wenig Literatur. Der Faschismus hatte eine große Bresche in die deutsche Geschichte geschlagen, gerade in die libertäre Geschichte. Pierre und Lutz hatten sich vorgenommen, diese libertären Anteile der Geschichte mit einem französischen Schwerpunkt, aber auch mit dem Schwerpunkt auf die deutsche Rätebewegung neu zu erkunden und neu zur Verfügung zu stellen.

 

Bernd Drücke: MAD war eine tolle Zei­tung. Ihr habt dann Probleme bekommen mit dem gleichnamigen, vermeintlichen Satireblatt MAD. Kannst du dazu etwas sagen?

 

Hanna Mittelstädt: Wir waren mit der Zeitschrift MAD – Materialien, An­alysen, Dokumente – in einem Solidaritätsverbund, der sich gegen den Zensurparagrafen aussprach. Wir haben damals mehrere öffentliche Manifeste unterschrieben mit dem MAD-Zeichen, und das war dieser Sa­tirezeitschrift MAD zu viel. Die haben eine einstweilige Verfügung gegen uns geschickt, und wir mussten dann ziemlich zügig den Namen wechseln, was im Grunde eine schöne Sache war, weil der Verlag dann Edition Nautilus und nicht mehr MAD hieß, was ja immer ein bisschen erklärungsbedürftig war.

 

Nina Nadig: Kannst du etwas dazu sa­gen, inwiefern anarchistische Ideen in der Verlagsgründung, der Organisation und den Strukturen so eines Verlages umgesetzt werden konnten?

 

Hanna Mittelstädt: Wir waren noch sehr klein am Anfang, nur Pierre, Lutz und ich. Wir haben das lange Jahre als Dreier-Team gemacht. Anarchistisch an uns waren einmal natürlich die Inhalte, aber auch das Lebensgefühl. Wir haben eine solide Verachtung für den Kapitalismus gehabt, auch für den Büchermarkt. Es gab damals linke Strukturen, es gab einen Verband linker Verlage und Buchhandlungen, die sich regional organisiert hatten, da waren wir auch Mitglied. Das waren nicht ausdrücklich Anarchisten. Es gab linke Strukturen, die den Buchhandel, die Vertriebe und Verlage zusammenführten, das, was man heute Netzwerk nennen würde. Davon waren wir Teil. Unsere solide Verachtung der Arbeit, also des kapitalistischen Verwertungssystems, ging so weit, dass wir im Sommer vier Wochen nach Frankreich gefahren sind.

Da irgendwo im Süden auf ir­gendeinem armseligen Hof gesessen haben, fast ohne Geld gelebt, aber dann Übersetzungen gemacht haben. Also, wir haben schon versucht, dieses andere Lebensgefühl auch selber zu leben. Natürlich gab es damals auch die Kommunenbewegung und alles Mögliche an Subkultur. Aber wir waren da sehr am Rand. Wir als Verlag wollten ja intellektuelle Materialien zur Verfügung stellen.

Aber trotzdem hatten wir auch eine klare Vorstellung für ein anderes Lebensgefühl, als das der normalen Arbeit, des normalen Funktionierens des Büchermarktes. Wir waren skeptisch diesen Dingen gegenüber und eigentlich eher feindlich. Wir haben uns zum Beispiel nie Bestsellerlisten angeguckt. Das war für uns außerhalb der Vorstellung, dass wir da jemals drauf kommen wollten. Mit Buchhandlungen, die uns auch vom Programm her nah waren, hatten wir gerne Kontakt.

 

Bernd Drücke: Viele Leute denken ja noch immer, dass Anarchie Chaos und Anarchisten Terroristen sind. Was bedeutet denn für dich Anarchie? Was bedeutet für dich Anarchismus, was Anarchistin zu sein?

 

Hanna Mittelstädt: Gerade in den 70er Jahren hatte Anarchie durch die RAF-Verfolgung diese Bedeutung von Terror, Gewalt, außer Rand und Band geraten. Anarchie heißt ja Herrschaftsfreiheit. Wir waren auch nicht so sehr in der anarchistischen Bewegung oder in den anarchistischen Traditionen verwurzelt. Also einerseits schon. Aber wir hatten auch immer wieder freien Blick darüber hinaus.

