Ein Blick auf französische Zustände – Von Willi Hajek
Die Fabrikschließungen in Frankreich gehen weiter, sei es in der Bretagne mit ihren großen umweltschädigenden Fleischverarbeitungsfabriken, in der Picardie (Nordfrankreich) bei dem Reifenfabrikanten Goodyear oder bei den Frauen von »3 suisses« und in anderen Betrieben. Doch auch der Widerstand gegen die Schließungen geht weiter.
Bei Goodyear in Amiens war der Schließungsbeschluss im Januar 2012 gefallen. Begründet wurde er mit dem Rückgang der Profite durch die Weigerung der CGT-Gewerkschaft im Betrieb, ein Rund-um-die-Uhr-7-Tage-Schichtmodell zu akzeptieren. In einem Referendum hatte die Belegschaft dieses Angebot des Unternehmens abgelehnt. Ganz anders die Dunlop-Belegschaft auf der anderen Straßenseite desselben Industriegebiets in Amiens: Hier waren Belegschaft und Gewerkschaften einverstanden und akzeptierten die Knochenmühle. Dennoch verteidigen viele ArbeiterInnen von Goodyear auch heute noch ihre Ablehnung und verweisen auf die Berichte der KollegInnen von gegenüber, darauf, wie kaputt und verbraucht sie sind. Kurzum, seit dem Januar 2012 gibt es Streit bei Goodyear. Die CGT-KollegInnen mobilisieren die Belegschaft, ähnlich wie bei PSA und Conti, machen Druck auf die Verhandlungen mit der Geschäftsführung und schaffen auch Druck auf juristischer Ebene. Drei Prozesse haben sie gewonnen. Folge war die gerichtliche Annullierung der vom Unternehmen vorgeschlagenen Sozialpläne.
Vor zwei Jahren war der jetzige Präsident Hollande auf dem Parkplatz vor dem Werk und versprach, im Falle seines Wahlsiegs ein Gesetz auf den Weg zu bringen, um »Börsenentlassungen« – also Entlassungen in Betrieben, die Profite machen, aber aus Sicht des Unternehmens nicht ausreichend – zu verbieten. Von daher ist die Stimmung dem Präsidenten gegenüber nicht sehr wohlgesonnen. »Verräter« ist daher noch die mildeste der freundlichen Bezeichnungen, die die ArbeiterInnen für ihn verwenden. Auch bei Goodyear kam so für kurze Zeit die Idee auf, den Betrieb nach dem Vorbild von Fralib in Gemenos (s. express, Nr. 6/2012 und 11/2013) in Eigenregie zu übernehmen.
Inzwischen aber hat sich die Orientierung durchgesetzt, die Abfindungen in die Höhe zu treiben. Das wollen die ArbeiterInnen mit entschlossenen Aktionen erreichen. Gleich zu Beginn des Jahres 2014 haben sie damit begonnen. Als Neujahrsgruß hatten sie den Personalchef und den Produktionsleiter von Goodyear ab Montag, 4. Januar, für 24 Stunden festgesetzt. Ihr Handy durften die Gefangenen behalten, ab und an auch die Familie anrufen, ansonsten waren sie den Blicken, Gesprächen und dem rebellischen Zorn der Streikenden ausgesetzt. Die Eingangstür zum Versammlungssaal im Betrieb, in dem die beiden die 24 Stunden verlebten, war durch einen großen Traktorenreifen versperrt. Die Polizei ist nicht eingeschritten, obwohl Medien und Unternehmenschefs die Aktion und die Akteure als terroristisch bezeichneten. Nach der Freilassung aus dem 24-stündigen ›Zwangsdialog‹ beschlossen die Goodyear-Beschäftigten eine Besetzung des Betriebs. Sie haben einen Schatz von über 200 000 Reifen im Werk, sowohl PKW-Reifen als auch Reifen für große Landmaschinen. Deshalb gehen auch die Feuer vor und auf dem Betriebsgelände nicht aus. Der Kampf ähnelt dem der Contis von 2009. Es gibt einen recht radikalen Kern von kämpferischen Syndikalisten im Werk, und auch die umliegende Bevölkerung ist solidarisch. Die zentrale Führung der CGT distanziert sich von den Methoden des Kampfes (»das entspricht nicht unseren gewöhnlichen Aktionsformen«), erklärt aber öffentlich weiterhin ihre Unterstützung. Die konkurrierende CFDT-Gewerkschaft im Dunlop-Werk auf der anderen Straßenseite macht dagegen die harte, unnachgiebige Haltung der Belegschaft und der CGT bei Goodyear für die Schließung mitverantwortlich und lobt die eigene Verzichtsbereitschaft, die das Dunlop-Werk profitabler mache. Diese Situation ähnelt doch sehr der Situation im GM-Konzern mit den Vorwürfen von Teilen des IG-Metall-Betriebsmanagements aus Opel-Rüsselsheim gegenüber der unnachgiebigeren und nicht vollkommen verzichtsbereiten Opel-Belegschaft in Bochum.
