Von der Demokratisierung der Städte zur Sozialen Ökologie

Interview mit Dimitri Roussopoulos (Black Rose Verlag, Montréal) - Teil 1

Dimitri Roussopoulos ist Verleger von Black Rose Books in Montréal in Quebec, Kanada.1  In den letzten Jahren besuchte er als Delegierter die Treffen des Weltsozialforums. Als Herausgeber ist er zusammen mit George Benello verantwortlich für das Buch „Participatory Democracy“, das die neuen Ansätze aus den Diskussionen des Weltsozialforums aufnimmt. Neben der Verlagsarbeit war Dimitri immer auch aktiv in den Auseinandersetzungen der Stadt Montréal. Mit ihm führte Wolfgang Haug für die GWR ein ausgiebiges Interview, das wir in zwei Teilen veröffentlichen. Teil 2 erscheint im Mai in der Graswurzelrevolution Nr. 369.

 

Graswurzelrevolution (GWR): Wann und wie begannen Deine politischen Aktivitäten?

 

Dimitri Roussopoulos: Politisch bin ich in den 60er Jahren geboren worden. Ich wurde aktiv in der New Left in Kanada, ebenso in der Bewegung für nukleare Abrüstung und in der Antikriegsbewegung. Es begann als militanter Aktivist und Organisator in diesen Bewegungen. Aber schnell befasste ich mich auch mit den Theorien der sozialen Bewegungen. Zuerst mit denen der Neuen Linken und dann mit der Friedens- und Antikriegsbewe­gung. 1961 gründete ich ein internationales Friedensforsch­ungsmagazin, „Our Generation against Nuclear War“, das später in den 70ern zur libertären Theorieschrift „Our Generation“ erweitert wurde, mit Herausgebergruppen in Toronto, New York, Montréal und Lon­don. Aus diesen Beiträgen entwickelte sich die Erkenntnis, wie wir die Gesellschaft verändern müssen.

Es geht eben nicht nur darum, die Entscheidungen der Regierungen zu beeinflussen, sondern wir müssen den Entschei­dungsprozess selbst verändern. Wo werden die Entscheidungen einer Gesellschaft getroffen? Wie kann eine Gesellschaft demokratisiert werden? Wie können politische und wirtschaftliche Entscheidungen normalen Menschen transparent gemacht werden? Wie können Machtverhältnisse transparent gemacht werden? Wie können wir an Entscheidungsprozessen teilhaben?

 

GWR: Aus dieser Arbeit und den entstehenden Bezugsgruppen entwickelte sich der Verlag Black Rose?

 

Dimitri Roussopoulos: Um die Analysen, die in diesem wichtigen Jahrzehnt entstanden, weiterzugeben und weiterzuentwickeln, gründete ich mit einer Gruppe von Freunden 1969 den Buchverlag Black Ro­se Books. Das Ziel bestand da­rin, zum Schreiben von kritischen Analysen zu ermutigen. Immer in der Wechselwirkung von Theorie und Praxis auf lokaler Ebene und doch mit einem internationalen Anspruch. Deshalb gingen wir in den 70er Jahren von der Theorie wieder verstärkt in die Praxis mit der Absicht, die Ideen der „participa­tory democracy“ (Teilhabe an der Demokratie) auf der Stadtebene auszuprobieren, durch selbstorganisierte Zentren, Organisation der Stadtteile und der Stadt. Dies entsprach auch Ideen der 70er, die die Menschen in den Stadtteilen organisieren wollten, um den dort lebenden Menschen eine Einflussnahme zu ermöglichen.

Mit den Zentren sollte eine feste Grundlage für Debatten, neue Ideen und Entscheidungen für Aktionen geschaffen werden, die im Gegensatz zu dem Kommen und Gehen von sozialen Bewegungen eine kontinuierliche Basis schaffen und auf die Stadt oder die Region ausstrahlen.

 

GWR: Gab es in Montréal einen Schwerpunkt der Auseinandersetzungen in den 70er Jahren?

