wir sahen uns nicht als dissidenten, sondern als revolutionäre

Hans-Christian Ströbele zu Dissidenz und antiautoritäre Politik

prager frühling: Herr Ströbele, würden Sie sich als dissident zu den gesellschaftlichen Verhältnissen verstehen?

Hans-Christian Ströbele: Mit Ihrer Frage kann ich wenig anfangen. Ich sehe mich nicht als Dissident. „Dissident“ ist eine Bezeichnung von Kritikern aus dem Bereich des „realen Sozialismus“ sowjetischer Prägung, übersetzt ins Deutsche als „Abweichler“. Vermutlich wurde sie von Nicht-Abweichlern erfunden und benutzt.

pf: Aber es wäre doch korrekt, Sie als antiautoritären Linken zu beschreiben. Ist Abweichung nicht grundsätzlich eine notwendige Praxis, um gegen vermachtete, autoritäre, gesellschaftliche Verhältnisse zu opponieren? 1968 scheint mir das ganz gut geklappt zu haben.

Ströbele: Na ja, „antiautoritär“ stimmt und „Linker“ auch. Jedenfalls sage ich seit 1990, als sich kaum noch jemand traute, sich als „links“ zu bezeichnen, immer wieder laut und geradezu impertinent, dass ich ein Linker bin. Vorher habe ich das nicht getan. Und seither trage ich ostentativ den roten Schal.
Abweichler wäre für uns 1968 eine Untertreibung gewesen. Wir haben uns als Revolutionäre verstanden. Das war viel mehr und radikaler als nur Abweichung von den autoritären vermachteten Verhältnissen. Schließlich ging es auch um die Unterstützung von Befreiungsbewegungen nicht nur im Vietnamkrieg, sondern auch in Afrika und Lateinamerika.

pf: Heute gilt man als Idealist oder Utopistin, wenn man sich keine realistischen Ziele setzt. Aber hat die 1968er-Bewegung nicht durch ihre Radikalität viel erreicht?

Ströbele:
Die Zielsetzung ist noch nichts Abstraktes, sondern hängt von der gesellschaftlichen Situation ab, in der man sich Ziele setzt. Und die war in den sechziger Jahren anders als heute. Wir hatten ganz konkret die Erfahrung gemacht, dass mit weniger Radikalität, die notwendigen Veränderungen nicht erreicht wurden. Radikalität ist notwendig, wenn die gesellschaftlichen Verhälnisse radikal verändert werden müssen und nicht wenn man sich abstrakt für Radikalität entscheidet.

pf: Aber war es 1968 einfacher als heute, sich abweichend zu verhalten und mit emanzipatorischen Ideen wahrgenommen zu werden.

Ströbele: Einfach war es auch in den 1960er Jahren nicht. Die damalige Gesellschaft hat es uns doch nicht leicht gemacht! Aber wir waren überzeugt und solidarisch. Das war unsere Stärke. Heute ist es anders, ob schwerer, hängt von uns ab. Die Verhältnisse scheinen nur komplizierter und komplexer. Was fehlt, sind vielleicht konkrete Utopien sowie theoretischer Unterbau und Bildung.

pf: Sie sagen, es würden konkrete Utopien und Konzepte fehlen. Lag die Radikalität früher nicht auch darin, dass Menschen begonnen haben, anders zu leben, z. B. in WGs oder offen homosexuell? Brauchen wir wieder eine Radikalität in der Lebenspraxis?

Ströbele: Menschen hatten begonnen, anders zu leben, weil auch die privaten Lebensverhältnisse dringend geändert werden mussten. Nicht nur unter den Talaren hatte sich der Muff von tausend Jahren festgesetzt, sondern auch in Familien, Schulen, Kirchen, Mietwohnungen und privaten Beziehungen, eben in der ganzen bürgerlichen Moral. Die Lebenspraxis muss wie die Autoritäten immer hinterfragt, wenn nötig, verändert werden. Selbstverständlich auch heute.

pf: Haben Sie konkrete Beispiele?