Auch der französische Wirtschaftsminister Moscovici kritisiert die rebellischen ArbeiterInnen, sie seien »nicht bereit, sich Wasser in den Wein schütten zu lassen«. Der US-amerikanische Kandidat für die Übernahme der Fabrik bezeichnet die gesamte Belegschaft von Goodyear als »Verrückte«, die »weggesperrt« werden sollten. (Interview in RTL, wiedergegeben in der Humanité vom 7. Januar 2014) Mit seinen Klassenbrüdern und -schwestern aus dem Finanzsektor ist er gleichwohl nicht solidarisch: Er schlägt der rebellischen Belegschaft vor, gemeinsam eine Bank zu überfallen, um sich das Geld für den Kauf und die Übernahme der Fabrik zu besorgen. Am 11. Februar 2014 gibt es die nächste Gerichtsverhandlung über den Schließungsplan. Mal sehen, wie es weitergeht.
Auch die Aufstandsbewegungen in der Bretagne gehen unterdessen weiter. In der Januar-Ausgabe der le monde diplomatique spricht Serge Halimi schon von »Jacquerien«, das heißt: Monsieur Jacques, mit der roten Mütze, dem bonnet rouge, versammelt sich mit seinen bretonischen LandgenossInnen und versucht, die zentralstaatlichen Einrichtungen wie auch die neuen Mautstellen auf den Fernstraßen zu stürmen und zu zerlegen. Auslöser ist aber nicht allein die neue Ökosteuer, die besonders die LKW-Transporte auf der Straße trifft. Durch die Ökosteuer soll staatlicher Druck provoziert werden, den Warentransport von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Die Ökosteuer gehört aber zu einem ganzen Paket von Steuern, die die Regierung durchsetzen will, darunter auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die Grundlage für die Bereitschaft zur Revolte ist aber vor allem die Krise in der Massentierhaltung, der Schweinezucht und der fleischindustriellen Verarbeitung. Die jahrzehntelang gezahlten Subventionen der EU werden gekürzt, vor allem für die industrielle Landwirtschaft. In diesem ›Industrie-Sektor‹ herrscht eine erbitterte Konkurrenz zu den Agrarfabriken in der BRD. Der Arbeitsdruck auf die Lohnarbeitenden in der Bretagne hat enorm zugenommen, gleichzeitig versuchen die Unternehmen, osteuropäische Leiharbeitskräfte anzuwerben. Die bretonischen Unternehmensverbände und der größte französische Bauernverband FSNA sind Motoren in dieser Bewegung für mehr staatliche Beihilfen. Gleichzeitig kämpfen die großen wie kleinen LKW-Speditionen gegen die Ökosteuer. Sie finden Verbündete bei all den Kräften, die diese Regierung in die Knie zwingen wollen, dazu gehören dann vor allem auch reaktionäre Parteien und Strömungen.
Die Belegschaften in den großen Schweinefabriken sind gewerkschaftlich gut organisiert, aber auch hier ist es gelungen, durch die bestehende Konkurrenzsituation zwischen den Unternehmen bisher ein einheitliches Vorgehen zu verhindern. Die Hauptschwierigkeit liegt aber sicherlich darin, dass die gut verankerten industriellen Gewerkschaften sich kaum oder fast gar nicht beteiligt haben an der recht intensiven Kritik und der lebendigen regionalen Debatte über die Notwendigkeit eines Ausstiegs aus dieser – um-weltzerstörerischen und produktivistischen – industriellen Produktionsweise in der Bretagne.