 

Dimitri Roussopoulos: Wie leben die Leute? Welche Sicherheiten haben sie? Das Problem des Rechts auf eine Wohnung war für mich die wichtigste Frage. Deshalb organisierten wir eine große Bewegung, mitten in der Stadt, für non-profit-cooperative-hou­sing [etwa vergleichbar mit unseren gemeinnützigen Woh­nungsgenossenschaften].

Wir wollten ein Gebiet mit 6 Blöcken vor dem Abriss bewahren, das von einem großen Investor in Luxusappartements und Hotels umgestaltet werden sollte. Wir begannen 1968 einen 12 Jahre langen Kampf um diese neighbourhood (Stadtteil), in der 1800 Menschen lebten. Erst zu Beginn der 80er Jahre waren wir erfolgreich und konnten die größte gemeinnützige Woh­nungsgenossenschaft in Kanada bilden mit 647 verschieden großen Wohnungen und Häusern. Sie wurde aus 22 kleinen Wohnungsgenossenschaften als Föderation gebildet, nach libertären Vorstellungen.

Damit wurde das Recht auf Wohnen als ein soziales Recht der Menschen Realität. Das war zugleich die Umsetzung der Theorie, wie Teilhabe und Selbstgestaltung in der Stadt funktionieren kann.

Es schuf eine soziale Basis, po­litisch und kulturell für zukünftige Aktionen. Aus der Praxis heraus wurden diese Aktionen wieder in Our Generation und den Büchern von Black Rose Books reflektiert.

 

GWR: Kannst Du noch etwas zum Alltag der Wohnungsgenossen­schaft verdeutlichen?

 

Dimitri Roussopoulos: Die 22 kleinen Wohnungsge­nossenschaften müssen häufig kooperieren. Im Mittelpunkt steht die basisdemokratische Kontrolle von allen Fragen, die das Wohnen betreffen.

Jeden Monat hat jede der 22 eine Mitgliederversammlung ih­rer BewohnerInnen und dort wird über alle Fragen, die die Genossenschaft betreffen, entschieden. Also über alles: wieviel jemand bezahlen muss, was repariert werden muss, wer für was verantwortlich ist usw. – einschließlich der Entscheidung für was Geld ausgegeben wird.

Wichtig dabei ist, dass der Grund und Boden, auf dem die 22 Genossenschaften stehen, der Gemeinschaft gehört. Das nennen wir in Kanada einen land trust, damit ist ausgeschlossen, dass ein Haus verkauft oder gekauft werden kann. Das bedeutet, dass ein Gebiet von 6 Blocks im Zentrum einer Stadt wie Montréal aus der kapitalistischen Marktwirtschaft rausgenommen werden konnte!

 

GWR: Du hast erwähnt, dass die Genossenschaft eine wichtige Ba­sis für spätere Aktionen darstellte. Um welche ging es da­bei?

 

Dimitri Roussopoulos: In den 80ern wurden wir mehr und mehr auf die ökologischen Fragen aufmerksam. Es war ja schön, eine non-profit Wohnung zu haben, aber es gab ja z.B. viel zu viele Autos auf der Straße, eine zu hohe Luftverschmutzung, Wasserver­schmutzung, einen Mangel an Grünflächen und das große Problem, dass zuviel Haus­haltsmüll und Industriemüll produziert wurde.

Wohin soll dieser Abfall entsorgt werden? Die Ideen von Recycling und Wiederverwen­dung wurden vorangebracht.

In den 90ern gründeten wir dann innerhalb unserer Genossenschaft das Urban Ecology Centre, das wichtige ökologische Probleme diskutieren und Informationsveranstaltungen anbieten konnte. Die Stadt konsumiert Ressourcen aus der Umgebung und exportiert ihren Abfall dorthin zurück.

Damit meine ich nicht nur z.B. verschmutztes Wasser oder Abfallverbrennungsanlagen auf dem Land, sondern auch Wegwerfprodukte der kapitalistischen Gesellschaft.

Ich möchte daran erinnern, dass die frühe Umweltschutzbewegung sich zumeist auf die Natur draußen richtete, z.B. den Schutz der Wale, die Ver­schmutzung der Flüsse und Seen, die Rettung des Waldes oder die Reduzierung des Abfalls ganz allgemein.

