Zum Ablauf dieser neuen Form der Basisdemokratie in den französischen Jugendprotesten
Im Rahmen der Massenproteste gegen das „sozialistische“ – offiziell heißt die Regierung immer noch so, kaum zu glauben –, in Wahrheit neoliberale Arbeitsgesetz (nach Vorbild Schröder-Fischer) in Frankreich haben sich seit der ersten Protestwelle am 31. März 2016 neue Formen der Basisdemokratie herausgebildet: Sie heißen „Nuits Debout“ (Aufstehen/wach bleiben in der Nacht), haben am Abend des 31. März nach der großen Demonstration der Arbeiterbewegung in Paris auf der Place de la République begonnen und breiteten sich in Windeseile auf über 60 Provinzstädte in Frankreich aus.
Zum Ablauf einer Nuit Debout in Marseille
Wie läuft eine Nuit Debout konkret ab? Aus eigener Erfahrung kann ich von einer Nuit Debout Mitte April in Marseille berichten: Angesetzt war sie auf 18 Uhr abends auf dem autofreien Juliansplatz, einem Zentrum der früheren Antiglobalisierungsbewegung der Stadt, inzwischen schon gentrifiziert. Neben den kommerziellen Cafés wird der Platz bereits von Vorbereitungsgruppen eingenommen, als ich ankomme.
Eine selbstgezimmerte Holzbühne wird aufgebaut, welche die „Agora“, die große Vollversammlung, nach hinten abschließen und den dort Sitzenden einen guten Blick nach vorne verschaffen soll. Überall werden weiße Papierflächen ausgelegt, auf denen Meinungen verkündet werden können. Eine fahrende Second-Hand-Bibliothek stellt ihre Bücher aus. In der Nähe des Kinderspielplatzes wird eine Kinoleinwand hochgezogen, gegen 22 Uhr wird dort ein Film gezeigt werden. Nebenan werden Boxen für eine Tango-Tanzmöglichkeit aufgebaut. Eine „Cantine“ versorgt die Leute während des Abends mit gefüllten Baguettes, frei oder gegen Spende. Auf einem Empfangstisch gibt es die Möglichkeit, sich in eine Mailingsliste einzutragen, die Website „Nuit Debout Marseille“ befindet sich gerade im Aufbau. Schließlich steht da ein Lautsprecherwagen, der die Stimme aus dem Mikro in Richtung der auf dem Boden sitzenden ZuhöhrerInnen und die Holzbühne überträgt. Es sind ca. 300 Leute zusammengekommen; um 19 Uhr, mit fast einer Stunde Verspätung, geht es los. Die Zahl der Beteiligten steigt im Verlauf des Abends.
Bereits fast einen Monat vor der Arbeiterbewegung, also seit Anfang März waren die StudentInnen und GymnasiastInnen Frankreichs gegen das Arbeitsgesetz mit Spontandemos auf die Straße gegangen. In Marseille hatte sich aus studentischen Kreisen das Komittee „13 en lutte“ (13 ist die drollige Departementszahl von Marseille, also etwa: „Distrikt Nr. 13 im Kampf“) etabliert, aus dem wiederum die InitiatorInnen von „Nuit Debout“ hervorgingen. Sie wurden inzwischen von zwei Aktivisten verstärkt, die die letzten Wochen in Paris auf der Place de la République verbracht haben und nun herunter in den Süden gekommen sind, um ihre organisatorischen Erfahrungen weiterzutragen. Sie stellen abwechselnd das Konzept und den Ablauf vor. Jede Person, die die Hand hebt und ihren Vornamen einem Aktivisten mit einem Block, der durch die Sitzreihen läuft, gibt, kommt in die Redeliste und erhält für drei bis fünf Minuten Gelegenheit, durchs Mikro vorne etwas zu sagen. Um langes Klatschen zu vermeiden, wird von den OrganisatorInnen eine Zeichensprache vorgestellt, die zur Anwendung kommen soll: Zustimmung bedeutet beidseitiges Armheben und Wedeln mit den Händen (es ist die Zustimmung der Gebärdensprache), Ablehnung bedeutet verschränkte Unterarme vor der Brust, Lauter/Deutlicher-Sprechen bedeutet mit beiden Händen wie Schaufeln von unten nach oben deuten. In der Praxis stellt sich heraus, dass Klatschen doch öfter ausgeübt wird als diese simplen Gebärden – es besteht noch Übungsbedarf.