Ströbele: Autoritäten, die hinterfragt werden können und sollen, sind doch überall. In Familien, in der Schule oder Uni, am Arbeitsplatz und im Jobcenter, aber auch in den Parteien und der Politik. Zum Beispiel die wiederentdeckten soldatischen Tugenden, Rituale und Traditionen haben es bitter notwendig, heftig hinterfragt zu werden. Seit der Krieg in Afghanistan auch offiziell ein Krieg ist, muss auch die Heimatfront stehen. Da stören Zahlen über eine andere Meinungsmehrheit in der Bevölkerung. Angesagt ist, unseren Jungs im Feld den Rücken zu stärken. Immer mehr Medienberichte tun schon ihr Bestes mit Homestorys aus dem Soldatenleben. Der Weihnachtsausflug des Verteidigungsministers mit Gattin zur Talkshow ins Kriegsgebiet war ein vorläufiger Höhepunkt.
Nicht nur in der christlichen Leitkultur — was immer damit im Einzelnen konkret gemeint sein soll — finden sich genug Lebensweisen, die es wert sind, in Frage gestellt zu werden. Auch Lebensweisen mit entgrenztem Konsumverhalten auf Kosten anderer, der Umwelt und der eigenen Gesundheit gehören dazu.

pf: Politik zielt ja darauf, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verändern. Wo sehen sie konkrete Ansatzpunkte, wie Politik autoritäre Elemente zurückdrängen oder beseitigen könnte?

Ströbele: Unangepasstes Verhalten und Widerstand sind heute viel verbreiteter als in den sechziger Jahren. Beispiele sind nachhaltige Proteste wie in Heiligendamm, in Stuttgart, in Gorleben oder gegen das Bombodrom, aber auch kleinere Gruppen gegen den Anbau von genveränderten Pflanzen oder für den Tierschutz. Scotland Yard weiß schon, warum es einen Agenten in eine Tierschutzgruppe in England eingeschleust hat. Wer mal länger im Protest oder Widerstand aktiv ist, trägt dazu bei, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verändern und autoritäre Elemente zurückzudrängen. Häufig mehr als die, welche in Politik und Parteien über Ideologien und Autoritäten streiten und diese vielleicht sogar in Frage stellen, dabei aber das Handeln für die konkrete Veränderung der Realitäten aus den Augen verlieren.

pf: Bei den aktuellen Protesten zeigt sich, dass die Form zivilen Ungehorsams radikaler wird. Aktionen wie „Castor Schottern“ oder Sitzblockaden negieren gesellschaftliche Regeln. Sehen Sie diese Entwicklung nur positiv oder gibt es auch Gefahren für die Entscheidungsfähigkeit demokratischer Institutionen?

Ströbele: Ihre Bewertung der genannten Proteste und deren Entwicklung teile ich nicht. Wenn ich richtig informiert bin, wurden die Maßnahmen der Polizei in Stuttgart radikaler, nicht die Proteste der Demonstranten. Auch die schlimmen Verletzungen habe ich in den Reihen der Demonstranten gesehen. Und warum so zaghaft? Sitzblockaden sind doch begrenzte Regelverletzungen, die schon seit Jahrzehnten zu den Formen gehörten, die etwa von den Protestierenden der achtziger Jahre gegen die Raketenstationierung oder Atomkraftwerke praktiziert wurden. Sie sind von Gerichten als legitim bewertet worden. Die Polizei richtet sich seither immer mehr auch auf angemessenes friedliches Wegtragen ein. Im Übrigen kommt es bei Großdemonstrationen mit Zehntausenden von Teilnehmern am Rande immer mal zu provokativem Verhalten, das keine Rückschlüsse auf den generellen Charakter solcher Demonstrationen zulässt. Auch deshalb nicht, weil es immer wieder Indizien dafür gibt, dass an solchen Provokationen auch verdeckte Ermittler beteiligt sind. Ich bin derzeit mit Ermittlungen dazu befasst, dass bei Demonstrationen in Heiligendamm und Berlin ein Mitarbeiter von Scotland Yard beteiligt gewesen sein soll, der in oppositionelle Gruppen in England eingeschleust wurde, aber häufig auch in Deutschland sein Unwesen getrieben haben soll. Die Entwicklung zu größeren Bürgerprotesten sehe ich positiv und als wichtiges Korrektiv und willkommene Ergänzung von Entscheidungen „demokratischer Institutionen“. Demonstrationen und Meinungsäußerungen auf Straßen und Plätzen sind selbst demokratische Institutionen — sogar mit Verfassungsrang. So sieht dies auch das Bundesverfassungsgericht.

Das Interview führte Thomas Lohmeier