Dabei wurde aber das verursachende Problem, die Konsequenzen der Verstädterung nicht angegangen.

Diesen neuen Denkansatz bereiteten wir im Social Ecology Centre vor. Dazu veröffentlichten wir bei Black Rose Books die Philosophie von Murray Bookchin und Beiträge aus dem Institute for Social Ecology in Vermont, weil der Ansatz der Sozialen Ökologie Bookchins die Umweltkrise mit der Stadt und einer politischen Perspektive in Verbindung brachte.

Konkret wurden im Social Eco­logy Centre Aktivitäten und Ideen entwickelt, auch für Pilotprojekte außerhalb der Genossenschaft, z.B. für effiziente Energienutzung, Renovierung von Häusern mit Wärmedämmung, alternative Trans­portformen, weil es ein schlechtes öffentliches Verkehrsnetz gab, unterstützten wir die Fahrradinitiativen. Wir hatten damals und haben heute eine starke militante Fahrradbewegung in Montréal.

Aus diesen vielen Ansätzen entwickelte sich erneut die Frage, wie bekommen wir das zusammen, um eine demokratischere und ökologische Stadt zu schaffen? Denn mit dem An­satz des libertären Kommunalismus Bookchins war uns klar, es kann keine ökologische Stadt ohne Demokratisierung geben und es kann keine Demo­kratisierung ohne ökologische Veränderungen geben.

 

GWR: Gleichzeitig habt ihr bei Black Rose Books aber auch den internationalen Aspekt weiterverfolgt.

 

Dimitri Roussopoulos: Wir waren in Kanada der erste Verlag, der die politischen Bücher Noam Chomskys verlegte. Wir verlegten ca. 15 seiner wichtigeren Bücher.

Chomskys Ansatz ist wichtig, weil er deutlich macht, wie die politischen Eliten, vor allem die US-amerikanischen Eliten über die Medien bestimmte Entscheidungen US-amerikani­scher Außen- und Verteidi­gungspolitik beeinflussen. Wir gingen damit auf unsere Wurzeln in der Antikriegsbewegung zurück, als wir in den 60ern gefordert hatten, dass auch die Verteidigungspolitik für normale BürgerInnen durchsichtig und entscheidungsfähig gemacht werden muss, weil wir überzeugt sind, dass die Politi­kerInnen und sogenannte Ex­pertInnen nicht die Antwort auf alle Fragen haben.

Im Gegenteil, diese „Eliten“ entscheiden Dinge wie den Vietnam-Krieg, die dann katastrophale Auswirkungen haben.

 

GWR: Mit Chomskys politischem Wirken hat Black Rose wie­derum einen direkten Bezug zur heutigen Anti-Globalisie­rungsbewegung.

 

Dimitri Roussopoulos: Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre entstand eine neue soziale Bewegung, eine Internationale gegen die Neue Weltordnung, gegen die Globalisie­rung, gegen die Reorganisation der Weltwirtschaft, die von der Ideologie des Neoliberalis­mus dominiert wird. Die neue Weltordnung mit ihren Organisationen wie der Welthandelsorganisation, dem IWF, der Weltbank etc., die sich jedes Jahr in Davos in der Schweiz beim Weltwirtschaftsforum treffen und dort die wirtschaftlichen Entscheidungen diskutieren und festlegen, wie die 400 größten multinationalen Konzerne als die Hauptakteure der Weltwirtschaft diesen Kurs prägen.

In Seattle in den USA begann eine neue Form des Widerstands. Einige Monate nach der „Battle of Seattle“2  begann sich eine neue Grundlage zu entwickeln. In Europa trafen sich zu­nächst Menschen von Attac und Le Monde Diplomatique in Frankreich, in Brasilien Menschen aus den Gewerkschaften und verschiedenen Bürger­rechtsorganisationen. Sie entschieden nach einigen Treffen eine neue Internationale zu gründen, das Weltsozialforum.

Dem Weltsozialforum sollte die große Bedeutung zukommen, alle Sozialen Bewegungen und Bürgerrechtsorganisationen zu repräsentieren, die sich der Charta, den Statuten anschließen. Ich verweise auf das Inter­net, in dem die Prinzipien nachgelesen werden können.