Mehrfach wird zwischen den Redebeiträgen von den OrganisatorInnen immer wieder darauf hingewiesen, dass es zu aufgeworfenen Thematiken auch „Kommissionen“ (besser: Arbeitsgruppen), zu denen man sich auf den Listen am Empfangstisch eintragen kann, geben soll, die Projekte und direkte Aktionen vorbereiten, die dann auf dem nächsten Nuit Debout vorgestellt und entweder gleich in der Nacht oder zu einem verkündeten Termin verwirklicht werden sollen.
So hat es auch an diesem Tag bereits nachmittags direkte Aktionen gegeben: Eine Bio-Aktionsgruppe hat in einem Supermarkt alle nicht-biologischen Lebensmittel, besonders gentechnisch veränderte Produkte, mit einem Warnzettel beklebt. Eine „Aktions“-Kommission stellt jede Nacht am Ende der Nuit Debout einen Ort vor, zu dem nun eine Spontandemo („manif sauvage“ genannt) hinziehen soll – das wird erst ganz am Ende bekanntgegeben, um den anwesenden ZivilpolizistInnen keine Zeit zur gezielten Vorbereitung zu geben.
Dieses Mal, um das vorwegzunehmen, geht es ab Mitternacht mit ungefähr noch 200 Aufrechtgebliebenen zum nahen Parteibüro der PS (Parti socialiste; die Regierungspartei), das von CRS (kasernierte Bundespolizei) bewacht wird und wo die Eisenrollläden heruntergelassen sind; dasselbe erlebt der Zug beim örtlichen Parteilokal des „Front National“. Doch dann hat das Büro der faschistischen „Action française“ plötzlich keinen Polizeischutz und auch keinen Eisenrollladen, die Holztür ist schnell aufgebrochen und das Büromaterial zerstört. Die „Action française“ veröffentlicht anderntags unter Protest Fotos davon. Es kommt zu keiner Auseinandersetzung mit Personen oder Polizei, nur Sachschaden bleibt zurück. (1)
Doch zurück zum Ablauf der Nuit Debout:
Ganz am Anfang spricht ein Mann nach dem anderen ins Mikro – und der Organisator muss zwischendrin immer wieder dazu auffordern, dass sich auch Frauen zu Wort melden. Erst mit der Zeit ergreifen immer mehr Frauen das Wort. Auch Schwarze, Geflüchtete und prekär Lebende, die zwischendurch, manchmal mit der Bierdose in der anderen Hand, das Mikro okkupieren. Marseille ist ein zusammengeballter Brennpunkt aller Probleme der französischen Gesellschaft, eine Rednerin spricht einmal von 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – und viele Obdachlose und Drogenabhängige verbringen normaler Weise den Tag und den Abend auf dem Juliansplatz. Es ist gut, dass auch sie die Möglichkeit haben, sich zu äußern, auch wenn sie manchmal schon einen betrunkenen Eindruck machen. Sie werden nicht ausgestoßen, sondern integriert – und es gibt auch keine peinlichen Situationen, etwa der Art, dass eine/r von ihnen das Mikro zu lange okkupiert und nicht wieder hergeben will.
