Zum Verhältnis von Erinnerungspolitik und Antifaschismus am Beispiel des Geländes des ehemaligen KZs Sajmište in Belgrad.
Wie kommt es, dass dieser Ort im Zentrum Belgrads in die offizielle Erinnerung
an die Verbrechen des 2. Weltkriegs keinen Eingang gefunden hat? Bei
eingehender Beschäftigung stellt sich heraus, dass dieser Ort keineswegs so
vergessen ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Es gibt über die Jahrzehnte
hinweg klar bestimmbare Politiken der Erinnerung in Bezug auf das KZ Sajmište,
die, wie ich zeigen werde, mit dem im jeweiligen Zeitabschnitt dominierenden
Antifaschismusbegriff in Verbindung stehen. Im Folgenden werde ich sowohl das
Verhältnis der Gesellschaft zum Antifaschismus also auch die Erinnerungspraxis
auf dem Gelände von 1945 bis heute nachzeichnen.
Der sozialistische Antifaschismus mit dem Postulat der Brüderlichkeit und
Einheit (Bratstvo i jedinstvo) war das Fundament der nach der Befreiung
gegründeten sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien und der Kampf der
internationalistischen Partisanenbewegung gegen die faschistischen Besatzer und
deren Marionettenregime war ihre Gründungserzählung. Die Erinnerung an die HeldInnen
des Volksbefreiungskampfes (Narodna oslobodilačka borba, NOB) stand im
Vordergrund und war im Alltag gegenwärtig: ihre Biografien waren in den
Schulbüchern zu lesen, Straßen und Orte trugen ihre Namen und ihr Kampf wurde
in Partisanenfilmen verewigt. Dass nicht das Judenlager und spätere
Durchgangslager Sajmište, sondern das Konzentrationslager Banjica[2] als Ort der Erinnerung gewählt
wurde, könnte damit zusammenhängen, dass aus dem KZ Banjica mehr Dokumente erhalten waren, mit denen sich der
antifaschistische Widerstand belegen liess[3]. In einschlägigen
Veröffentlichungen werden zum Beispiel Verhöre der antifaschistischen
AktivistInnen im Lager und die Rolle der Kommunistischen Partei Jugoslawiens
(KPJ) und deren Jugendorganisation (SKOJ) nachgezeichnet, doch auch auf
Gefangenengruppen wie Roma, Juden/Jüdinnen oder zivile Geiseln wird verwiesen.
An anderer Stelle wird hervorgehoben, dass es zur Praxis des antifaschistischen
Widerstands der KPJ gehörte, Juden/Jüdinnen zu helfen, in die Illegalität zu
gehen oder in Italienisch besetzte Gebiete zu fliehen.
Trotz einer Initiative von ehemaligen Häftlingen im Jahre 1959 blieb das
Gelände des ehemaligen Lagers Sajmište jedoch ohne jede Kennzeichnung und erst
1974 wurde eine Gedenktafel angebracht, die 1984 erneuert wurde. Nur in
Ausnahmefällen wurde die Zahl und Identität der Opfer auf diesen Gedenktafeln
benannt. Die offizielle Erinnerungskultur thematisierte bis Anfang der 1980er
weder die Vernichtung der Belgrader und serbischen Juden/Jüdinnen[4], für die das Judenlager
Sajmište als Symbol steht, noch die Verhaftungen und Massentötungen der Roma
oder der SerbInnen im faschistischen Unabhängigen Staat Kroatien (NDH, Nezavisna Država
Hrvatska). Der Antisemitismus und der rassistische Massenmord wurden als Bestandteil
der faschistischen Ideologie angesehen und nicht gesondert hervorgehoben. Der Antifaschismusbegriff dieser Zeit war unmittelbar mit dem
Kampf der jugoslawischen Völker um die Befreiung vom Faschismus und dem
emanzipatorischen Projekt des Kommunismus verbunden. In diesem Sinne war die
Erinnerungskultur am Widerstand orientiert und ließ die zivilen Opfer
zurücktreten, ohne sie beim Namen zu nennen.
