Ein Gespräch über Tschernobyl, Fukushima und die Herausforderungen der Anti-AKW-Bewegung
25 Jahre nach Tschernobyl kommt es in Japan erneut zu einem verheerenden Atomunfall. Gleichzeitig erlebt - wie damals - die Anti-AKW-Bewegung eine Renaissance. Am 26. März 2011 gingen in Deutschland so viele Menschen wie noch nie gegen die Atomenergie auf die Straße. Anlass genug, um drei Aktivisten miteinander ins Gespräch zu bringen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Motiven in die Auseinandersetzungen um die Atomenergie eingemischt haben bzw. einmischen.
ak: Vom Atomunfall in Tschernobyl hörte man im Westen erst zwei Tage nach der Explosion des Reaktors am 26. April 1986. Könnt ihr euch erinnern, was ihr an diesem 28. April 1986 getan habt?
Micha Pickardt: Ich war damals im Kommunistischen Bund in Nürnberg organisiert. Wir standen seit zehn Jahren im Kampf gegen das bundesdeutsche Atomprogramm, angefangen über Brokdorf, Grohnde, Kalkar bis hin zur Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf in den 1980er Jahren. Vor diesem Hintergrund hatte Tschernobyl für mich persönlich nicht die Bedeutung wie für viele andere, die sich zum ersten Mal mit den Folgen der Kernenergienutzung konfrontiert sahen. Überall war der GAU Gesprächsthema. Überall wurde darüber gesprochen, wie man sich vor der Radioaktivität schützen könnte. Nach dem Reaktorunfall in Fukushima scheint mir die Reaktion ähnlich zu sein. Leute, die sich bisher nicht mit der Gefahr der Atomenergie beschäftigt haben, sind total verunsichert und haben das Gefühl, es sei nichts mehr so wie vorher.
Norbert Henning: Ich war damals elf Jahre alt. Ich weiß nur noch, dass ich nicht mehr draußen Fußball spielen durfte. Aber ich nehme es auch so wahr, wie Micha das sagt. Die Wirkung solcher Katastrophen ist für Leute, die lange Zeit aktiv sind, eine andere als für Menschen, die sich über Atomenergie nie Gedanken gemacht haben. Ich selbst arbeite im Anti-Atom-Plenum Berlin mit. Politisch sozialisiert wurde ich Ende der 1990er Jahre durch die Proteste gegen die Castortransporte und den Widerstand im Wendland.
Tadzio Müller: Anders als Norbert bin ich nicht über den in Deutschland typischen Weg der Castorproteste zum Energiethema gekommen, sondern über die Gipfelproteste, von Seattle über Prag, Göteborg und Genua bis Heiligendamm. Weil sich die G8 in Heiligendamm als Klimaretter gebärdete und dadurch unsere Kritik am Neoliberalismus in gewisser Weise ins Leere gelaufen ist, bin ich mit Gegenstrom Berlin zum Schottern gekommen. Meines Erachtens werden Klima- und Energiethemen bei der Erneuerung kapitalistischer Wachstumszyklen immer relevanter.
Und wie hast du Tschernobyl erlebt?
T.M.: Ich war damals neun und hatte - obwohl das nicht so mein Ding ist - ein Gemüsebeet in unserem Garten. Meine Stiefmutter kam ganz verstört raus und forderte mich auf, ich solle ins Haus kommen.
M.P.: Eure Erinnerungen decken sich mit dem, was ich damals erlebt habe. Überall gab es eine enorme Hilflosigkeit. Die Menschen wussten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Nicht zu wissen, wie die Gefahr einzuschätzen sei, hat vielen Menschen Angst gemacht.
T.M.: Angst spielt in solchen Situationen eine große Rolle. Die Frage ist, wie politische Akteure sie artikulieren können und in welche Richtung. Das ist hochaktuell angesichts der Ereignisse in Japan. Kohle-, Öl- und Gaspreise sind inzwischen gestiegen. D.h. der Verlust des Vertrauens von vielen in die Atomkraft und die Veränderung von Profitkalkülen bei Wirtschaftsakteuren führt dazu, dass andere Energieformen mehr nachgefragt werden.
N.H.: Diese Situation müssen wir nutzen. Momentan scheinen in der Tat die Kräfteverhältnisse günstig, um die Atomkraftwerke abzuschalten. Wir müssen in den nächsten Monaten allerdings dafür sorgen, dass nicht nur die inzwischen vom Netz genommenen Kraftwerke dichtgemacht werden.
Lothar Späth, der damalige baden-württembergische Ministerpräsident, sprach angesichts von Tschernobyl von einer "Übergangs-Energie", die FDP benutzte den Begriff "Übergangstechnik". Betrachtet man die aktuelle Diskussion, kommt das einem wie ein Déjà vu vor. Hielt man 1986 einen Atomausstieg auch für möglich?