Die Organisatoren nennen die Vollversammlung (VV) immer wieder „Agora“ (nach dem historischen Fest-, Versammlungs- und Marktplatz in der griechischen Antike), der Begriff soll sich wohl einprägen. Trotzdem wird dadurch auch die VV als Basiskörperschaft festgeschrieben, sie ist ein Relikt des studentisch-universitären Protestmilieus, denn bei Studi-Mobilisierungen hat sich auch eine Tradition der VVs herausgebildet, nach der studenlang, oft bis in die Nacht hinein im größten Hörsaal unter Hunderten von Beteiligten diskutiert wurde. Dieses Modell ist nun auf die Straße versetzt worden, aber die basisdemokratischen Probleme, die mit jeder VV als Basis der Entscheidungsfindung in Kauf genommen werden, reproduzieren sich natürlich auch hier: Das geht schon bei der Beibehaltung des Instruments Mikrofon los, der Konstellation Redner/in am Mikro gegenüber der zuhörenden Masse, was einfach AktivistInnen (meist Männer) aus Parteien oder hierarchischen Gruppen mit Redegewandtheit Vorteile verschafft. Die InitiatorInnen haben sich bemüht, dem durch die Möglichkeit Abhilfe zu schaffen, dass Einzelne, die Angst haben, mit dem Mikro vor so einer großen Menge zu reden, an einem Tisch im Hintergrund von einer Person interviewt werden und das dann mit einer Kamera aufgenommen und projiziert wird. Das nehmen einige wahr, aber ihre Meinung und die Projektionen gehen doch gegenüber dem Geschehen auf der Agora unter. Wenn ich da an die selbst erlebten Bemühungen des Milieus der gewaltfreien Aktionsgruppen in Aktionscamps in der Anti-AKW-Bewegung der Achtziger- und Neunzigerjahre denke, anstatt über Vollversammlungen durch Bezugsgruppenbildungen mit Sprecherrat zu diskutieren und zu kommunizieren, dann fallen mir Alternativen zu dieser strukturellen Zentrierung auf die Vollversammlung ein. Vor allem wird die Vereinzelung nicht aufgehoben: Man geht einzeln hin und wieder weg – oder maximal in Freundesgruppen.
Der Zusammenfluss sozialer Kämpfe
Inhaltlich wird gleich zu Anfang und zwischendurch immer wieder von den beiden Organisatoren auf das Ziel des Zusammenfließens der sozialen Kämpfe hingewiesen, das „Nuit Debout“ ermöglichen soll. Dazu wird auch gleich die von Kommissionen erarbeitete Charta von Nuit Debout Marseille vorgestellt (siehe Übersetzung in dieser GWR). Und dieser Anspruch kann tatsächlich umgesetzt werden. Es melden sich zwar in chaotischer Reihenfolge abwechselnd einzelne BürgerInnen oder Jugendliche ohne Projektzugehörigkeit und dann wieder erkennbar langjährige Aktivistinnen mit einer spezifischen Projektvorstellung zu Wort, doch überraschend ist es möglich, sich aufeinander zu beziehen und sogar bei manchen Themen zu einer Art Diskussion zu kommen.