Die generelle Idee ist, dass große internationale Treffen an verschiedenen Stellen auf der Südhalbkugel organisiert werden,  um zu klären und die Aktionen zu diskutieren, wie die derzeitige von den wirtschaftlichen Eliten entworfene Weltwirtschaft zu stoppen und zu verändern ist.

Das erste Treffen, das 2001 stattfand, wurde in Porto Alegre im Süden Brasiliens im Bereich Rio Grande abgehalten. Porto Alegre ist eine Stadt, die sehr demokratisch funktioniert.

Dort wurde die Idee eines „parti­cipatory budget“ geboren, da­bei kann die Stadtbevölkerung in Diskussionen von Frühjahr bis Herbst Einfluss auf die Ausgabenpolitik der Stadt nehmen. Die These war, dass es als politischer Akt zwar für die Bevölkerung gut sein könnte, eine linke Stadtregierung zu wählen, aber dass dies nicht ausreicht. Eine Stadt muss viele wirtschaftliche Entscheidungen treffen, so dass es wichtig für die Stadtbevölkerung ist, an diesen wirtschaftlichen Ent­scheidungsprozessen direkt beteiligt zu werden, die Prioritäten mitzubestimmen.

Porto Alegre ist eine Stadt von der Größe Montréals mit fast 2 Millionen Einwohnern. Die Stadt begann ein sehr radikales Experiment.

Über einen Zeitraum von mehreren Jahren wurden mehr und mehr Menschen einbezogen, Hunderte am Anfang, Tausende heute, die in lokalen Versammlungen mitentscheiden, was die Stadt tut, um das Wohnen, die Gesundheit, den öffentlichen Verkehr, den Umweltschutz etc. zu verbessern.

Es wurde organisiert, dass die Geldausgaben nicht mehr allein in der Verantwortlichkeit der ge­wählten PolitikerInnen liegen, sondern dass es jeden Bewohner der Stadt angeht. Ein solcher Ansatz für eine ganze Stadt wurde vorher noch nie umgesetzt. Als „Nebeneffekt“ wird damit die Korruption verhindert, denn alles wird transparent, jeder kann nachvollziehen, woher das Geld kommt, wie die Entscheidungsprozesse laufen, wo es hin soll, wofür es ausgegeben wird und welches Ergebnis dies bringt.

Es war deshalb sehr interessant, dass eine Stadt das erste Weltsozialforum ausrichtete, die neben einer politischen auch eine wirtschaftliche Demo­kratisierung der Entschei­dungsprozesse eingeführt hatte.

 

GWR: Du warst 2001 in Porto Alegre. Welchen Eindruck und welche Ideen für Eure weitere Arbeit hast Du von dort nach Kanada zurückgebracht?

 

Dimitri Roussopoulos: Als Mitbegründer des Urban Ecology Centres of Montréal wurde ich als Delegierter dort­hin geschickt. Ich habe viele in­ternationale Treffen erlebt, aber was mich in Porto Alegre beeindruckte, war, dass das Pro­gramm des Forums in drei Abteilungen gegliedert war: ei­ne für die globalen, eine für die regionalen und eine für die lokalen Fragestellungen. Und dass die Art, wie das Treffen angelegt war, eine Dialektik zwischen diesen drei Abteilungen förderte. Ein ganzheitlicher Ansatz zu erfassen, was gerade vorgeht in der Welt und was verändert werden muss.

Das zweite, das mich besonders interessierte, war die Tatsache, dass, bevor das Weltsozialfo­rum eigentlich begann, bereits drei Tage vorher, sich Vertreter und Stadträte vieler Städte aus der verschiedenen Teilen der Welt zusammensetzten und sich konkret über ihre Probleme in der Stadt und den Stadtteilen austauschten. Das schuf die Basis für das Weltsozialforum, das sich daran anschloss.

 

GWR: Du hast Dein Anarchismusver­ständnis selbst immer auf lokale Aktionen und Einflussnahme bezogen. Siehst Du eine Verbindung und neue Chancen?