Wir haben auch von an Anfang Belletristik gemacht, von Anfang an Kunst veröffentlicht. Die Surrealisten, die Dadaisten, die Situationisten waren ein wichtiger Teil unseres Ver­lags­programms. Eine Erweiterung dieses traditionellen anarchistischen Begriffs war für uns im­mer sehr wichtig. 

 

Nina Nadig: Katharina, bist du auch schon in deiner Jugend mit der anarchistischen Jugendbewegung in Berührung gekommen, vielleicht mit Literatur oder Zeitschriften? Du hast ja erzählt, dass du als Praktikantin zum Verlag gekommen bist. Hast du dich auch schon in deiner Studienzeit politisiert oder kam das im Laufe des Praktikums?

 

Katharina Picandet: Ich bin Geburtsjahr 1974. Als ich zu Nautilus gekommen bin, war ich 21 oder so. Ich habe mich in meiner Jugend nicht ausdrücklich mit anarchistischen Schriften beschäftigt, ich war diesbezüglich relativ ahnungslos, aber auch nicht so blind oder angepasst, dass ich fand, alles in der Gesellschaft laufe zum Besten.

Der Alltag und das Arbeiten bei Nautilus und auch die Schriften, die ich mir dann auch relativ schnell im Praktikum ausgeliehen und durchgelesen habe, waren schon eine Art Augenöffner. Diese ganze Geschichte, von der ich nicht viel wusste. Die 68er Bewegung war für mich ja sozusagen unmittelbar vorangegangen. Das habe ich vielleicht über meine Eltern ein bisschen mitgekriegt, aber nicht als Schulfach. Das hat sich bei mir in meiner Jugend und Kindheit nicht irgendwie niedergeschlagen, außer in Liedgut. Es war dann sehr interessant, es gab für mich viel zu entdecken. Das habe ich dem Verlag, Hanna und Lutz zu verdanken. Nautilus und Anarchismus entdecken, das lief bei mir parallel.

 

Bernd Drücke: Hanna, es gibt drei anarchistische Verlage, die sich um Liebespaare entwickelt ha­ben. Weber, Zucht & Co. in Kassel, um Wolfgang Zucht und Helga Weber, der Karin Kramer Verlag in Berlin um Karin und Bernd Kramer, und Edition Nautilus um Lutz und Hanna in Hamburg. Wie erklärt ihr euch, dass gerade diese anarchistischen beziehungsweise libertären Verlage, die von Liebespaaren gegründet wurden, dann so unglaublich produktiv und langlebig anarchistische und tolle Literatur und Materialien produziert haben?

 

Hanna Mittelstädt: Ich glaube, ein Liebespaar könnte auch einen tollen literarischen Verlag machen, das ist gar kein Problem. Aber für Lutz und mich war der Verlag so zu sagen unser Lebensprojekt. Es hat sich schnell herausgestellt, dass das unser Ding ist. Wir haben bewusst auf Kinder verzichtet. Ich dachte, das Leben ist derartig reichhaltig und um diesen Verlag herum gibt es so viele Kontakte, so viele Welten zu entdecken, wir haben so wenig Geld, wir haben so wenig Sicherheiten, wir leben jetzt einfach für diesen Verlag, was ja nicht nur ein Verlag ist, sondern ein ganzer Kosmos.

Ich möchte noch etwas zu unserem Anarchismusver­­ständnis sagen. Natürlich geht es nicht nur darum, die Regierung zu stürzen, wie die Goldenen Zitronen sagen, sondern es geht darum, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, sich selber zu organisieren, sein Leben als sein eigenes Produkt zu verstehen. Dieses Selbstbewusstsein haben wir uns über den Verlag angeeignet, das haben wir praktiziert. Auf niemand zu trauen als auf die eigenen Kräfte und die Solidarität der Freunde und Genossen. Wir haben eigentlich auf alle Institutionen verzichtet, sei es Kulturbe­hör­de, die vielleicht Subventionen gibt, sei es eine Partei, die Linien vorgibt. Und dafür ist so ein Liebespaar schon mal eine E­in­heit, wir waren immerhin schon mal zwei. Wir waren total verschiedene Menschen, die sich gut ergänzt haben, was natürlich auch mit Schwierigkeiten verbunden ist, das ist klar.

Es ist wirklich ein Lebenswerk, was alle Kräfte der beiden Personen und der Personen, die darum kreisen, aufsaugt und beansprucht.

