Zur Ruhe besteht kein Anlass
Vor sechs Monaten begann im japanischen Fukushima ein Super-GAU. Wenn wir die Medienberichterstattung zu dieser Atomkatastrophe analysieren, müssen wir feststellen, dass das Thema kaum noch präsent ist. Dabei ist offensichtlich, dass die Kernschmelze, die seit März 2011 in mindestens drei Fukushima Reaktoren stattfindet, keineswegs gestoppt ist.
Am 3. August 2011 berichtete die taz unter dem Titel „Strahlenrekord in Fukushima", dass die Betreiber der japanischen Unglücksreaktoren die höchste Radioaktivität seit der AKW-Havarie im März gemessen haben: „Die Messgeräte geraten an ihre Grenzen. In unmittelbarer Nähe droht nach wenigen Minuten der Tod." Mehr als 10.000 Millisievert (zehn Sievert) pro Stunde betrug demnach die Strahlung am Boden eines Abzugsrohrs zwischen den Reaktoren 1 und 2, wie die Agentur Jiji Press meldete.Bei einer Strahlendosis von zehn Sievert pro Stunde beträgt die Dosis pro Sekunde 2,78 Millisievert. In Deutschland ist der Grenzwert, dem die Bevölkerung zusätzlich zur natürlichen Grundstrahlung ausgesetzt sein darf, bei 1 Millisievert festgelegt - pro Jahr. Die Strahlungsdosis in Fukushima ist also bereits nach einer Sekunde fast drei Mal so hoch wie der hierzulande zulässige Jahreshöchstwert.
In Fukushima war der bisherige Rekordwert am 3. Juni im Inneren des zerstörten Reaktors Fukushima 1 gemessen worden. Er betrug damals zwischen drei und vier Sievert (1) pro Stunde. „Die tatsächlichen Werte könnten sogar noch deutlich höher liegen - doch höhere Werte als 10.000 Millisievert pro Stunde können die von Tepco eingesetzten Messgeräte nicht darstellen", konstatiert Georg Blume in der taz.
Angesichts der Atomkatastrophe hatte die japanische Regierung die zulässige Höchstgrenze für ArbeiterInnen in einem AKW von 100 auf 250 Millisievert angehoben. „Wer ungeschützt arbeitet, muss mit seinem Tod rechnen", so der Atomingenieur Tetsuji Imanaka.
Und es ist zu befürchten, dass in Zukunft noch sehr viele Menschen an den Folgen der radioaktiven Strahlung sterben werden. Trotz Tschernobyl und Fukushima sind weltweit immer noch 210 Atomkraftwerke mit 442 Reaktorblöcken am Netz (2), in denen weitere Super-GAUs stattfinden können. In vielen Ländern der Welt plant die internationale Atommafia den Bau neuer Atomkraftwerke.
Ein Blick über den Tellerrand
Was wie ein Witz klingt, ist bittere Realsatire: In einem Stahlzylinder von 100 Meter Länge und 15 Meter Durchmesser will der französische DCNS-Konzern bald neue Atommeiler unter Wasser platzieren. Die Unterwasser-AKW wären damit zehnmal kleiner als herkömmliche Atomkraftwerke auf dem Land. Sie würden 50 bis 200 Megawatt Strom liefern. Das Projekt mit dem Namen Flexblue sieht vor, dass in den nächsten 20 Jahren 200 kleine Atomkraftwerke unter Wasser gebaut werden sollen. Das erste soll im Jahr 2017 in Cherbourg in der Normandie entstehen. Didier Anger vom Anti-Atom-Netzwerk „Sortir du nucléaire" hält das Projekt für „irre", denn das Wasser leite die Radioaktivität schneller als die Luft.
Weißrussland, Russland, England, viele Länder setzen auf den weiteren Ausbau neuer AKWs. Darunter auch die Türkei, Chile und Brasilien, die in Erdbebengebieten neue AKWs bauen wollen.
In China sind derzeit 13 atomare Atomanlagen am Netz, 27 weitere befinden sich im Bau. Nach Angaben der Atomlobby-Organisation World Nuclear Association (WNA) sind 159 weitere Atomanlagen in den kommenden Jahrzehnten geplant. Auch nach Fukushima hält die chinesische Regierung ungebrochen an ihren Ausbauprogramm fest, so „heise online" am 6. Juli 2011.
Und in Deutschland? Hier wirkt mittlerweile der von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen bejubelte „Atomausstieg bis 2022" bei vielen Menschen als bittere Beruhigungspille.
Doch wir lassen uns nicht beruhigen!
Der 89jährige Kabarettist und Anarchist Georg Kreisler brachte es in der ZEIT vom 28. Juli 2011 auf den Punkt: „Was maßen sich diese Leute eigentlich an, auch die in der Politik, wenn sie sagen: Also gut, in zehn Jahren schaffen wir die Atomkraft ab? Was kann in diesen zehn Jahren alles schief gehen! Es können ganze Teile Europas, auch Deutschlands, unbewohnbar werden für tausend Jahre. Hunderttausende können zugrunde gehen. Es ist ungeheuer, dass die Kernkraftwerke nach dem GAU in Japan nicht sofort abgeschaltet wurden, sondern dass alle damit zufrieden sind, dass in zehn Jahren vielleicht jemand etwas unternimmt. Und so gibt es unzählige Sachen, die uns diktiert werden von den paar Mächtigen, die in Milliarden schwimmen. Es geschehen täglich Ungerechtigkeiten, und das bringt mich auf."
Wer etwas gegen diese Ungerechtigkeiten, wer etwas gegen die internationale Atommafia machen will, der kann das nicht allein. Nötig ist der kollektive Widerstand! Nötig sind die basisdemokratische Organisierung in den sozialen Bewegungen und die internationale Vernetzung der Anti-Atom-Bewegungen. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland nach Angaben der taz in den 1970er Jahren Pläne für den Bau von über 600 AKWs in der Schublade der Industrie lagen, hat die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland viel erreicht. Aber am Ziel sind wir noch lange nicht. Und dieses Ziel ist kein grün gewaschener Kapitalismus, sondern eine menschengerechte, also gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft.Bernd Drücke
Anmerkung:
1) In Sievert (Sv) wird die biologische Wirkung radioaktiver Strahlung auf Menschen, Tiere oder Pflanzen angegeben. Entscheidend ist die jeweilige Zeiteinheit, auf die sich die Angaben beziehen. Die natürliche Hintergrundstrahlung in Deutschland - verursacht etwa durch radioaktive Substanzen wie Radon im Boden - beträgt im Schnitt 2,4 Millisievert im Jahr und gilt offiziell als unbedenklich. Gravierende akute Strahlenschäden treten auf, wenn ein Mensch in kurzer Zeit einer Strahlung von einem Sievert beziehungsweise 1000 Millisievert ausgesetzt ist. Dann steigt das Risiko an Krebs zu erkranken um zehn Prozent. Bei einigen Menschen lösen bereits 100 Millisievert körperliche Folgen wie Übelkeit und Erbrechen aus.
2) siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk und http://www.stern.de/politik/ausland/akw-standorte-weltweit-wo-atomkraftwerke-stehen-1568284.html
Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 361, 40. Jahrgang, September 2011, www.graswurzel.net