 

Dimitri Roussopoulos: Die Aktionen hatten immer mit einem lokalen Bezug zu tun. Die Gemeinschaft zu organisieren auf einer basisdemokratischen Grundlage.

Wichtig am Weltsozialforum ist z.B., dass es keine Konferenz ist, die Entscheidungen trifft oder die zum Präsentieren von Resolutionen oder Abstimmungen von Resolutionen benutzt wird. Stattdessen gab es hun­derte von Workshops zu verschiedensten Fragestellungen. Das Ziel des Forums war, es den an bestimmten Fragen interessierten Menschen zu ermöglichen mit Gleichgesinnten internationale Netzwerke aufzubauen, um Kampagnen auf lokaler, regionaler oder globaler Ebene zu initiieren. Deshalb ist der Zweck des Weltsozialforums der, dass die Menschen, die an den Workshops, den Seminaren und Vollversammlungen teilgenommen haben, in eigener Verantwortung vor Ort ihre Aktionen starten, sie mit anderen koordinieren etc. und nicht, dass die Konferenz Beschlüsse fasst, wie etwas getan werden soll oder nicht. Der ganze Prozess ist horizontal, sehr libertär, sehr anarchistisch.

Als ich nach Montréal zurückkam, war ich überzeugt, dass wir etwas machen müssen, das auf der Stadtebene der Forumsidee entsprach. Wir diskutierten im städtischen Zentrum für Ökologie mit Interessierten wie wir beginnen könnten und beschlossen, eine erste Bürgerversammlung (citizen summit) zur Zukunft der Stadt einzuberufen. Das war erfolgreich.

Wir begannen einen Prozess, in dem wir viele Menschen zusammenbrachten, die gegenseitig ihre Besorgnisse und Prioritäten austauschten, Netzwerke bildeten und lernten, wieviel Solidarität unter den verschiedenen Netzwerken zur Unterstützung möglich ist.

Das schuf eine soziale und politische Kraft in der Stadt mit Leuten, die viele Absichten und Ziele miteinander teilen. So wird angerufen, bei der oder jener Kampagne zu helfen, aber immer mit der Idee im Hintergrund, dass wir mit dem Ziel, gemeinsame Ideen voranzutreiben, in einer Stadt und ihren Stadtteilen arbeiten.

Seit dieser ersten Bürgerver­sammlung im Jahr 2001 haben wir 5 citizen summits organisiert. 2001 waren es 250 Menschen, im Jahr 2009 bei der 5. Versammlung kamen über 1000. Vertreten waren alle Stadtteile, die Gewerkschaften, alle sozialen Bewegungen über die gesamte Stadt Montréal.

Wir entwickelten als Graswur­zelidee ei­ne Vision, eine Agenda, wie wir uns die Stadt Mon­tréal vorstellen. Diese Arbeit beeinflusste den Stadtrat, im Jahr 2002, ein Jahr nach unserem ersten citizen summit organisierte die Stadt ihren eigenen offiziellen citizen summit.

Wir nahmen daran teil, um diese Versammlung zu beeinflussen. Wir beeinflussten sie auf vielfältige Weise, aber der wichtigste Punkt bestand darin, dass wir die Idee entwickelten, dass die Stadt eine eigene Charta mit Bürgerrechten erlassen soll.

1948 nahm die Versammlung der Vereinten Nationen die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte auf. Obwohl die Annahme keine gesetzliche Grundlage hatte, sondern nicht viel mehr als ein ethischer Anspruch war, hat sich der Gedankengang seither in vielen Teilen der Welt durchgesetzt. Heute sprechen wir oft selbstverständlich von den allgemeinen Menschenrechten und denken dabei oft, dass sie schon immer anerkannt und gegolten haben, aber sie sind in Wahrheit gerade mal etwas mehr als 60 Jahre Konsens.

Und es ist gerade mal ungefähr 15 Jahre her, dass in Europa, ausgehend von Barcelona, eine Anzahl von Städten sogenannte Städte-Chartas annahmen, in denen die Bürgerrechte festge­halten werden. So dass die Bewegung für Bürgerrechte in der Stadt (bisher waren Bürgerrechte an den Staat geknüpft) zu wachsen begann, und damit auch die Frage, welchen Stellenwert habe ich in der Stadt?

