Nach Korruptionsskandalen, Internetzensur und dem Tod des 15-jährigen Berkin Elvan ist die Stimmung sehr angespannt
Vor einem knappen Jahr entwickelten sich aus den Protesten um den Gezi-Park in Istanbul landesweite Proteste. Innerhalb kürzester Zeit wurden sie zu massenhaften Aufständen gegen die als autoritär empfundene AKP-Regierung und ihre zunehmend neoliberalen und islamisch-konservativen Tendenzen. Die mehrmonatigen Proteste, denen die Regierung mit großer Härte begegnete und in deren Rahmen mindestens sieben Menschen ihr Leben verloren, wurden schließlich gewaltsam niedergeschlagen. Bis heute bleibt die Stimmung sehr angespannt. Einige aktuelle Entwicklungen spitzen die Lage weiter zu. Trotz repressiver Umstände gibt es weiterhin Protest.
Korruption, Machtkämpfe, Internetzensur und Straßenschlachten
Wieder Wasserwerfer, Gummigeschosse, Tränengas. Wieder Straßenkämpfe und brennende Barrikaden. Die Polizei versucht, eine Versammlung gegen ein Gesetz zum „Schutz der Privatsphäre im Internet“ gewaltsam aufzulösen.
Das Gesetz wird von vielen, neben dem starken staatlichen Druck auf Medien, als Zensurmaßnahme angeprangert. Die Ausweisung eines aserbaidschanischen Journalisten oder die persönliche Zurechtweisung eines Verantwortlichen des türkischen Nachrichtensenders „Habertürk“ durch den Premier Erdogan sind die prominentesten Fälle. Vor allem angesichts der wichtigen Rolle des Internets bei den Protesten im letzten Jahr ist die Wut groß.
Insbesondere über Social Media und Internetnachrichtenplattformen wurde damals die landesweite Vernetzung und Mobilisierung vorangetrieben.
Mit dem neuen Gesetz sind die Behörden zu keinerlei gerichtlicher Überprüfung mehr verpflichtet, um Inhalte im Netz zu sperren.
Die Türkische Aufsichtsbehörde für Telekommunikation (TIB) hat alle nötigen Kompetenzen, um jederzeit Zensuren durchführen zu können. Zusätzlich können NutzerInnen von bestimmten Webinhalten verfolgt und NutzerInnendaten für bis zu zwei Jahre gespeichert werden.
Nach der Enthüllung von Korruptionsfällen Mitte Dezember 2013, in die zahlreiche höhere Beamte und PolitikerInnen der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“(AKP) verwickelt sein sollen, wirkt das Gesetz zur Internetzensur wie ein weiterer Vorstoß zur Eindämmung regierungskritischer Stimmen.
Bei den Vorwürfen ist u.a. von Schmiergeldern im Bausektor und illegalen Goldtransfers in den Iran die Rede. Drei Minister der AKP traten in Folge zurück, Erdogan wechselte 10 Kabinettsmitglieder aus. Zudem entließ bzw. versetzte er viele hohe Funktionäre innerhalb von Polizei und Justiz.
Der mit den Ermittlungen betraute Staatsanwalt wurde seines Amtes enthoben. Die Vorwürfe wies Erdogan zurück und bezeichnete sie als internationale Verschwörung gegen seine Partei. Derweil diskutiert die türkische Öffentlichkeit die Rolle der sogenannten „Gülen-Bewegung“ als Wegbereiter der Enthüllungen.
Die „Cemaat“, wie die Bewegung im Türkischen genannt wird, ist ein transnationales, islamisches Netzwerk, das nach dem in den USA lebenden Gründer und Prediger Fetullah Gülen benannt ist und weltweit Privatschulen betreibt. Ihre Mitglieder sollen einflussreiche Positionen im türkischen Staatsapparat besetzen. Unter anderem das Vorhaben Erdogans, solche Schulen zu schließen, sei Ausdruck eines Interessenskonflikts zwischen AKP und „Cemaat“, die lange Jahre als Verbündete galten.
„Hirsiz var!“ - „Es gibt Diebe!“
Während die Regierung zu allen Mitteln greift, um die Schäden zu begrenzen, finden nach Bekanntwerden der Korruptionsfälle immer wieder größere Demonstrationen statt, denen mit Härte begegnet wird. „Hirsiz var!“ – „Es gibt Diebe!“ ertönte es in den Straßen Istanbuls nach Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe.
