Der griechische Staat als Antifaschist?

„Wer auf diese Antifa vertraut, der ist verloren“

Eine der bedrohlichsten Folgeerscheinungen der ökonomischen, politischen und sozialen Krise in Griechenland ist das massive Erstarken der offen nazistischen Partei Chrysí Avgí (XA, Goldene Morgenröte).

 

Die Organisation wurde Anfang der 1980er Jahre vom heutigen Parteiführer Nikólaos Mi­chaloliákos gegründet und ist für die brutalen Gewaltakte ihrer Anhänger gegen MigrantIn­nen und AntifaschistInnen berüchtigt. Sie fristete jahrzehntelang ein absolutes Randda­sein und wurde von der öffentlichen Meinung bis 2009 kaum wahrgenommen.

Der seitdem voranschreitende wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes und die damit einhergehende Verarmung breiter Teile der Bevölkerung, führte im Zusammenspiel mit rassistischer Regierungspolitik, medialer Hetze und polizeilichen Säuberungswellen gegen MigrantInnen, nicht nur zur massiven Eskalation rassistischer Propaganda und Gewalt sondern auch zum Erstarken von XA, die 2011 und 2012 mit jeweils 6,9 % ins griechische Parlament einzog.

 

Nazis als zukünftige Koalitionspartner?

Trotz aller verbaler Abgrenzung von Seiten der konservativen Regierungspartei Néa Dimo­kratía (ND) gab es in den letzten Monaten wiederholt Spekulationen darüber, dass nach eventuell nötigen Neuwahlen und dann anderen Mehrheitsverhältnissen, eine Koalition zwischen ND und XA nicht ausgeschlossen werden könne.

Da die Zukunft des momentanen Koalitionspartners, der sozialdemokratischen ehemaligen Staatspartei Pasok, mehr als un­gewiss erscheint und XA in Meinungsumfragen bis zu 18 % erzielte, sollte wohl der Boden für eine zukünftige Zusammenarbeit bereitet werden.

Zuletzt hatte Anfang September der bekannt regierungsfreundliche Journalist Bábis Pa­padimitríou in dem von Reederfamilien finanzierten, zweitgrößten Fernsehsender des Landes Skai-TV insistiert: Wenn die größte Oppositionspartei, das linke Bündnis Syriza, eine Koalition mit der stalinistischen KKE nicht ausschlösse, solle die ND die Kooperation mit einer „seriösen“ XA dringend prüfen, da „Nationalismus keine Schande“ sei.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass schon in der so genannten Expertenregierung des Ex-EZB-Bankers Papadímou (2010-2011) die „seriöse“ rechtsextrem-christlich-orthodoxe Partei L.A.OS. an der damaligen Koalitionsregierung beteiligt war. Die Regierungsbeteiligung hatte damals aller­dings eine Radikalisierung der rechtsextremen Wählerschaft zur Folge. L.A.OS. schaffte bei den Neuwahlen 2011 nicht mehr den Sprung ins Parlament und wurde durch XA ersetzt.

Die möglicherweise nun entstehende Lücke wollen unabhängige Nazis um Antónis Antrou­tsópoulos füllen. Der besser als „Períandros“ bekannte, ehe­mals zweite Mann hinter Mi­chaloliákos würde gerne das Er­be von XA antreten, die er und seine Mörderbande als „Sys­tempartei“ bekämpfen.

Períandros wurde 1998 wegen Mordversuchs an einem linken Aktivisten zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

Knapp eine Woche nach Pa­padimitríous Testballon im Skai-TV überfielen Mitglieder der XA in Pérama, dem Werf­tenviertel nahe dem Hafen von Piräus, eine Plakatklebertruppe der KKE und schlugen neun von ihnen krankenhausreif.

Der Angriff wurde allgemein im Zusammenhang mit Informationen gesehen, wonach die XA mit Unterstützung der Ree­der die KKE-dominierte Hafen­arbeitergewerkschaft übernehmen wolle.

 

Ein Mord zu viel

Wieder einige Tage später war der nahezu unaufhaltsame Aufstieg von XA, nach dem Mord an Pávlos Fýssas, einem 34-jährigen antifaschistischen HipHop-Musiker (vgl. GWR 382), vorerst gestoppt.

