Empören, Okkupieren, Verweigern

Sabotage im Alltag II (1)

Warum ist es – vor allem in Deutschland – so ruhig? Wo bleiben die Proteste? Jahrelang staunten Linke, SoziologInnen und auch PolitikerInnen über die erstaunliche Akzeptanz der Krisenfolgen und Sparpakete. Lange Zeit galten neidische Blicke der Gewerkschaftslinken zum westlichen Nachbarn: „Französisch lernen!“. Eher autonome Herzen ließen die griechischen Krisen-Proteste höher schlagen. Und immer wieder die frustrierte Frage: Warum nicht bei uns? Geht es „uns“ (noch) zu gut?

 

Und dann ging es Schlag auf Schlag: Die Aufstände in der arabischen Welt Ende 2010 / Anfang 2011 mit ihren teilweise revolutionären und unerwarteten Erfolgen, ihre Inspiration für eine Bewegung der Empörten in Spanien, Italien und Portugal sowie sie schließlich fast weltweit verstärkendes Aufgreifen durch eine Occupy-Bewegung zunächst an der Wall Street.

Dieses Strohfeuer ging erstaunlich schnell um die Welt (z.B. Chile und Israel) und war stark genug, um auch einige in Deutschland zu entflammen!

 

Und oh Wunder:

Diese Proteste werden teilweise von Medien wie Politik umgarnt. Denn die Kritik an der Entdemokratisierung durch den Vorrang der Finanzpolitik und an der Macht der Banken ist weit verbreitet und wird momentan (noch?) gern populistisch aufgegriffen. Natürlich freut sich die Politik, wenn die Kritik sich auf Unternehmen fokussiert, die nichts anderes tun als ihr Geschäft.

Die Proteste werden aber auch brutal zerschlagen, sobald sie sich als dauerhaft erweisen oder in die Praxis, z.B. des Widerstandes gegen Hausräumun­gen und Streiks, übergehen (Oakland, Madrid, Portland, Los Angeles, Philadelphia, New York, Washington…) – auch auf die Gefahr ihrer Radikalisie­rung.

Langfristig okkupieren und im­mer wieder im Konsens die im­mer wiederkehrenden Entscheidungen ausdiskutieren können allerdings nur die, die wirklich nichts zu verlieren haben. So überrascht es nicht, wenn die Camps – unabhängig von der Wetterlage – auf Erwerbslose und Studierende schrumpfen. Wer noch einen Job hat, kommt eventuell nach Feierabend oder am Wochenende – aber kaum auf die Idee, basisdemokratische Erfahrungen oder menschenrechtliche Forderungen in den betrieblichen oder schulischen Alltag zu tragen.

Okkupieren bedeutet auch bewahren bzw. verteidigen, und oft geht es in der Tat lediglich darum, nie eingelöste Versprechen einer (kapitalistischen!) „sozialen Marktwirtschaft“ gegen einen „entfesselten“ Kapitalismus einzufordern, ihn zu humanisieren. Beklagt wird z.B. nicht honorierte Leistungsbe­reitschaft – und nicht der Leistungsdruck. Oder die ungerechten Wettbewerbsbeding­ungen – und nicht der Wettbewerb, der Konkurrenzzwang an sich. Wie spalterisch verletztes Gerechtigkeitsempfinden wirken kann, hat sich aber bereits an der Hartz-Bewegung gezeigt. (2).

Bereits 2005 galt: „Als die größte Klippe für wirksame einheitliche Proteste und den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze hat sich die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsi­cherung erwiesen. Dies gilt für die Ge­werkschaftsbürokratie glei­chermaßen wie für die meisten der (noch?) beschäftigten wie erwerbslosen Lohnabhängigen selbst.“ (3)

 

Allerdings:

Nach Jahrzehnten der Entpo­litisierung ist es zynisch, den historischen Analphabetismus der Bewegung zu kritisieren – werden wir doch in fast allen Lebensbereichen in das Mittelalter zurück geworfen!

Und immerhin hat sie geschafft, dass nun breiter geredet wird über einen klar antikapitalistischen Ansatz, der bisher relativ kleinen Zirkeln vorbehalten war: Die Debatte über eine soziale Infrastruktur, die allen, nicht nur den Reichen, zur Verfügung steht.