Bei den Leuten, die Projekte vorstellen, ergibt sich ein Überblick über die doch überraschende Fülle der vorhandenen Initiativen in der Stadt, von denen mir selbst viele bisher noch unbekannt waren: Eine Frau von „Marseille en transition“ stellt ihr Projekt einer „Integral-Kooperative“ vor, an der sich schon jetzt rund 50 Leute beteiligen, der es darum geht, über eine Lebensmittel-Coop hinaus alle im Alltag benötigten Güter (Kleidung, Spielsachen usw.) mit einzubeziehen und sich damit immer weiter vom über Geld vermittelten Markt abzukoppeln. Zwei Menschen mit Behinderung im Rolli stellen ihr Projekt vor, den Fahrzeughangar der städtischen Verkehrsbetriebe zu blockieren, weil die Stadt eine der behindertenfeindlichsten in Frankreich ist. Sie erzählen auch interessant von den internen Diskussionen in ihrer Gruppe über Gegengewalt oder gewaltfreie Aktion und dass sie sich bewusst für Letztere entschieden haben: Es gebe nur eine Ausfahrt aus dem Hangar, ein quergestelltes Auto und einige Hundert SolidemonstrantInnen würden reichen, um ihn zu blockieren. Ein Arbeiter von „Fralib“, einer früheren Teefirma des Konzerns „Unilver“, stellt den nun in Arbeiterselbstverwaltung hergestellten Tee „1336“ und einen Film über ihren Streik über 1336 Tage hinweg vor, der im Anschluss an die Agora in der Nacht gezeigt wird: Anstatt einer Firmenschließung und Produktionsverlagerung nach Osteuropa hat der Kampf erreicht, dass von ursprünglich 76 LohnarbeiterInnen heute immerhin noch 58 in einer Arbeiterkooperative arbeiten und ihren eigenen Tee herstellen und vertreiben. Ein Mitglied der Videokooperative „Videodrome“ stellt ein selbstverwaltetes Kino vor, das sich direkt auf dem Juliansplatz hinter den Leuten befindet. Und ein Mitglied der seit zwei Jahren existierenden Stadtteilversammlung, die sich ursprünglich zum gemeinsamen Kampf und selbständigen Abbau der überall von der Stadt aufgebauten Überwachungskameras zusammengefunden hat, spricht über den aktuellen Kampf gegen die weitere Gentrifizierung des Stadtteils und städtische Verbote gegen einen selbstorganisierten Karneval oder einen kostenlosen Flohmarkt, die beide zur Stadtteilkultur von unten gehören, aber einem verordneten Tourismuskonzept weichen sollen. Und das ist nur eine kleine Auswahl der Projekte, Gruppen und auch lokalen Gewerkschaftsorganisationen, die vorgestellt werden.
Jenseits und auch zwischen diesen Projektvorstellungen ergreifen Einzelleute das Mikro, die einfach ihre Meinung zu einem inhaltlichen Thema kundtun wollen. So beginnt jemand eine Diskussion über die Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen. Zwei Mikro-Beiträge später bezieht sich dann jemand auf diesen Vorredner und fordert dazu ein ebenso festgelegtes „Maximaleinkommen“, welches das Dreifache des Mindesteinkommens nicht übersteigen dürfe. Eine andere Diskussion, auf die sich immer wieder einzelne RednerInnen zwischendurch beziehen, ist die Frage nach Wahlenthaltung oder Wahlbeteiligung. Hier gehen die Meinungen erkennbar auseinander. Eine Person stellt sogar eine von mir noch nie gehörte „Bürgervereinigung gegen Wahlabstinenz“ vor, die es sich zur Aufgabe stellt, die Leute wieder zur Urne zu führen.
Die Missfallenszeichen in der Agora werden auch durch Buhrufe lautstark unterstützt und viele Wortmeldungen nach ihm fordern zum Wahlboykott oder zum Ungültigwählen auf. Eine Frau stellt eine neue Broschüre mit Argumenten gegen die Wahlbeteiligung vor, die allgemeine Tendenz ist scharf gegen Parteien und BerufspolitikerInnen gerichtet. Der erste und vereinzelte weitere Beiträge zeigen aber, dass sich das ändern kann und noch nicht ausdiskutiert ist, was die Option, dass aus Nuit Debout auch sowas wie „Podemos“ in Spanien werden kann, nicht ausschließt.
Derzeit trauen sich aber, etwa in Paris, nicht einmal linke potentielle Präsidentschaftskandidaten wie Jean-Luc Mélenchon (der frz. Lafontaine), offiziell das Wort zu ergreifen, geschweige denn im Namen ihrer Organisation zu sprechen. Sie sind bisher simple, „interessierte“ BesucherInnen dieser neuen Diskussionsform, wie sie behaupten. Denn alle „Nuits Debout“ wehren sich bisher explizit in ihren Chartas und Selbstdarstellungen gegen jede Form der „politischen Vereinnahmung.“ (2) Obwohl übrigens kein/e gemeldete RednerIn zurückgewiesen wird, ist es eine eindeutig linke, in Teilen libertäre Veranstaltung, kein/e Rechte/r wagt es, an diesem Abend das Mikro zu okkupieren – hier liegt sicher ein Unterschied zu den deutschen „Montagsmahnwachen“ und dem „Friedenswinter“, in die sich auch Rechte und Querfront-Strategen einmisch(t)en (vgl. Artikel dazu, in: GWR 390, 396 und 399).