In der Nacht des 18. September schaute Fýssas mit FreundIn­nen in einem Café Fußball. Zwei ebenfalls anwesende Nazis tätigten einige Anrufe und als Fýssas und seine Freunde das Café verließen, wurden sie drau­ßen von ca. 40 Nazis angegriffen. Einer von ihnen, Giorgos Roupakiás, erstach Fýssas mit zwei Messerstichen in Bauch und Herz. Erst dann griffen die ebenfalls anwesenden Polizeibeamten, der für ihre brutalen Einsätze gegen MigrantInnen und linke Demonstrationen bekannten Dias-Motorradeinheit ein und nahmen den Täter fest.

Überall in Griechenland gingen am nächsten Tag Zehntausen­de gegen faschistische und rassistische Gewalt auf die Straße, was vielerorts in Auseinandersetzungen mit der Polizei mündete. In Keratsíni, dem Viertel, in dem Fýssas ermordet wurde, versuchten mehr als 15.000 Menschen zum Büro von XA zu gelangen und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Ein noch in derselben Nacht auf indymedia athen veröffentlichtes Video zeigt wie Neonazis Seite an Seite mit der Polizei DemonstrantInnen angreifen. Gewohnte Bilder soweit.

Die von der konservativen Néa Dimokratía (ND) dominierte Re­gierungskoalition benötigte über 24 Stunden, um eine Erklärung zu dem Mord abzugeben. Dann schlug Ministerpräsident Antónis Samarás, auch unter dem Druck der landesweiten antifaschistischen Mobilisie­rungen, erstaunliche Töne an: Die Demokratie verfüge über Mittel, „das Übel des Nazismus“ zu bekämpfen, das „unser gesellschaftliches und politisches Leben vergiftet“. 

Am selben Tag legte der Minister für öffentliche Ordnung, Ni­kos Déndias, ein berüchtigter rechter Hard­liner, dem obersten Gerichtshof eine Akte über 32 Straftaten vor, in die XA verstrickt sei. Womit belegt werden sollte, dass XA eine neofaschistische, paramilitärisch organisierte, „kriminelle Organisation“ ist. Den Anti-Terror-Ge­setzen zufolge können Parteimitglieder in diesem Fall auch strafrechtlich verfolgt und verhaftet werden, wenn sie Parla­mentsabgeordnete sind. Es war das erste Mal seit dem Ende der Militärdiktatur 1974, dass amtierende Abgeordnete festgenommen wurden.

 

Antifaschistische Kehrtwende der Regierung?

Die Überraschung über diesen Schritt war allgemein groß. An­archistInnen und radikale Linke gingen davon aus, dass die antifaschistische Kehrtwende der Regierung nichts als Heuchelei sei – da Fýssas Grieche und kein Einwanderer war – und dass sich die Aufregung mit dem Abflauen der Demonstrationen schnell legen würde.

KommentatorInnen großer Tageszeitungen und Fernsehsender wussten offensichtlich nicht mehr, was nun politisch korrekt sei. Es dauerte fast einen Tag bis all die populisti­schen Hetzer, die bisher noch jeder Polizeilüge und jedem verleumderischen Aufruf von XA eine Bühne geboten hatten, auf „Antifa-Linie“ waren. Ab dann dominierten die Verbrechen von XA und die „skandalös engen Verbindungen“ zwischen Nazis und Polizei die tägliche Nachrichten-Hysterie.

Tatsächlich führte die Abteilung für interne Angelegenheiten der griechischen Polizei zahlreiche Razzien in Polizeiwachen durch, um die von Opfern und linken Organisationen seit Jahren angeprangerte Zusammenarbeit mit den Neonazis zu beweisen. Mehrere hohe Poli­zeioffiziere mussten im Zuge der Ermittlungen zurücktreten, andere wurden suspendiert oder versetzt, zwei Beamte wegen ihrer Beteiligung an illegalen Aktivitäten von XA verhaftet. 

Am 29. September folgten Haftbefehle gegen 20 weitere Poli­zistInnen. Bei Durchsuchungen in XA-Büros wurden regelrechte Waffenlager für den Straßenkampf und Ausrüstungsgegen­stände der Polizei sichergestellt.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Festgenommenen vor, Mitglied in einer „seit 1987 agierenden kriminellen Vereinigung“ zu sein. Außer dem Mord an Fýs­sas führt die Anklage auch die im Januar erfolgte Ermordung des Pakistaners Sahzat Lukman im Athener Stadtteil Petrálona, sowie zehn weitere Morde und Mordversuche, viele Fälle von Körperverletzungen, Bombenattentaten, Schutzgelderpres­sungen und Geldwäsche auf. Der Umstand, dass die Behörden offenbar sehr genau über das kriminelle Treiben der XA informiert waren, spricht für sich und lässt die Frage aufkommen, warum dies geduldet, wenn nicht gefördert wurde. Auch dafür, dass über die Hälfte der PolizistInnen mit den Na­zis sympathisiert oder sogar bei ihnen aktiv ist, gab es schon lange handfeste Beweise.