 

Nina Nadig: Welche Veränderungen haben sich dann mit Lutz Tod ergeben, der ja am 1. Mai 2013 gestorben ist?4  Ihr habt da­nach eine GmbH gegründet. Was bedeutet das für ökonomische oder strukturelle Veränderungen? Eine GmbH beinhaltet die Gefahren der Hierar­chiebildung, da­durch, dass zwei Menschen Anteilseigner sind und sich in einer finanziell privilegierten Position befinden. Wie begegnet ihr diesen Gefahren oder merkt ihr das in eurer Verlagsarbeit?

 

Hanna Mittelstädt: Die GmbH ist im Prozess der Bildung, welcher langsam und bedächtig vor sich geht. Eine Hierarchiebildung streben wir nicht an. Ich werde in dieser GmbH dann auch nicht mehr so präsent sein. Sondern wir streben die GmbH als einfachste Form einer Mitarbeitergesellschaft an. Und die fünf Mitarbeiter werden alle Teil dieser GmbH sein. Was sich verändert hat, ist, dass Lutz als Person fehlt. Strukturell ist die Veränderung nicht ganz so stark spürbar. Lutz könnte man bei uns als kreatives und chaotisches Element bezeichnen, das möchte ich durchaus positiv verstanden wissen.

Die Arbeitsstruktur können wir auffangen. Schwierig ist, dass er als Person fehlt und auch als Antreiber. Er war der Antreiber vor dem Herrn, damit müssen wir uns jetzt neu koordinieren und neu zurechtkommen, dass dieser Antreiber fehlt. Der Kapitän Nemo. Jetzt hat es die Steuerfrau, das bin ich, in der Hand. Ich bin aber sehr teamgeeignet und denke, dass wir etwas konfliktfreier im Inneren arbeiten, aber die Konflikte von außen sind stark, es ist schwierig für einen Buchverlag.

 

Katharina Picandet: Ich denke nicht, dass die strukturelle Form der GmbH die Hierarchisierung unbedingt befördert. Da könnte man ja schon eher sagen, dass die bisherige Einpersonenfirma, die einfach Lutz Schulenburg gehört hat, und wir anderen waren dabei, schon eher eine Hierarchie befördert hätte. Da das aber nicht so war, glaube ich, dass wir gut dagegen gefeit sind. Ich glaube, dass man aus der Erfahrung, die wir bisher gemacht haben, sagen kann, dass wir als Kollektiv mit unseren verschiedenen Persönlichkeiten gut zusammen arbeiten können. Vor allem Konflikte konnten wir bisher immer gut bewältigen. Ich bin zuversichtlich, und wir müssen ja auch gut zusammenstehen, denn, wie Hanna sagte, die La­ge ist von außen nicht einfach.

 

Bernd Drücke: Ihr produziert seit 40 Jahren Unmengen an Zeitungen und Büchern. Was waren denn eure liebsten?

 

Hanna: Das ist eine wirklich ge­meine Frage, 900 Bücher!

 

Bernd Drücke: Die ersten 10 reichen.

 

Hanna Mittelstädt: Die ersten 10 Lieblingsbücher?! Oh Mensch, wirklich ganz fies. Also, eines meiner Lieblingsbücher ist die Autobiografie von Billy Holiday. Weil wir die schon 1980 gemacht ha­ben und immer noch mit Neuauflagen im Programm. Das finde ich großartig. Dann natürlich die Franz Jung Werkausgaben. Das war in dem Sinn kein Lieblingsbuch, weil es uns fast ruiniert hat, diese 14-bändige Werkausgabe mit Tausenden Seiten und ohne Fördermittel. Das war heftig, aber es war ein gigantischer Kosmos an Personen, die wir kennen gelernt haben und Ideen von Franz Jung, der ja ein Revolutionär, Theatermacher, Börsenfachmann, Immigrant, Schiffsentführer, Fa­brikmanager in Russland nach der Revolution, ein irrsinniger Typ war. Und für den sich nach dem Krieg in Deutschland niemand mehr interessiert hat, den wir quasi ausgegraben haben in einer Ost-West-Zusammenarbeit zwischen ostdeutschen und westdeutschen Forschern. Das war großartig. Wunderbar ist natürlich auch der Kosmos der Situationistischen Internationale. Das ist unser erstes Mammutprojekt gewesen. Wir haben sämtliche Zeitschriften der SI, die in den 1950er, 60er bis zu den ganz frühen 70ern erschienen sind, übersetzt, in diesen vielen Sommern, die wir in Südfrankreich verbracht haben. Dann von mir eigenhändig getippt und zur Druckerei gegeben. Es war eine kollektive Übersetzung zwischen Pierre und mir, Lutz und anderen, die in der Zeit unseren Weg kreuzten. Das sind dann schon mal drei Großprojekte.