M.P.: Nein, wir fühlten uns ganz im Gegenteil in einer harten Konfrontation mit einem System, dass die Kernenergie auf Teufel komm raus wollte. Heute ist der Anfang vom Ende der Atomenergie eher denkbar. Der Begriff der Brückentechnologie ist natürlich reine Demagogie. Aber er ist gleichzeitig Ausdruck davon, dass man zugibt, dass es so nicht weitergehen kann. Insofern bin ich optimistisch. Allerdings wird es lange dauern, bis alle AKWs vom Netz genommen werden.
T.M.: In gewisser Weise teile ich deinen Optimismus. Deutschland ist allerdings ein Sonderfall. Hier ist der Widerstand gegen die Kernkraft hoch und die Anti-Atom-Bewegung sehr stark. Aber über Deutschland hinaus sehe ich nicht notwendigerweise eine Abkehr angesichts der Renaissance der Atomenergie im Rahmen der Diskussionen über Klimawandel und Peak Oil. (den inzwischen überschrittenen Höhepunkt der Erdölförderung; Anm. ak)
N.H.: Dafür spricht z.B. auch, dass die Urananreicherungsanlage in Gronau bei den rot-grünen Atomkonsensgesprächen nie Thema war. Dort werden für den globalen Markt Brennelemente hergestellt. Die Kapazität ist unter Rot-Grün etwa vervierfacht worden. Insofern teile ich die Einschätzung, dass der Optimismus hinsichtlich eines Atomausstiegs nur für Deutschland gilt.
Wo wir schon beim rot-grünen Atomkompromiss sind, welche Rolle spielten die Grünen damals und heute?
M.P.: Die Grünen sind ohne die Anti-AKW-Bewegung nicht zu denken. Sie wurden getragen von der unglaublichen Power dieser Bewegung, wie sie sichtbar wurde in den großen Demonstrationen in den 1970er Jahren, die nicht nur militant, sondern vor allem entschlossen waren. Am Vorabend der Proteste gegen das AKW Brokdorf im Februar 1977 hat Bundeskanzler Helmut Schmidt im Fernsehen dazu aufgerufen, zu der von Teilen der SPD mit Unterstützung der DKP und einigen Bürgerinitiativen organisierten Kundgebung in Itzehoe zu gehen anstatt zum Bauzaun in Brokdorf, wohin rund 200 Bürgerinitiativen mobilisiert hatten. Das Beispiel zeigt, welche Konzessionen damals von den AKW-Befürwortern in der politischen Debatte gemacht werden mussten. Nach dem Deutschen Herbst 1977 war das mit einem Schlag zu Ende. Nicht nur die RAF war geschlagen, sondern alle Formen radikalen Protestes waren für absehbare Zeit diskreditiert. Es verbreitete sich ganz schnell eine Stimmung, dass andere Wege politischer Arbeit gesucht werden müssen. Innerhalb von zwei Jahren entstand dann die grüne Partei. Die Grünen sind also das Kind der Anti-Atom-Bewegungen. In der Folge haben sie ein Eigenleben entwickelt: Der Parlamentarismus lässt keinen ungeschoren, vor allem, wenn der Druck realer gesellschaftlicher Bewegungen nachlässt.
N.H.: Und diese Entwicklung endete schließlich bei den Atomkonsensgesprächen, die ja in erster Linie ein Konsens mit den Atomkonzernen waren. Durch die Verhandlungen sollte in erster Linie ein gesellschaftlicher Konflikt befriedet werden, es ging primär um die Stilllegung der Anti-AKW-Bewegung. Nicht anders ist zu erklären, warum damals Dinge ausgehandelt wurden, die nichts mit einer Stilllegung zu tun hatten wie etwa die dezentrale Zwischenlagerung der ausgebrannten Brennstäbe.
Wir beurteilen natürlich die Entwicklung der Grünen vom Ergebnis her. Siehst du das als jemand, der die Entstehung der grünen Partei miterlebt hast, anders?