Da XA, Regierung und Polizei aber oftmals dieselbe Agenda verfolgen und ihre Feindbilder – Anarchisten, linke Vaterlandsverräter und „Illegale“ – einan­der gleichen, schien dies staat­licherseits vernachlässigbar zu sein. Ein im Zeugenschutzpro­gramm befindliches XA-Mitglied bezeichnete „Morde wie den an Fýssas“ in seiner Aussage als „Job, der erledigt wird, weil er anders ist als wir“, während die „Misshandlung von Pakistanern Zeitvertreib“ sei.

Inzwischen haben mehrere XA-Mitglieder umfangreiche Aussagen über die Struktur und Hierarchie der Partei, den Einsatz von „Sturmbataillonen“ ge­gen AnarchistInnen, Linke und MigrantInnen, und die Finanzen der Partei gemacht.

Gestützt auf diese Aussagen wurden inzwischen mehr als 40 Haftbefehle erlassen und die gesamte XA-Führung einschließlich sechs Abgeordneter und des Parteigründers und Vorsitzenden Michaloliákos verhaftet. Es ist unübersehbar, dass der Staat beschlossen hat, sich dieser Neonazis zu entledigen.

Für Samarás‘ Néa Dimokratía könnte die Entscheidung von Vorteil sein. XA hat sich ange­sichts des wirtschaftlichen Niedergangs als systemfeindliche Kraft inszeniert und so Wählerstimmen und Unterstützung aus dem Teil der Bevölkerung erhalten, der sich nach einer autoritären Krisenlösung sehnt. Der besteht überwiegend aus reaktionärem städtischem Kleinbürgertum und Teilen der Landbevölkerung, die für die Ausbeutung von MigrantIn­nen mitverantwortlich ist, und denen in den letzten Jahren der Zugang zu den staatlichen Fi­nanztöpfen gekappt wurde.

Die rassistische Praxis der XA und ihre Rhetorik gegen „die da oben“, boten dieser Klientel ei­nerseits ein passendes Feindbild, das sie ohne Angst vor Folgen zur Zielscheibe ihrer Ge­walt machen konnte, und gab ihr gleichzeitig das gute Gefühl, die XA werde es „denen in Athen“ schon zeigen. Indem die ND nun die Neonazis als kriminelle Vereinigung delegiti­miert, hofft sie ihre abgewanderten WählerInnen zurückzugewinnen. Durchaus mit Erfolg. So beeilte sich eine meiner Nachbarinnen nach den Verhaftungen zu betonen, „von Politik und Neonazis“ nicht viel zu verstehen: „XA habe ich nur gewählt, damit die im Parlament mal richtig auf den Tisch hauen“. Neue Umfragen scheinen diese Absetzbewegung zu bestätigen. Während XA noch bei knapp 6,5 % rangiert ist ND erst­mals seit Monaten mit 24,5 % gegenüber 23 % wieder stärker als Syriza.

 

Die Theorie der zwei Extreme

Mit der Verfolgung der Neonazis schlägt die für die Sparpo­litik verantwortliche Regierung und nicht zuletzt der extrem rechte Ministerpräsidenten Sa­marás mehrere Fliegen mit einer Klappe. Den Faschisten wird gezeigt wer die Grenzen der Brutalität bestimmt, den europäischen Partnern der Beweis geliefert, dass man noch zum zivilisierten Europa gehört. Dem Widerstand gegen die autoritäre Regierungspolitik wird etwas der Wind aus den Segeln genommen. Und die faschistische Gefahr wird auf XA beschränkt, womit nicht zuletzt von den eigenen rechtsradikalen Ministern und Beratern abgelenkt werden soll.

Die Kriminalisierung von XA dient auch als Beweis der eigenen demokratischen Prinzipien, obwohl viele Positionen der Nazis längst Regierungspolitik geworden sind. So der rassistische Aufruf zur „Rückerobe­rung“ der städtischen Zentren angesichts einer „Invasion von illegalen Migranten“, der durch wiederholte Großrazzien im ganzen Land mit knapp 90.000 festgenommenen MigrantIn­nen umgesetzt wurde. Mehrere Tausend von ihnen sind bereits abgeschoben, Tausende be­reits seit Monaten unter menschenunwürdigen Bedingungen in den neu errichteten EU-finanzierten Sammellagern wie Amygdaléza, Kórinthos und Fylákio interniert. Auch die Offensive gegen die anarchistische Bewegung und die als „Zentren der Gesetzlosigkeit“ bezeichneten besetzten Häuser mit den Räumungen der letzten Monate, geht auf alte Forderungen der Nazipartei zurück.