Ganz wichtig, dazu gehört auch Emma Goldmans Autobiografie, die wir vom Karin Kramer Verlag übernommen haben. Die ha­ben die Originalausgabe in drei Bänden gemacht. Auch ein Pionierwerk dieses Verlags. Es war lange vergriffen und sie konnten dann keine neue Auflage mehr finanzieren. Wir haben dann die Übersetzung völlig neu überarbeitet und eine sehr schöne neue Ausgabe gemacht. Emma Goldman ist eine legendäre Anarchistin, Feministin und Frauenrechtlerin, die ein wahnsinnig aufregendes und inspirierendes Leben hatte und sehr frei über ihre Lie­besbeziehung, über ihre Politisierung und über ihre bittere Enttäuschung im Russland nach der Revolution 1917 geschrieben hat. Ein fantastisches Buch. Eine begnadete Rednerin, eine Aktivistin, selbstbewusst, gebildet, mutig, tolle Frau. Na, das sind ja jetzt schon eine Menge Bücher.

 

Katharina Picandet: Ich würde zwei Bücher nennen, die ich toll finde, die sich leider schlecht verkauft haben, sind zum einen die Menschen aus Papier von Salvador Plascencia. Das haben wir mal gemacht, als wir viel Geld hatten. Das ist ein tolles Projekt, metafiktional, lustig, humorvoll, klug, nicht aufdringlich, eine Übersetzung aus dem Englischen. Sehr zu empfehlen. Toll finde ich auch von Frank Witzel den Roman Bluemoon Baby. Ich mag auch unsere erfolgreichen Titel, aber die beiden wollte ich erwähnen. Und dann zum Beispiel Hans-Chris­tian Dany: Morgen werde ich Idiot, oder von Nils Boeing Alles auf null, das sind beides Flugschriften.

 

Nina Nadig: Welche Sorgenkinder hattet ihr in der Verlagsge­schichte? Hanna, du hast gerade schon die Franz-Jung-Bände angesprochen. Wie habt ihr solche ökonomischen Engpässe überwunden und Krisen bewältigt?

 

Hanna Mittelstädt: Wir haben die nur mit der Hilfe von Freunden überstanden, die uns Geld leihen konnten, das wir dann später zurück zahlen konnten. Wir wa­ren nie bei Banken verschuldet, das ist ja schon mal eine gute Sache, das spart Zinsen und Nerven. Obwohl es auch eine schwierige Angelegenheit ist, bei Freunden verschuldet zu sein. Da gibt es kein Rezept. Wir waren immer bereit, auch Bücher zu machen, bei denen wir dachten, die können auch schwierige Projekte quer finanzieren. Wir haben lange große Auflagen von Dinner for one in Buchform verkauft. Das hat etliche Jahre schwierige Projekte querfinanziert.

Zum Beispiel die legendäre 800-Seiten-Durruti-Biografie von Abel Paz, über den spanischen Anarchisten Durruti. Da waren Investitionen für die Übersetzung, für die Druckkosten, da waren Vorauskosten zu stemmen, die waren so gigantisch für unsere damaligen Verhältnisse, dass wir anderswo Geld rein kriegen mussten. Wir haben aber auch den Altstalinis­ten Karl Eduard von Schnitzler veröffentlicht. Als die DDR gescheitert war, kam er zu uns und hat gefragt, ob wir seine Art Autobiografie Der rote Kanal veröffentlichen würden. Das haben wir uns lange überlegt. Dann haben wir gedacht, dass wir derartig weit von solchen Ideen entfernt sind, dass wir das eigentlich machen können. Das war ein Skandal. Wir haben das sehr gut verkauft und der Band hat dann für uns wie­der Herzensangelegenheiten finanziert. So ging es. Wir haben schon Anfang der achtziger Jahre einen goodseller gehabt, das war die Autobiografie von Jacques Mesrine, ein französischer Ausbrecherkönig. Der hatte sich damals auch gegen die Hochsicherheitstrakte engagiert. Das war ein vom Typ her extrem mutiger Gangster. Seine Autobiografie fanden wir wahnsinnig interessant. Es war ein zwiespältiger Held, weil dieses „Macho-Gangster“ mit einer Politisierung gekreuzt war. Da gab es den ersten Raubdruck eines linken Verlags.