Probleme der sozialen Zusammensetzung, Spontandemos spät in der Nacht
Während in Marseille alle sozial benachteiligten Schichten, Geflüchtete, Franzosen/Französinnen mit kolonialgeschichtlichem Hintergrund und Obdachlose in der Innenstadt leben und daher auch bei Nuit Debout wie selbstverständlich zu Wort kommen, werden Probleme der sozialen Zusammensetzung eher in Paris offensichtlich. Dort wurde nach dem 31. März 2016 versucht, Nuit Debout auf die Banlieues auszuweiten. Es sollte versucht werden, den Zentralismus der Place de la République und auch den Eindruck, es handle sich um eine weiße Mittelschichtsbewegung, zu überwinden. Im vornehmlich von muslimischen BürgerInnen bewohnten Stadtteil Saint-Denis im Pariser Norden zeigten sich etwa bei der ersten Nuit Debout dort die Grenzen dieser Ausweitung: Die soziale Zusammensetzung der rund 300 Beteiligten dort kam über den Charakter einer Versammlung von StudentInnen und ProfessorInnen der nahe gelegenen Universität Paris-VIII nicht hinaus. Die BewohnerInnen des Stadtteils mischten sich nicht unter die AktivistInnen, beobachteten das Geschehen eher verwundert aus der Ferne. Von JournalistInnen dokumentierte Aussagen von PassantInnen wie von Samir, 19 Jahre: „Ich weiß nicht mal, was das ist; ich wohne aber hier“, oder von einem rund 40jährigen Schwarzen: „Wen wollt ihr denn hier repräsentieren? Macht die Augen auf: Unter euch ist kein Araber, keine Asiatin, keiner aus den Antillen!“, sind durchaus typisch. (3)
Auch zur Gewaltfrage gibt es bei Nuits Debout unterschiedliche Ansichten und Widersprüche. In Paris zogen bei manchmal bis zu 3.000 Beteiligten der Nuit Debout oft mehrere Hundert spätnachts zu teilweise militanten Spontandemos los, die nicht bei Sachbeschädigungen haltmachten. Die Ziele waren etwa leerstehende Wohnungen (in Zusammenarbeit mit der Initiative Droit au logement/Recht auf Wohnraum), Demos zur Unterstützung von Geflüchteten, das Überfluten des Bahnhofs Saint-Lazare zur Unterstützung des Eisenbahnerstreiks, Besuche bei Polizeikommissariaten mit der Forderung nach Freilassung von Festgenommenen oder auch bei der Privatwohnung des verhassten Premierministers Manuel Valls. (4)
Unterwegs werden bei diesen nächtlichen Spontandemos von einer Minderheit Symbole der Macht angegriffen, Schaufenster von Banken entglast und militante Konfrontationen mit der Polizei gesucht. Die Polizei ist besonders verhasst, seit sie am 24. März einen bereits festgenommenen Jugendlichen am Lycée Bergson offen k.o.-geschlagen hatte und das aufgenommene Video durch die „sozialen Netzwerke“ ging. (5)
Der Staat und die bürgerliche Presse nutzen diese nächtlichen Konfrontationen, von manchen AktivistInnen als notwendige „Konfliktualität“ eingefordert, um medial ein generelles Verbot der Nuits Debout vorzubereiten, wenn diese sich dauerhaft etablieren sollten. Schließlich ist in Frankreich noch immer der Notstand gültig (vgl. GWR 405). Aufgrund der breiten öffentlichen Unterstützung, bis ins bürgerliche Lager hinein, wagen es die Autoritäten aber im Moment nicht, die Versammlungen von Anfang an zu verbieten: Auf der Place de la République etwa kommt es bisher immer erst zu Räumungen am frühen Morgen, gegen 5 Uhr oder 5 Uhr 30. Seit Anfang April wurden trotzdem bereits mehr als 400 AktivistInnen verhaftet, ca. die Hälfte davon wurden für längere Zeit in Gewahrsam genommen.