Die Forderung nach Commons (Gemeingütern) geht weit über eine Ent-Privatisierung hinaus und zielt auf eine erstmalige so­ziale Infrastruktur aus Waren und Dienstleistungen, die alle brauchen und die allen zustehen – unabhängig von ihrer Leistung im kapitalistischen System. (4)

Diese Bedingungslosigkeit solcher sozialen Rechte richtet sich damit direkt gegen den kapitalistischen Verwertungszwang, der ihnen entgegensteht.

So lange aber der kapitalistische Verwertungszwang akzeptiert, nicht in Frage gestellt wird, kann es keine echte Demokratie, keine Gemeingüter, keine Gerechtigkeit geben. So lange bleiben Staaten, Kommunen, Menschen erpressbar. So lange werden nämlich Verwer­tungskriterien darüber bestimmen, welche Produkte wie hergestellt werden, welche Dienstleistungen es gibt und für wen, welche Menschen „wertvoll“ sind und welche „überflüssig“. Es zählen weder Menschenrechte noch Gerechtigkeit, weder Mitgefühl noch Charakter. Jeder Versuch der Humanisie­rung des kapitalistischen Systems endet an den Grenzen der Verwertbarkeit. Wer diese vorgeblichen Sachzwänge und Sparzwänge akzeptierte und im­mer noch akzeptiert, kann nun nicht anders als moralisch anzuprangern, verarscht worden zu sein – und sich weiterhin verarschen zu lassen.

Anstatt immer noch die Realwirtschaft undifferenziert und maßlos gegenüber dem „fiktiven Kapital“ über zu bewerten, sollte diese lieber einer ebenso strengen Analyse unterzogen werden wie nun (angeblich) das Finanzsystem.

Zur Realwirtschaft gehören die tägliche Überausbeutung, krankmachende Arbeitsbedin­gungen und Erniedrigung – egal, ob es sich dabei um Autos, Rüstungsgüter oder Sozialschnüffler handelt. Die einzige Realwirtschaft, um deren Erhalt wir uns sorgen müssten, existiert kaum bis gar nicht: international gerechte, humane und ökologische Herstellung von Produkten und Dienstleistungen, die wir brauchen, um unsere tägliche Not zu stillen und gemeinsam Spaß zu haben.

Ohne Rücksicht auf Sachzwänge des ausbeuterischen Systems, ohne Rücksicht auf die Finanzierbarkeit, ohne den Umweg über die zuerst in Form der Binnennachfrage zu rettende „Realwirtschaft“, die tagtäglich dafür sorgt, dass unsere Not eben nicht gelindert wird.

Menschen brauchen Güter und Infrastruktur, sie brauchen weder Geld noch Lohnarbeit, noch eine „Realwirtschaft“, die sich um diese Bedürfnisse nicht kümmert, und keine Produktionsweise, die diesen Bedürfnissen entgegensteht. Daher reicht es nicht aus, die Plätze vor den Banken zu okkupieren.

Okkupieren bedeutet auch besetzen. So verständlich es auch ist, wenn sich die „Überflüssigen“ und „Unsichtbaren“ öffentliche Plätze wiederaneig­nen und sich damit zugleich sichtbar machen, so begrenzt und symptomatisch ist diese Symbolik zugleich. Wollen wir wirklich die Banken besetzen und besitzen? Sollten wir nicht lieber das besetzen und besitzen, was wir wirklich brauchen?

Sind Zelte im Kalten unser Traum vom schöner Wohnen?

Zwangsräumungen bei massenhaftem Leerstand? Die spanische Bewegung zieht bereits von den Plätzen in leer stehende Häuser und die US-ameri­kanische mischt sich immer mehr gegen Hauspfändungen und in Streiks ein. Damit legen sie die Unterwürfigkeit enttäu­schter Hoffnungen ab und setzen die Ablehnung des Bestehenden aktiv um.

Wahrer und offensiver Ungehorsam muss jedoch darüber hinaus den Konkurrenz- und Verwertungszwängen als Basis der Systemfehler gelten.