Damals haben etliche linke Verlage ihre Projekte über Raubdrucke finanziert. Das hieß, man kupferte von normalen Verlagen herausgegeben Bücher ab, die sehr teuer waren, und verkaufte sie dann, ohne Autorenrechte zu bezahlen, ohne die normalen Vertriebs- und Ver­lagsstrukturen zu bezahlen. Die wurden auf Büchertischen oder in Bauchläden in Kneipen verkauft. Das war ein Sakrileg, dass auch von einem kleinen linken Verlag ein Raubdruck gemacht wurde, und da waren dann gerade wir betroffen mit diesem Mesrine.

 

Bernd Drücke: Ihr habt auch große finanzielle Erfolge gehabt. Durch das Geld, das ihr mit Andrea Maria Schenkels Bestsellern Tannöd und Kalteis verdient habt, konntet ihr ein eigenes Verlagshaus in Ham­burg kaufen.

 

Hanna Mittelstädt: Tannöd war im finanziell positiven Sinne die größte Überraschung, die wir hatten. Das war ein Debüt einer bay­rischen Autorin, die ein sehr literarisches, und wie wir fanden, sehr poetisch schönes Krimidebüt hingelegt hat. Multiper­spektivisch, sehr ungewöhnlich, ohne Ermittler mit den Stimmen der verschiedenen Beteiligten montiert. Das passte vom Stil her wunderbar zu Nautilus. Niemand hatte gedacht, dass wir damit jetzt einen Riesenerfolg landen. Die Autorin war völlig unbekannt. Aber irgend­wie hat dieser Krimi einen Zeitgeist getroffen. Zum Beispiel auf einen Überdruss gegenüber den Regionalkrimis, die so nach dem Schema 08/15 gehen. Wo es immer einen üblichen Ermittler gibt, wo immer die Region die Hauptrolle spielt, ohne literarisches Profil.

Das hat Andrea Schenkel alles unterlaufen mit diesem dünnen Büchlein, 120 Seiten. Dann gab es plötzlich ganz viel Interesse und eine richtige Sympathiewelle für die Autorin, den Verlag und das Buch, das war erstaunlich. Wir kletterten auf Platz 1 der Bestsellerlisten mit diesem Buch. Was wir ja vorher immer verachtet hatten. Aber jetzt hagelte das Geld nur so auf uns ein und auf die Autorin natürlich auch. Wir konnten dann aus engen kleinen Ver­lagsräumen umziehen nach Al­tona in einen Hinterhof, wo wir so eine leerstehende ehemalige Manufaktur für Fleischdärme umbauen konnten.

 

Bernd Drücke: In letzter Zeit sind leider viele linke Buchläden pleite gegangen, zum Beispiel auch der Nautilus-Buchladen in Hamburg. Gibt es eine Krise von alternativen Medien und Verlagen, auch weil mittler­weile viel über das Internet und Amazon und ähnliche Betriebe läuft? Welche Perspektiven für libertäre und anarchistische Verlage, für Literatur- und Buchkultur seht ihr?

 

Katharina Picandet: Das ist eine schwierige Frage. Ich würde sa­gen, dass wir uns – wie alle – anpassen müssen. Wir können das nicht völlig ignorieren, aber es gibt ja schon große Sympathie und, ich denke, auch einen steigenden Wert für das, was jetzt unter diesem Schlagwort indiebook läuft. Es gibt ein Interesse an Alternativen zu den ganz großen Verlagen, die Mainstreamliteratur machen.

Und es gibt diesen indiebook day und bei den Lesern auch schon ein Bewusstsein dafür, dass es, wie es auch Bionah­rungsmittel gibt, aus kleineren Verlagen evtl. teurere, aber wirklich entdeckenswerte Bücher gibt. Ich glaube, dass das ein Weg ist, den es auszubauen gilt. Zu so was gehören zum Beispiel Initiativen wie buy lo­cal. Also nicht bei den Großhändlern zu bestellen, sondern in den lokalen Buchhandel zu gehen, der ja schließlich auch alle Bücher besorgen kann. Es gibt Netzwerke, es gibt Empfehlungen, ich denke, dass man sich anpassen kann, ohne sich selbst zu verraten.