So gibt es auch in Marseille von einer zahlenmäßigen Minderheit der insurrektionalistischen-autonomen Strömung, die sich einer in der Szene leider verbreiteten Abgrenzungsmanie hingibt, eine Kritik am bisher positiven, „festlich-pazifistischen“ Charakter der Nuits Debout, die dann gleich nur noch als „Bürgerbewegung“ gescholten und der Geist der „luttes“, der sozialen Kämpfe, abgesprochen wird (6), was ich aus meiner eigenen Erfahrung in Marseille nicht bestätigen kann und was auch die Spontandemo zum Büro der Açtion française widerlegt hat.
In Paris ist diese insurrektionalistische Tendenz jedoch stärker und wird auch unterstützt von Intellektuellen wie dem Universitätsprofessor François Cusset, der sogar propagierte, dass nach einer Art Unterdrückung gewaltsamer Aktionen während der Zeit der terroristischen Attentate mit islamistischem Hintergrund nunmehr soziale Gegengewalt mit den Nuits Debout wieder möglich sein müsse. (7)
Es kann gut sein, dass diese Tendenz ganz im Sinne der Regierung ist, denn selbstverständlich hat der Staat auch wieder Agents provocateurs im militanten Kämpferoutfit unter die KämpferInnen geschickt, die sich, wie die französische anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT unlängst in einer Presseerklärung mit Foto öffentlich machte, nicht einmal scheuten, anarchistische Aufkleber auf ihre Kampfanzüge zu kleben.
Diese militanten Zivilpolizisten tragen in Paris längst dazu bei, Vorwände für das brutale Eingreifen der CRS im Notstandsstaat zu liefern. (8)
Af
Anmerkungen:
(1): „Un petit retour sur la manif sauvage nocturne du 16 avril“, siehe: https://mars-infos.org/un-petit-retour-sur-la-manif-968
(2): R.B. Désmoulières, N. Chapuis, S. Zappi: „La gauche hésitante face à Nuit debout“, in: Le Monde, 10.-11. April 2016, S. 8.
(3): Elvire Camus, Sylvia Zappi: „Les Nuits debout restent balbutiantes en banlieue“, in: Le Monde, 15. April 2016, S. 10.
(4): Luc Peillon: „Social. Le mouvement essaime progressivement en dehors de Paris“, in: Libération, 15. April 2016, S. 16.
(5): Video dazu siehe: www.marianne.net/video-violences-entre-policiers-lyceens-mobilises-contre-loi-travail-100241326.html
(6): Vgl. etwa: CSH (13 en lutte): „Pourquoi les Nuits Debout m’emmerdent“, siehe: https://mars-infos.org/pourquoi-les-nuits-debouts-m-954
(7): François Cusset: „Le début d’une longue veillée“, in: Le Monde, 8. April 2016, S. 22.
(8): Vgl. Foto eines militanten Polizei-Agents-Provocateurs, CNT-Presseerklärung: http://paris-luttes.info/communique-a-propos-d-un-policier-5359?utm_source=dlvr.it&utm_medium=facebook&lang=fr
BILDTEXT: Ein militanter Polizeiprovokateur mit Aufkleber der französischen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT.
Foto aus: Graswurzelrevolution Nr. 409, Mai 2016. Quelle: http://paris-luttes.info/communique-a-propos-d-un-policier-5359?utm_source=dlvr.it&utm_medium=facebook&lang=fr
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 409, Mai 2016, www.graswurzel.net