Nach der Versammlung 2002 akzeptierte die Stadt Montréal die Vorbereitung einer Stadt-Charta für die Bürgerrechte und Bürgerpflichten. Ich wurde als Leiter in die ehrenamtliche Gruppe gewählt, diese Charta inhaltlich auszugestalten.

Diese Arbeit dauerte zwei bis drei Jahre und wurde anschließend vom Stadtrat und vom Bürgermeister akzeptiert.

Inzwischen hat die UNESCO und die Abteilung der UN, die für Wohnen und Städte verantwortlich zeichnet, diese Mon­tréal-Charta als wichtiges demokratisches Werkzeug bezeichnet auf dem Weg zu einer Demokratisierung der Städte.

In dieser Charta ist besonders der Paragraf 16h wichtig, der Auskunft über das Bürgerrecht gibt, initiativ zu werden.

Das bedeutet, das Recht und die Verantwortung der Bür­gerInnen zu intervenieren, neue öffentliche politische Initiativen in Gang zu bringen, ohne auf die PolitikerInnen oder Wahlen warten zu müssen.

So wurde Ende 2011 z.B. dieser Paragraf durch eine soziale Bewegung genutzt, die das Ziel verfolgt, Landwirtschaft in die Stadt zu bringen, also wie können Lebensmittel in der Stadt angebaut werden?

Auf Dächern, Balkonen, Grünflächen, ganz konkret um Gemüse anzubauen, Tiere zu halten etc. Das Programm wird nun im Frühjahr 2012 auf einer großen öffentlichen Versammlung diskutiert und entschieden werden müssen.

 

GWR: Wie hat es funktioniert? Wieviele Menschen mussten sich hinter diese Forderung stellen? Gibt es ein Quorum für die Stadt oder die Stadtteile?

 

Dimitri Roussopoulos: Um diesen Antrag durchzubringen musste die Initiativgruppe 15.000 UnterzeichnerInnen sammeln und die soziale Bewegung, die diesen Antrag einbrachte, sammelte in 2,5 Monaten 29.000 Unterschriften, ein großer Erfolg und damit eine große Mobilisierung, die die Forderung stellt, wir wollen über unsere Stadtteile selbst entscheiden und überlassen es nicht nur dem Stadtrat.

 

GWR: Spielt Montréal eine Ausnah­merolle in Kanada?

 

Dimitri Roussopoulos: Nein, wir haben politische Verbindungen zu anderen Städten mit ähnlicher Entwicklung, zu Toronto, Vancouver, Ottawa und wir kennen ähnliche Initiativen in anderen Städten.

Diese Entwicklung ist wichtig, denn seit den 60er, 70er und 80er Jahren ist es deutlich geworden, dass die Regierungen von Nationalstaaten aus verschiedensten Gründen nicht wirklich in der Lage sind, Antworten auf die Umweltkrise zu finden. Viele internationale Verträge wurden diskutiert, viele unterschrieben, speziell gegen Ende der 80er, aber die Krise dauert an. So wird die Vorstellung einer städtischen Ökologie und ökologischen Praxis immer stärker diskutiert mit Verbindungen zur Theorie der Sozialen Ökologie.

Der Vorteil besteht gerade da­rin, dass man auf der Stadtebe­ne viele praktische Dinge umsetzen und damit zeigen kann, dass es einen besseren Weg zu leben gibt, dass eine bessere Lebensqualität möglich ist.

Konkret wird es beim Wohnen, beim öffentlichen Verkehr, bei der Umweltverschmutzung, bei der städtischen Landwirtschaft etc. und dabei entsteht das Bewusstsein, wir haben die Graswurzelbewegung, wir haben die Mobilisierung, dann können wir bestimmte wichtige Dinge verändern.

 

GWR: Ähnliches haben wir auf der Konferenz über Soziale Ökologie in Lissabon im August 1998 diskutiert, als sich 125 Libertäre aus 44 Städten zusammensetzen, um herauszufinden, wie sich libertär kom­munalistische Praxisansätze in den verschiedenen Städten voranbringen lassen.