M.P.: In den 1970er Jahren haben wir uns gewünscht, dass es in dem Drei-Parteien-System aus CDU/CSU, SPD und FDP eine Kraft in den Parlamenten gibt, die zu Demos aufruft oder unsere Anliegen unterstützt. Dabei haben wir gar nicht an eine revolutionäre Partei gedacht. Aber den Gedanken, es gäbe Leute, die von den Bewegungen in die Parlamente geschickt werden, fanden wir faszinierend. Unbestritten ist die Entwicklung der Grünen zu kritisieren. Aber man muss sich auch darüber klar werden, was Parteien tun können. Will man als Juniorpartner in einer Regierung den Atomausstieg, dann muss man mit mächtigen Teilen der Gesellschaft, nämlich dem Atomkapital, Kompromisse schließen. Das ist ohne Zugeständnisse nicht zu machen. Dabei will ich nicht behaupten, die Grünen hätten alles richtig gemacht, aber ich finde, mit der These von der Stilllegung der Bewegung macht man es sich zu einfach. Heute haben die Grünen eine befriedende Funktion. Aber kann man das ihnen einseitig vorwerfen? Gäbe es in Deutschland eine Bewegung von gesellschaftlicher Brisanz wie in den 1970er Jahren die Anti-Atom-Bewegung, dann müssten sich die etablierten Strukturen - und damit auch die Grünen - daran orientieren.
Welche Rolle spielen die Grünen heute?
N.H.: Die Reform-Rolle. Und man kann und soll ihnen dabei mindestens vorwerfen, dass sie sich die Bewertung anmaßen, welcher Atomausstieg vernünftig und realistisch ist. Damit engen sie bewusst die Spielräume radikaler Gesellschaftskritik ein. An den Orten, an denen sich die Bewegung trifft und diskutiert, sind die Grünen schon seit Langem nicht mehr präsent - und auch nicht wirklich erwünscht. Der Green New Deal der Grünen und ihr Projekt der Modernisierung des Kapitalismus ist nicht unser Konzept. Natürlich ist der neoliberale Reformsog, der von den Grünen ausgeht, stark, insofern ist mir die staatsferne und parlamentarismuskritische Politik der Anti-Atom-Bewegung sehr wichtig.
T.M.: Ich nehme vielen grünen Parteikadern ihre Ablehnung der Atomkraft ab. Bewegungen sind soziale Macht, die wollen die Grünen kanalisieren, um ihre politischen Ziele innerhalb der parlamentarischen Auseinandersetzung durchzusetzen. Dieser Logik folgend, macht für einen grünen Parteikader die Neutralisierung widerständiger Teile der Anti-Atom-Bewegung einen Sinn, um so viel wie möglich dieser Bewegungsmacht in die eigene Macht übersetzen zu können. Aber wenn man das weiß, kann man dem begegnen. Denn vor allem eine Partei wie die Grünen ist auf Bewegungen angewiesen.
Vor welchen Herausforderungen stand die Anti-Atom-Bewegung damals, vor welchen steht sie aktuell?
T.M.: Aktuell steht die Anti-AKW-Bewegung vor der Herausforderung, den durch Fukushima entstandenen politischen Raum nicht nur für eine Ausstiegsdebatte zu nutzen. Angesichts von Peak Oil und Klimawandel brauchen wir eine Bewegung für eine dezentrale, basisdemokratische Energiewende. Es war gerade der abgewählte Atombefürworter Stefan Mappus, der auf den Punkt gebracht hat, um was es geht. Wenn wir keine Atomkraft, keine Kohle, sondern 100 Prozent erneuerbare Energie wollen, müssen wir sagen, wie wir das machen wollen, was das kostet und wer es bezahlen soll. Ich finde das sind die richtigen Fragen.
M.P.: Damals mussten wir das Thema erstmal auf die politische Agenda setzen. Ich kann mich in meiner Jugend z.B. noch an Werbung für radioaktive Zahnpasta erinnern oder an Geräte in den Schuhgeschäften, bei denen mit Röntgenstrahlen die Füße durchleuchtet wurden, um zu sehen, ob die Schuhe passen. In den 1950er und 1960er Jahren gab es eine ungemein positive Haltung gegenüber der Atomenergie. Diese Stimmung kippte erst Anfang der 1970er Jahre. Auf einmal gab es eine relevante Minderheit, die ihre Bedenken äußerte. Das betraf nicht nur die Atomenergie, sondern insgesamt das Verhältnis Natur und Technik - Stichwort: Club of Rome. Wenn ich mir die Entwicklung bis heute anschaue, dann muss ich feststellen, dass die Interessen der Anti-Atom-Bewegung von denen der alternativen Energieunternehmen kaum noch zu unterscheiden sind. Da bekommt man schon ein mulmiges Gefühl, für wen man auf die Straße geht. Deshalb geht es aus einer antikapitalistischen Perspektive sicherlich um eine dezentrale Energieversorgung. Windräder statt Atomkraftwerke hebeln den Kapitalismus nicht aus. Aber eine dezentrale Energieversorgung setzt schon an der Achillesferse an. Ansonsten halte ich es mit Herrn Keuner, der auf die Frage, woran er gerade arbeite, antwortet: "Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor."
Interview: is., mb.
aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 560/15.4.2011