Auch gegen die Internetzensur wurde in mehreren Großstädten mobilisiert. Es kommt dabei zwar immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, das Ausmaß der Proteste bleibt im Vergleich zum Sommer aber geringer. Als der 15-jährige Berkin Elvan am 11. März 2014 den Verletzungen erlag, die er während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 von Tränengasgeschossen der Polizei davongetragen hatte, erreichten jene Proteste einen weiteren Höhepunkt.
Derweil setzt sich die Repression in den Gerichtssälen fort.
Seit einigen Wochen müssen sich die ersten von hunderten angeklagten Demonstrant_innen der Gezi-Proteste vor Gericht verantworten. Einigen drohen wegen der Vorwürfe der Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen oder terroristischer Propaganda hohe Haftstrafen.
Was bleibt?
„In den letzten Monaten protestieren wir im Andenken an unsere FreundInnen, die bei den Protesten im Sommer getötet wurden, gegen die Zensur des Internets, aufgrund der Korruption, gegen die nach wie vor vorherrschende Unterdrückung von Minderheiten in der Türkei“, sagt Emre (21), Jurastudent in Istanbul. „Seit Gezi herrscht ein unglaublicher Polizeiterror, die Zahl der Verhaftungen nimmt stetig zu. Die Angst steigert den Druck, der Druck die Gewalt, die Gewalt feuert den Ungehorsam an. Eine allgemeine Atmosphäre des Ungehorsams wird zur Quelle des Widerstands“.
Auch Zilan (23) war bei den Protesten im Sommer dabei: „Die Erfahrung, dass der Gedanke des kollektiven Widerstands in die Praxis umgesetzt werden kann, ist das, was uns vom Sommer zurückbleibt.
Die Stimmung ist sehr angespannt, die Polizei ist durchgehend präsent und befindet sich in Bereitschaft, um jeden Versuch einer Versammlung zu unterbinden. Früher war das anders. Vor allem das Vorgehen der Polizei ist härter und erbarmungsloser geworden. Das führte auch dazu, dass heute mehr Menschen denn je bereit sind, auf die Straße zu gehen.“
Weniger eine gemeinsame Idee als geteilte Ablehnung
Insbesondere mit Hinblick auf die Kommunalwahlen am 30. März 2014 spricht wenig dafür, dass sich die Lage in der Türkei bald beruhigen wird. Ein differenzierter Blick auf die Proteste bleibt wichtig. Während der Gezi-Proteste war es viel mehr eine geteilte Ablehnung der Regierung als eine gemeinsame Idee, die DemonstrantInnen diverser politischer Vorstellungen vereinte.
Nach über einer Dekade der Hegemonie der islamisch-konservativen AKP, wittern nationalistische, säkular-laizistische Kräfte ihre Chance, wieder an Bedeutung zu gewinnen. Auch Neofaschisten und Ultranationalisten sind nicht zu unterschätzen und haben ein großes Problem mit den neuerlich diplomatischen Annäherungen der Regierung an VertreterInnen der kurdischen Bevölkerungsgruppe.
So heterogen die Machtansprüche in der Türkei, so vielfältig sind auch die Proteste seit dem Massenaufbegehren im Sommer.
Aus diesem Grund gilt es besonders, sich mit den progressiven Teilen des Protests, darunter zunehmend an Öffentlichkeit gewinnende LGBTQ- Aktivist_innen (1), zu solidarisieren. „Irgendetwas scheinen die Gezi-Proteste endgültig ausgelöst zu haben. Die Menschen spüren das“, sagt Zilan, „Alle haben die Polizeigewalt gesehen, die aus uns Menschen gemacht hat, die jederzeit zum Protest bereit sind“.
G. Attonero
Anmerkung:
1 LGBT ist eine aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Trans, also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans (für Transgender bzw. Transsexualität). Es handelt sich dabei um eine Gemeinschaft, deren Gemeinsamkeit es ist, nicht der Heteronormativität zu entsprechen. Es geht um sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität.
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 388, April 2014, www.graswurzel.net