 

Dimitri Roussopoulos: Ja, gehen wir in der Geschichte etwas zurück: Es ist wichtig, dass man zu sozialen Bewegungen in anderen Städten Kontakt hält, deshalb habe ich da­mals einigen Leuten vorgeschlagen, eine internationale Konferenz über libertären Kom­munalismus abzuhalten, mit der Aufgabenstellung, wie können wir in den Städten ein neues Bewusstsein, eine neue Politik initiieren, um die Städte zu verändern. Wir haben dann eine erste Konferenz, praktisch organisiert von den portugiesischen AnarchistInnen, in Lissabon durchgeführt, mit Teilnehmern, die davon ausgingen, dass die Soziale Ökologie Ansatzpunkte für eine neue Bewegung schaffen kann. Die Konferenz war ein Anfang, begrenzt aber gut und wir wollten das fortführen mit neuen Netzwerken. Aber nach diesem interessanten Auftakt ging es dann nicht erfolgreich weiter und war nicht lebensfähig.

 

GWR: Warum wurde damals Portugal ausgewählt?

 

Dimitri Roussopoulos: 1974 gab es die Nelkenrevo­lution in Portugal, in der die Dik­tatur Salazar abgeschafft wurde. In dieser Revolution wurden viele Formen der Kollektivierung neu belebt, sowohl in der Landwirtschaft wie im Stadtleben. Es wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die den Staat dezentralisierte.

Eine Situation, die den Anar­chistInnen viele Einflussmög­lichkeiten gab und die wiederum viele brasilianische ExilantIn­nen in Portugal beeinflusste, die vor der brasilianischen Diktatur aufgrund der gemeinsamen Sprache nach Portugal geflohen waren. Diese revolutionären Erfahrungen beeinflussten Brasilien. Als die Demokratie nach Brasilien zurückkehrte, wurde mit der neuen brasilianischen Verfassung, die wohl am meisten dezentralisierte Verfassung der Welt geschaffen. Eine wichtige Voraussetzung für die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Städte in Brasilien. Daraus entwickelte sich die Idee des „participatory budget“ in Porto Alegre.

Der Prozess, der sich dort entwickelte, beeinflusste wiede­rum den Prozess des Weltso­zialforums. In der Verfahrensweise läuft das auf libertäre Weise und sollte von all denen genau angesehen werden, die Politik von unten auf gegen das von oben herab organisieren wollen.

 

Der zweite Teil des Interviews von Wolfgang Haug mit Dimitri Roussopoulos erscheint im Mai 2012 in der Graswurzelrevolution Nr. 369

 

 

 

Anmerkungen:

 1 Black Rose publiziert seit über 40 Jahren Bücher u.a. zum Anarchismus und zu sozialen Bewegungen. Zu den AutorInnen zählen u.a. George Woodcock, Sam Dolgoff, Noam Chomsky, Edward Herman, Janet Biehl und Murray Bookchin. Von den Klassikern wurde u.a Peter Kropotkin verlegt. Einen Schwerpunkt der Verlagsarbeit bilden die Veröffentlichungen zu „urban issues“, in denen u.a. Dimitri Roussopoulos Beiträge veröffentlichte, um die Stadt zu einem öffentlichen Platz zu machen. Bücher wie „City and Radical Social Change“ oder „Public Place“ haben den Boden vorbereitet, dessen Saat 2011 vielerorts aufging.

 2 Siehe: Ein wahres Fest des Widerstands. Die Blockade der WTO in Seattle, Artikel von Vivien Sharples, in: GWR 245, Januar 2000, www.graswurzel.net/245/wto.shtml

 3 Anm. W.H.: vgl. z.B. Die Revolution der Städte, übers. v. Ulrike Roeckl, List, München 1972, Nachdruck Hain, Frankfurt a.M. 1990, Neuausgabe: Berlin: b_books, 2003

 4 www.blackrosebooks.net

 

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 368. 41. Jahrgang, April 2012, www.graswurzel.net