Nach Titos Tod 1980 kam es in den 1980er Jahren zu einer
Neuinterpretation des Volksbefreiungskriegs (NOR, Narodnooslobodilački rat) und
der Verbrechen zur Zeit der Okkupation. Zwar wurde der Widerstand gegen die
Besatzer als antifaschistisch benannt, der Antifaschismusbegriff aber nicht
mehr ausschließlich an die Aktivität der kommunistischen PartisanInnen
gekoppelt. Die königstreuen Četniks unter Führung von Draža Mihailović wurden
in Serbien neu bewertet und ihr Kampf gegen die deutschen Besatzer und gegen
die PartisanInnen als „antifaschistisch und patriotisch"- und nicht
„verräterisch" - umgedeutet. Mit der Entkoppelung des Antifaschismus vom
Kommunismus begann die nationalistische Revision dieses Geschichtsabschnitts,
die die den Bürgerkrieg der 1990er
Jahre mental vorbereitete.[5] Nicht nur die Helden des NOR
und die Kollaborateure unter der „Regierung der Nationalen Rettung" Milan Nedićs
wurden neu bewertet. Es begann auch eine vermehrte Beschäftigung mit dem
Schicksal der Opfer in den faschistischen Lagern. Nachdem Anfang der 1980er
Jahre die Archive der Gestapo vom jugoslawischen Bundesinnenministerium
freigegeben worden waren, begannen HistorikerInnen und andere Intellektuelle in
Serbien sich intensiv mit dem Massenmord an den SerbInnen, Juden/Jüdinnen und
Roma in den Lagern der kroatischen Ustaša im NDH zu befassen. Das Memorandum
der Serbischen Akademie der Wissenschaften (SANU) von 1986, in dem das
serbische Volk als „Opfer" der Politik Titos beschrieben wird, an dem im Kosovo
ein permanenter „Genozid" verübt werde, macht deutlich, wie verbreitet der
nationalistische Opfermythos bei den Intellektuellen war.
Das neue Interesse an den Lagern gab der Forderung der innerhalb des
Veteranenverbands (SUBNOR) organisierten ehemaligen Häftlinge nach einer
Kennzeichnung des Lagers Sajmište Aufwind und ihr Engagement verstärkte sich
mit dem Ziel, der Jugend die revolutionäre, antifaschistische Tradition
weiterzuvermitteln. Die Gedenkfeiern, die an der 1984 erneuerten Gedenktafel
zum 9. Mai, dem Tag des Siegs über den Faschismus, abgehalten wurden, waren in
der Rückschau die letzten öffentlichen Manifestationen einer
kommunistisch-antifaschistischen Erinnerungskultur. 1987 schließlich wurde das
Gelände von Staro Sajmište von der Stadt Belgrad unter Denkmalschutz gestellt
und der Beschluss gefasst, am Flussufer ein Mahnmal aufzustellen[6], zu dessen Einweihung es erst
1995 kam - allerdings unter anderen Vorzeichen.
Milošević und die von ihm gegründete Sozialistische Partei Serbiens (SPS)
hielt während der
Jugoslawienkriege in den Neunziger Jahren offiziell an einer nunmehr
nationalisierten antifaschistischen Rhetorik fest. Mit dem
serbisch-jugoslawischen Antifaschismus legitimierte er seine in den Krieg
mündende Verteidigungspolitik der von SerbInnen bewohnten Gebiete in Kroatien,
Bosnien und im Kosovo gegenüber den sich von Jugoslawien ablösenden neuen
Nationalstaaten. Die rechtsnationalistische
Opposition in der Tradition der Četniks mit den Führern Vuk Drašković und
Vojislav Šešelj mobilisierte ihre Anhängerschaft - Teile davon in
paramilitärischen Einheiten - mit einer extrem antikommunistischen Haltung, die
der Soziologe Todor Kuljić als Anti-Antifaschismus beschreibt.[7]
Die Vorzeichen der offiziellen Erinnerung an das Lager Sajmište änderten sich
in den Kriegsjahren nach 1991 und der Ort wurde zu einem Symbol für die
Opferrolle der SerbInnen. Die NationalistInnen benutzten den Massenmord an den
SerbInnen im Ustaša-KZ Jasenovac[8] als Argument für ihre Rhetorik
von der kroatischen „Genozidnation". Bereits 1990 forderte die Initiative für
ein „Museum des Genozids" (gegründet
von Milan Bulajić ), auf dem Gelände von Staro
sajmište ein „serbisches Jad Vashem" einzurichten, das den Völkermord an den
SerbInnen auf dem Gebiet des NDH dokumentieren sollte. Dennoch wird 1995 „nur"
ein Mahnmal am Rande des eigentlichen Lagergeländes errichtet, zu dessen
Einweihung die Gedenkfeier vom 9. Mai auf den 22. April verlegt wird - den „Tag
der Opfer des Genozids".[9] Die vom SUBNOR auch weiterhin
organisierte Gedenkfeier zum 9. Mai dagegen verlor an Bedeutung.
Das vergangene Jahrzehnt stand im Zeichen der Institutionalisierung der
serbisch-nationalen antikommunistisch geprägten Revision der
Geschichtsschreibung. Nach dem Sturz von Milošević im Oktober 2000 begann die
Normalisierung der nationalisierten und klerikalisierten Gesellschaft. Neue
Bücher für den Geschichtsunterricht wurden gedruckt, die die Beteiligung des
Nedić-Regierung und der Četniks an den Naziverbrechen relativieren, die
Veteranen der monarchistischen großserbischen Četnikbewegung den Partisanen
2004 gesetzlich gleichgestellt. 2005 wurde das „Museum der Opfer des Genozids"
als staatliches Institut dem Kulturministerium unterstellt und der 22. April
gesetzlich als Gedenktag der Opfer des Genozids an den SerbInnen,
Juden/Jüdinnen und Roma festgelegt. Während zum 9. Mai, dem „Tag Europas", die
Werte des Antifaschismus beschworen werden - Frieden, Verständnis, Toleranz und
Zusammenarbeit -, rehabilitieren die Gerichte Angehörige des Polizeiapparats
der Nedić-Regierung und Četnikführer Draža Mihajlović.