Der engste Beraterzirkel um Sa­marás hat darüber hinaus schon lange klargestellt, dass ihr Problem nicht XA sondern die Linke allgemein ist, die sie als Gefahr für die ND ansehen. Ihre „Theorie der zwei Extreme“, auf der sie auch jetzt bestehen, ihre Anschuldigungen gegenüber Linken, egal was in Griechenland passiert, die Verharmlosung der Verbrechen der Nazis und ihr Unbehagen über die beginnenden Säuberungen bei der Polizei beweisen, dass ihr Ziel die weitere Polarisierung der Gesellschaft ist.

In den letzten Tagen hat Sa­marás tatsächlich erneut die Tonlage verschärft und mehrfach die „Theorie der zwei Extreme“ gegen Syriza und die linke und anarchistische Bewegung in Stellung gebracht. Mit diesem aus Deutschland nicht unbekannten Propagandain­strument wird die Gleichsetzung rechter Mörderbanden mit linken Utopien betrieben und bei­des als gleich gefährliche und gewalttätige Extreme dargestellt, während man sich selbst in der demokratischen Mitte verortet. Die Oktoberausgabe der anarchistischen Monatszeitung Diadromí eleftherías gibt deshalb all denen, „die sich über die Inhaftierung der XA-Mitglieder gefreut haben“, mit auf den Weg: „Wenn die Verwalter der staatlichen Macht schon ihren Zöglingen eine sol­che Behandlung angedeihen lassen, was glaubt ihr wird die Steigerung der Repression für all diejenigen bereithalten, die als irgendwie extrem oder gefährlich angesehen werden – und natürlich nicht nur auf Grund ihrer Taten, sondern auch ihrer Worte oder irgend eines Ausdrucks, der nicht geduldet wird.“

Wohin die Reise geht, ist klar und wird immer wieder unter Beweis gestellt. In Anwesenheit des Staatsanwalts stürmten Anfang Oktober 2013 starke Polizeikräfte eine von Schü­lerInnen aus Solidarität mit dem Streik ihrer LehrerInnen besetzte Schule im zentralgriechi­schen Lamía und verhafteten die Anwesenden. Ein Schnellgericht verurteilte acht volljährige Schüler zu 20 Tagen bzw. drei Monaten Gefängnis auf drei Jahre Bewährung. Auch in Kastoriá stürmte die Polizei eine besetzte Schule, dort blieb es bei Leibesvisitationen und Ein­schüchterungen.

Am 10. Oktober wurden die für diesen Tag geplanten Arbeitsniederlegungen von Betriebsgruppen der Athener Metro und der Trolleybusse für illegal erklärt und verboten. Es ist bereits das vierte Mal in diesem Jahr, dass Streiks verboten wurden.

Schon Ende September bekamen 23 EinwohnerInnen, der sich dem Goldabbau widersetzenden Dörfer Ieressós und Megáli Panagiá im Nordosten Chalkidikís, und vier Mitstrei­terInnen aus Thessaloníki Vorladungen als „Mitglieder einer kriminellen Vereinigung“ zugestellt. Weitere 50 AktivistInnen wurden als ZeugInnen geladen. Es ist der vierte Versuch den Widerstand gegen den Goldabbau und die damit verbundene Zerstörung der Umwelt Chal­kidikís als terroristisch zu kriminalisieren. Zwei mit dem gleichen Vorwurf seit sechs Monaten in Untersuchungshaft einsitzende Bewohner von Ieres­sós wurden am 10. Oktober unter Auflagen aus der Haft entlassen. Zwei weitere Inhaftierte haben nach Ablauf der ersten sechs Monate Haftprüfung beantragt. Samarás bezeichnete Syriza im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen den Goldabbau als „Terroristenfreunde“.

Bleibt als Fazit ein Satz der Dia­dromí eleftherías: „Wer auf diese Antifa vertraut, der ist verloren –(…) Raus auf die Straße – für die Anarchie!“

 

Ralf Dreis, Vólos

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 383, November 2013, www.graswurzel.net