Die Macht des Kapitalismus über Produktion wie Konsum, die Ökonomisierung unserer Gefühle und Bedürfnisse, unserer Kommunikation und zwischenmenschlichen Beziehungen muss gebrochen werden, und zwar nicht nur auf den Plätzen, auch im Alltagshandeln.

Jede noch so kleine Konformitäts- und Wettbewerbsverwei­gerung, jede geübte Solidarität mit den Schwachen und Unterdrückten – am besten natürlich kollektiv – kann zum ersten Schritt jenseits dieses inhumanen und ohne Akzeptanz und Mitmachen bankrotten Systems führen. (5)

 

Was heißt es konkret?

Wünschenswert ist eine Pro­testbewegung der echten 99% (mir würden auch 70% reichen!), die – ausgehend von der auf den Plätzen geübten Selbstorganisierung – diejenigen Institutionen okkupiert, die wirklich gesellschaftlich sinnvoll sind. Die Nahverkehr, Schulen, Krankenhäuser nicht nur entprivatisiert, sondern auch erstmalig demokratisiert.

Noch wünschenswerter – und für eine echte und nicht nur kosmetische Humanisierung der Gesellschaft unabdingbar – wäre jede Form der Konformitäts- und Wettbewerbsverwei­gerung, die von den Plätzen in den schulischen und beruflichen Alltag einsickert.

Jedes Alltagshandeln, vom Grüßen des Busfahrers über Boykott weihnachtlicher Erdbeeren bis zur Verweigerung der Sanktionen durch Arge-Arbei­terInnen, sollte auf ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz abgeklopft werden. Wem nützt dieser Arbeitsauftrag? Welche Folgen hat er für die Gesellschaft, die Umwelt? Mit wem muss ich konkurrieren? Muss ich in Konkurrenz treten? Die Arbeitsverträge werden immer ungenauer und ihr ungeschriebener Anteil immer größer.

Dies soll unsere Flexibilität und Ausbeutbarkeit steigern, eröffnet aber andererseits ungeahnte Verweigerungspotenziale – wenn wir uns absprechen und solidarisieren.

Der Kapitalismus ist per se ein ungeschriebener Vertrag, der tagtäglich von uns unterschrieben wird. Und dies im erstaunlich großen Teil unnötig und unbezahlt.

 

Ein Traum

Ein Traum, mein Traum, ist die massenhafte Okkupation einer sozialen Infrastruktur, denn auch Gemeingüter sind Rechte, die wir nicht erbetteln können, sondern uns nehmen müssen. Ein Traum, mein Traum, ist die massenhafte und tagtägliche Erprobung eines gesellschaftlichen Handelns jenseits ökonomischer Sachzwänge und individualistischer Konkurrenz. Jetzt. Denn nur wer an die Grenzen des systemisch Erlaubten geht und sich an ihnen reibt, weiß, was sich zu besetzen lohnt.

 

Mag Wompel

 

Mag Wompel ist Labournet-Redakteurin.

Kontakt: www.labournet.de

 

Anmerkungen: Dieser Beitrag versteht sich als eine Aktua­lisierung von: Wompel, M. (2009): Sabotage im Alltag! Plädoyer für antizyklische, aber alltägliche Blockade der Unternehmens- und Wirt­schaftsziele. In: Graswurzelrevolution Nr. 338, April 2009

2. Wompel, M. (2006): Vom Protest zur Revolte? In: Klassen + Kämpfe. Hrsg. Von der jour fixe initiative Berlin, Unrast-Verlag Münster, Mai 2006, ISBN 3-89771-438-8, S. 167-174

3. Wompel, M. (2005): Alltagswiderstand und Verweigerung. Perspektiven der Proteste gegen das Verarmungsprogramm der Bundesregierung. In Graswurzelrevolution Nr. 296, Februar 2005

4. Wompel, M. (2009): Globale Soziale Rechte als Alternative zum Kampf um jeden Arbeitsplatz in RosaLux 2/2009, S. 22-24 (9.000)

5. Siehe dazu auch Wompel, M. (2011): Wut ist nicht alles – Empörung auch nicht… In: Direkte Aktion vom Sept./Okt. 2011

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 365, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 41. Jahrgang, Januar 2012, www.graswurzel.net