Das Lager Sajmište verlor nach 2000 an geschichtspolitischer Brisanz. Der
Bauboom in Belgrad rückte das zentral gelegene Gelände ins Blickfeld
ökonomischer und städtebaulicher Interessen und nicht zuletzt die drohende
Kommerzialisierung des Geländes drängte Vertreter verschiedener
gesellschaftlicher Gruppen dazu, Vorschläge für einen Gedenkkomplex zu
formulieren. Die jüdische Gemeinde Serbiens macht auf die Sonderstellung des
Judenlagers Sajmište als Ort des Holocausts aufmerksam, Veran Matić, Direktor
des Fernsehsenders B92, vertritt ein „Museum der Toleranz" und ließ eine
Fernsehdokumentation über das Lager drehen. Das „Museum der Opfer von Genozid"
beansprucht ein Gebäude auf dem Gelände, und NGOs betonen Parallelen mit der
unmittelbaren Vergangenheit und dem Genozid an den Muslimen in Srebrenica.[10]
Den meisten Visionen für eine künftige Gedenkstätte ist gemeinsam, dass sie die
individuellen Schicksale der Opfer in den Vordergrund stellen. Dem Mitgefühl
mit den Opfern wird in den Vermittlungskonzepten mehr Bedeutung zugemessen als
einer analytischen Aufarbeitung der Geschichte, die nicht nur die Opfer,
sondern auch die Täter in den Blick bringen und die gesellschaftlichen Umstände
hinterfragen könnte, die zu den Verbrechen führten. Ausschließliche Hinwendung
zu den Opfern und selektive Erinnerung können dabei den Blick auf den
bestehenden Antisemitismus und Antiziganismus in der serbischen Gesellschaft
verstellen. Es bleibt zu hoffen, dass der Druck auf eine „rasche Lösung" die
beginnende öffentliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen unter der
Regierung Nedić und mit dem Faschismus in Serbien und in Europa nicht zum
Stehen bringt.
Dieser
Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Frühjahr
2011, „smrt postnazismus".
[1] Die etwa 6500 jüdischen Frauen, Kinder und Alten, die im Judenlager Semlin (Jevreijski logor Zemun) interniert waren, wurden zwischen März und Mai 1942 im Gaswagen auf dem Weg vom Lager zum Massengrab in Jajinci bei Belgrad erstickt, nachdem ihre Väter, Männer und Söhne bereits im Herbst 1941 erschossen worden waren. Im Anhaltelager Semlin waren etwa 32.000 Menschen inhaftiert von denen 10.636 nicht überlebten, Milan Koljanin spricht aufgrund der Haftbedingungen von einem de facto Konzentrationslager. Siehe auch: Milan Koljanin, Nemački logor na Beogradskom Sajmištu, Institut za savremenu istoriju, Belgrade, 1992
[2] Durch das KZ Banjica in Belgrad wurden von 1941-44 etwa 30.000 Gefangene geschleust, über 4.000 ließen hier ihr Leben
[3] 1968 wurden dem Historischen Archiv Belgrad die Lagerbücher übergeben, 1969 wurde in den Räumen des ehemaligen KZ Banjica ein Museum eingerichtet.
[4] Die damals einzige Veröffentlichung zu den Geschehnissen im Judenlager Sajmište wurde 1952 vom Bund der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens herausgegeben: Zdenko Levental, Zločini fašističkih okupatora i njihovih pomagača protiv Jevreja u Jugoslaviji, Savez jevrejskih opština Jugoslavije, 1952
[5] Todor Kuljić, Umkämpfte Vergangenheiten, Berlin 2010
[6] Es wird der Entwurf von Miodrag Popović ausgewählt, der bei der Ausschreibung für den Gedenkpark Jajinci den Zweiten Preis erhalten hatte.
[7] Todor Kuljić, Umkämpfte Vergangenheiten, Berlin 2010
[8] Mit den Opferzahlen im KZ Jasenovac wurde von allen Seiten manipuliert. Nach der zuletzt veröffentlichten Liste der Gedenkstätte Jasenovc wurden 80.914 Opfer gezählt, davon 45.923 serbischer Nationalität.
[9] Bis dahin „Tag des Ausbruchs" (Dan proboja), belegt den Fluchtversuch der Häftlinge aus dem Lager Jasenovac
[10] Der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien klassifizierte das Massaker von Srebrenica als Genozid. Diese Einschätzung wird unter anderem von serbischer Seite bestritten.