Rede von Naho Dietrich-Nemoto aus Fukushima, gehalten am 28. Mai 2011
Am 28. Mai 2011 haben bundesweit über 160.000 Menschen in 21 Städten der Bundesrepublik für die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen demonstriert. Wir dokumentieren die bewegende Rede von Naho Dietrich-Nemoto aus Fukushima, die sie an diesem Tag vor 8.000 TeilnehmerInnen der Anti-Atom-Demo in Münster gehalten hat. (GWR-Red.)
Am 12. April hat die Atomsicherheitskommission von Japan verkündet, dass der größte anzunehmende Unfall in Fukushima eingetreten ist. Bis heute habe ich diesen Schock nicht überwunden. Mein Kopf war total leer. Mein Herz ist wie von schwarzem Teer gefüllt. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass meiner Heimat das Schlimmstmögliche passiert ist. Wenn ich daran denke, dass so viel Strahlung meine Heimat belastet, dann bleibt mein Herz fast stehen.
In diesem Moment wollte ich die Stimme meiner Mutter hören. Obwohl ich nicht wusste, was ich sagen soll, rief ich sie an. Meine Mutter hat mich gefragt: „Wie geht es dir? Wie ist das Wetter in Münster?"
Es war ein schöner Frühlingstag mit blauem Himmel, blühenden Blumen und warmem Licht.
Meine Mutter sagte: „Mach Dir keine Sorgen. Sei glücklich in Münster. Lass dein Kind viel draußen spielen. Sei nicht traurig in Deutschland. Lache bitte." Ich konnte nichts sagen. Meine Mutter hatte die Nachrichten bestimmt auch gehört. Wie viel Angst musste sie in diesem Moment haben? Wenn ich daran denke, wie sie fühlt, will ich sie sofort sehen. Wenn ich könnte, wollte ich jetzt bei meiner Familie sein und sie umarmen. Meine Schwester hat mir geschrieben: „Nach dem, was passiert ist, könnt ihr nicht mehr nach Fukushima kommen." Da musste ich weinen. Ich wusste nicht, was ich antworten soll. Jetzt ist in Fukushima heißer Sommer, manchmal über 40 Grad. Aber die Menschen wagen es nicht, die Fenster zu öffnen. Fukushima hat eine reiche Natur, dort konnte man wandern und draußen zelten. Auf den Bergen ist es kühler. Es gibt viele Flüsse, die dem Berg entspringen. Entlang diesen bin ich früher oft gewandert. Am meisten habe ich mich immer auf das große Sommerfestival gefreut. Zwei Stunden lang ist dann der Himmel mit Feuerwerk und Musik erfüllt. Das war wunderbar. An vielen Orten dürfen Kinder heute nicht länger als eine Stunde am Tag im Freien spielen. Sagt mir bitte, wann kann ich wieder in meine Heimat gehen ohne tiefe Furcht in mir. Wann kann ich wieder die Natur meiner Heimat von Herzen genießen? Wie viele Jahre muss ich warten? Bitte, sage es mir jemand! Die Menschen in Fukushima sind tief verletzt wegen der Diskriminierung in Folge der Reaktorkatastrophe. Enge Freunde von mir in Fukushima erzählten: Ein Schüler ging mit einer Tasche, auf der Fukushima Highschool stand, nach Tokyo. Dort haben andere Jugendliche ihn beschimpft: „Komm nicht nach Tokyo. Infizier uns nicht mit Radioaktivität."
Eine Zeitung aus Fukushima berichtete: „Ein Mann aus Fukushima ist wegen seiner Arbeit nach Shizuoka Präfektur gefahren und wollte tanken. An der Tankstelle hing ein Schild: ‚Wir lehnen Leute aus Fukushima ab'." Anderen wurde die Bedienung in Restaurants und Hotels verweigert. Auch das ist die traurige Realität. Nach der Katastrophe hatte ich das Gefühl, dass viele Japaner die Situation einfach akzeptieren. Aber ich fühle jetzt, dass sich nach und nach das Denken der Menschen in Japan ändert. Sie glauben nicht mehr einfach, was die Regierung und Atomkraft-Firmen sagen. Sie hinterfragen und versuchen, sich selbst zu schützen. Bei einer Debatte mit Politikern am 2. Mai brachte eine Frau stark verstrahlte Erde aus einer Grundschule in Fukushima City. Ein Verantwortlicher ignorierte weiter die Gefahr des täglichen Lebens für die Kinder dort. Daraufhin schrie die Frau: „Wenn Ihr sagt, die Situation in Fukushima City ist sicher, dann leckt diese Erde." Am 7. Mai gab es in Shibuya Tokyo eine Demonstration mit 15.000 Menschen. Und endlich, am 10. Mai, hat der Premierminister von Japan gesagt, dass es in der Energiepolitik ein Umdenken geben wird. Alle Pläne für neue Atomkraftwerke wurden gestoppt. Erneuerbare Energien werden ein wichtiger Teil sein. Ein Ziel ist es auch, dass die Menschen weniger Energie verbrauchen.
Endlich wacht Japan auf!
Ich fühle etwas Hoffnung für die Zukunft Japans. Aber wieso musste dafür erst diese Katastrophe passieren? Meine Heimat ist verstrahlt. Solch eine Katastrophe kann überall auf der Welt passieren. Deswegen bin ich heute hier. Ich möchte, dass alle Menschen diese Gefahr erkennen und jetzt handeln, bevor es eine weitere Katastrophe gibt.
Ich bitte Deutschland, alle Reaktoren jetzt abzuschalten und der ganzen Welt zu beweisen, dass es auch ohne Atomkraft geht. Japan und viele andere Länder werden dem Beispiel folgen. Es gibt keinen anderen Weg, um unsere Heimat zu schützen.
Naho Dietrich-Nemoto
Naho Dietrich Nemotos Rede vom 28.5.2011 als Filmdokument:
www.youtube.com/watch?v=_KY3BzTYNZw
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 360, 40. Jahrgang, Sommer 2011, www.graswurzel.net