Die Bauerngewerkschaften der Confédération paysanne versuchen jetzt, zusammen mit dem basisdemokratischen Gewerkschaftsbündnis Solidaires, Teilen der CGT und der Umwelt- und Bürgerinitiativen einen anderen Weg zu gehen. Sie wollen die Krisensituation nutzen, um einen grundlegenden Bruch mit dieser kapital-produktivistischen Orientierung durchzusetzen. Denn ein »Weiter so« wie bisher kann es aus ihrer Sicht einfach nicht geben: »Wir wollen leben und arbeiten in der Bretagne, aber auf eine andere Weise als bisher, ökologisch verträglich« – sagen die BauerngewerkschafterInnen. Das beinhaltet aber auch ihre scharfe Kritik an der Regierung, die bisher in keiner Weise versucht hat, offensiv eine andere, umweltverträglichere politische Orientierung anzustoßen und mit den ökologischen Initiativen und den Vertretern einer bäuerlichen Landwirtschaft in einen produktiven Dialog zu kommen.
Les licenci‘elles: die entlassenen Frauen
Gegründet wurde diese Initiative im März 2012 von sechs Frauen, die bei dem Versandhändler »3 suisses« beschäftigt waren. Mehrheitsaktionär ist der deutsche OTTO-Versand. Das Unternehmen hatte die Schließung von 35 Läden mit insgesamt 149 Beschäftigten angekündigt, 90 Prozent davon Frauen. Anfangs war das Ziel der Initiative, dass entlassene Frauen sich innerhalb des Unternehmens vernetzen und Kontakte herstellen, um den Kampf zu organisieren, den Sozialplan durch Aktionen auf der Straße und vor Gericht zu verhindern oder die bestmöglichsten Entlassungsbedingungen zu erstreiten. Aus Ajaccio, Mulhouse, Montpellier oder Brest schließen sich Frauen an, etwa 50. Dennoch kommt der Sozialplan gerichtlich durch. Aber die Frauen bleiben zusammen und kämpfen weiter. Sie unterstützen jene 70 Frauen, die individuell Klagen gegen die betriebsbedingten Kündigungen beim Arbeitsgericht eingereicht haben. Sie akzeptieren die Gründe des Unternehmens nicht und bezeichnen die Entlassungen als »Börsenentlassungen«: Ihrer Ansicht nach sind dem Mehrheitsaktionär OTTO die Profite einfach nicht hoch genug. Die Frauen der »3 suisses« werden von demselben Anwalt verteidigt, der auch Goodyear und andere Betriebe vertritt.
Die entlassenen Frauen – licenci‘elles – hatten sich anfänglich in der Initiative zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen Schließungen zu kämpfen. Das ähnelt der Situation der Schlecker-Frauen in Deutschland. Inzwischen ist die Initiative der Frauen zu einem regional und landesweit koordinierenden Zentrum geworden für andere Belegschaften, die in ähnliche Situationen kommen.
Die Initiative hat ihr Tätigkeitsfeld ausgeweitet: Im Dezember 2012 koordinierten die Frauen eine Demonstration von Beschäftigten verschiedener Standorte vor dem Arbeitsministerium in Paris. Am 26. Januar 2013 organisierte die Initiative eine Demonstration vor dem Firmensitz von Goodyear, um die dort kämpfende Belegschaft zu unterstützen. An dieser bisher größten Demonstration von Belegschaften bzw. Beschäftigten, die gegen Fabrikschließungen kämpfen, nahmen Beschäftigte aus allen gesellschaftlichen Sektoren teil, von Crédit Agricole (Bank), Faurecia (Autozulieferer), Fnac (Bücherkette), Ford, Fralib, Goodyear, PSA, Samsonite (Koffer und Taschen), Sodimedical (medizinische Ausrüstung), Sanofi (Chemie), Sony, Virgin (Handel), Coca Cola und Haribo.