 

Nina Nadig: Welche Perspektiven habt ihr für Edition Nautilus? Welche Pläne, Visionen und Projekte habt ihr für die kommenden Jahre?

 

Katharina Picandet: Weitermachen, die Wurzeln bewahren und sich ir­gendwie von neuen Sachen be­flügeln lassen!

Es gibt auch konkrete Projekte, Verträge, die wir abgeschlossen haben und die wir gerne realisieren wollen. Aber auch in den letzten 40 Jahren ist Nautilus nicht starr geblieben, sondern hat sich den Sachen angepasst. Wir haben moderne Sachen gemacht. Das wollen wir auch wei­ter machen. Wir wollen die drei Schlagworte möglichst erfüllen: Innovativ, kämpferisch, eigenwillig.

Danach suchen wir, das treffen wir auch immer wieder. Wir wollen die Straßen, die Nautilus bisher befahren hat, die Krimis, die Literatur, die Flugschriften, die großen Biografien, auch die kleine Sparte „Hand und Kopf“, die Kunstsparte, weiter ausbauen und das möglichst interessant und verkäuflich.

 

Bernd Drücke: Habt ihr noch etwas, was euch auf der Seele brennt, was ihr los werden wollt?

 

Katharina Picandet: Wir hoffen, dass wir, wie in den letzten 40 Jahren, auch in den nächsten im­mer das nötige Quäntchen Glück haben, das uns weiter bringt. Wir sind zuversichtlich. Ich glaube, wir haben ein sehr gutes Kollektiv, eine gute Mischung aus Sturheit und Anpassungsvermögen, die uns da durchführen.

 

Bernd Drücke: Ich denke auch, dass 40 Jahre Edition Nautilus erst der Anfang sind. Was euch gut geglückt ist, ist auch das Ge­nera­tionsübergreifende zu schaffen. Viele alte Verlage stecken in einer Krise, auch weil es keine Leute gibt, die nachkommen, die mit einsteigen. Ein alter Verlag, der ja vielleicht noch ein ganz tolles Programm hat, verschwindet dann. Da habe ich das Gefühl, dass das Hineinwachsen neuer Leute bei Nautilus geglückt ist, dass es zukunftsweisend voran geht und generationsübergrei­fend dieses tolle Verlagspro­gramm auch in den nächsten 40 Jahren ausgebaut wird.

 

Hanna Mittelstädt: Das finde ich auch. Ich glaube, das ist die Stärke von Nautilus, dass wir diese Un­ver­brauchtheit unserer Anfänge herausstellen können. Dass deshalb auch junge Mitar­bei­terinnen, die sind ja wesentlich jünger als der Verlag, und auch unsere jungen Autoren gerne zu Edition Nautilus kommen, obwohl es ein alter Verlag ist. Und es sind junge Autoren und junge politische Themen und auch neue Tönungen im Alten. Das finde ich sehr erfreulich.

 

Nina Nadig und Bernd Drücke: Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Interview: Nina Nadig und Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

 1 Wikipedia

 2 Subversive Kopffüßler? Ein Gespräch mit Ha­nna Mittelstädt und Lutz Schulenburg zum dreißigsten Geburtstag der Edition Nautilus, in: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus, Karin Kramer Ver­lag, Berlin 2006, S. 81-92

 3 Das Interview mit den telefonisch aus Ham­burg zugeschalteten Verlegerinnen wurde im Mai 2014 im Studio des Medienforum Münster aufgezeichnet und am 3. Juni 2014 von 21.04 Uhr bis 22 Uhr als Radio Graswurzelrevolution-Sendung auf Antenne Münster (95,4 Mhz., www.antenne-muenster.de) ausgestrahlt. Technik: Klaus Blödow. Ein Rohling der Sendung – wg. GEMA leider ohne Musik – wird im Juni 2014 voraussichtlich auf www.freie-radios.net dokumentiert.

4 Siehe Nachruf auf Lutz Schulenburg, in: GWR 380, Sommer 2013, und: www.dadaweb.de/wiki/Lutz_Schulenburg_-_Gedenkseite

 

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Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 390, Sommer 2014, www.graswurzel.net