Zunehmend wirkt die Orientierung der Initiative landesweit, über den eigenen betrieblichen Kampf hinaus. Marie Lecomte, eine der SprecherInnen der Initiative, berichtet: »Es geht darum, den lohnarbeitenden Frauen zu helfen, die gegen Börsenentlassungen kämpfen. Wir unterstützen sie, geben ihnen juristische Hilfe, tauschen unsere Erfahrungen aus. Sie wollen zwar keine neue Gewerkschaft sein, auch kein Etikett tragen – gewerkschaftlich wie politisch –, dennoch sind Mitglieder der Initiative Delegierte in den verschiedenen Gewerkschaften, aber manche in der Initiative wollen nichts von Gewerkschaft hören. Die Frauen sind heute in der Krise am meisten getroffen. Frauengruppen haben sie bisher die ganze Zeit unterstützt. Wir wurden AkteurInnen, Militante, vorher gingen wir nur in die Fabrik. Wir wurden einfach in den Kampf gestoßen, und so wurden wir militant.«
Interessant ist auch die Rolle des Anwalts Fiodor Rilov, der alle diese Belegschaften vertritt, sich selbst als Revolutionär bezeichnet und britischer Staatsbürger ist (bisher verschleppte das Innenministerium die Ausstellung eines französischen Passes). Er ist inzwischen zum populärsten Anwalt in Arbeitsrechtsfragen in Frankreich geworden und vertritt alle aktiven GewerkschafterInnen, die sich wehren, egal, ob von der CGT, von Solidaires oder aus anderen Betrieben.
Und was machen die Fralibs in Gemenos?
Die erste landesweite Boykottaktion aller Unilever-Produkte am 6. Dezember 2013 (s. express 11/2013) war ein Erfolg, es beteiligten sich die unterschiedlichsten Gruppen und Initiativen, Individuen und auch Boykottkollektive, die sich extra für diesen Zweck gefunden hatten. So ist auch sofort der nächste Aktionsvorschlag entstanden: Am Samstag, den 18. Januar 2014, sollen die Produkte von Unilever wieder landesweit boykottiert werden, und 2014 soll insgesamt zum Jahr des Boykotts von Unilever-Produkte werden.
Zusammen mit der bekannten, sozial engagierten Band »les saltimbanks« (»on ne lâche rien – wir lassen nicht locker«) haben sie ein Lied für ihren Kampf geschaffen: »Los Fralibos« – und wer weiß, vielleicht tauchen die Fralibos irgendwann im Februar oder März in unseren Landen auf? (1)
Ein Ausblick auf 2014
2014 wird in Frankreich ein ereignisreiches und turbulentes Jahr werden, wie hoffentlich auch hier in der BRD, in Europa und weltweit. Bei den Europa-Wahlen im Mai werden sicher rechtsradikale »Anti-System-Parteien«, etwa der Front National, Zulauf erhalten, die die Kultur des Hasses gegen MigrantInnen und andere Bevölkerungsgruppen verbreiten und eine Kultur der Angst propagieren. Gleichzeitig hat die jetzige Regierung eigentlich überhaupt keine Orientierung, und die linken Wahlparteien sind auch nicht sehr attraktiv. Von daher hoffen alle auf Massenbewegungen – wie 2010 bei der Rentenreform –, die in der Lage sind, das Land lahmzulegen und sich neue, autonome und lokal verankerte Strukturen zu schaffen.
Niemand weiß, an welchem Konflikt und an welcher Frage sich diese Bewegung entwickeln wird. Aber die Wut und die Entschlossenheit ist da, das bestätigen alle Beobachter, selbst die Unternehmensbosse. Voilà, die ehemals Streikenden von PSA schaffen sich ihre eigene Rap-Kultur, die diese Stimmung ausdrückt. Der Geist der Revolte zeigt sich: http://de.labournet.tv/video/6519/so-kann-es-nicht-weitergehen-ca-peut-plus-durer
* Willi Hajek ist Mitarbeiter des tie-bildungswerks e.V.
Anmerkung
1) Wir werden berichten, auf You Tube kann man sich jetzt schon das Video anschauen: http://youtu.be/A3KqeXcgy4w
Der Buch-Verlag »die Fabrik«, der auch »Der kommende Aufstand« veröffentlicht hat, verbreitet gerade ein neues Buch über die Situation nach dem ›sicher kommenden Aufstand‹ mit der zentralen Frage: Was müssen wir tun, um diesen dann folgenden Prozess offen zu halten, um die emanzipativen Kräfte zu stärken und eine neue Produktionsweise und neue gesellschaftliche Beziehungen aufzubauen?