Ein Gespräch mit Katja Kipping (LINKE), Christoph Kleine (Avanti) und six hills
Vom 17. bis zum 20. Januar finden in Berlin sogenannte Perspektiventage statt. (Weitere Informationen unter: www.perspektiventage.de) Das Treffen soll ein Ort sein, wo die verschiedenen Spektren ...
... gemeinsam Bilanz ziehen und Ausblick nehmen können, die während der Proteste gegen den G8 in Heiligendamm aktiv waren. Wir haben die Perspektiventage zum Anlass genommen, uns genau zu diesen Fragen mit Katja Kipping, Bundestagsabgeordnete der LINKEN, Christoph Kleine von Avanti/Interventionistische Linke (IL) und einer Genossin der Berliner Gruppe six hills zu unterhalten.
ak: Was hat sich für Deine Arbeit mit Heiligendamm verändert?
Katja Kipping: Die grundsätzlichen Konflikte sind gleich geblieben. Im Bundestag gibt es - auch nach Heiligendamm - keine Mehrheit für eine repressionsfreie Grundsicherung. Und innerhalb meiner eigenen Partei muss ich immer noch für das Grundeinkommen werben. Diese Probleme sind nicht weg. Aber es hat sich einiges weiterentwickelt.
Es ist während der Gipfelproteste gelungen, eine Zusammenarbeit von Partei und Bewegung zu praktizieren - und zwar jenseits von Kolonisierungsversuchen durch die Partei und jenseits einer devoten Unsichtbarkeit der Partei. Diese Zusammenarbeit hat sich gerade in kritischen Momenten bewährt. Die Kommunikationsdrähte sind seitdem kürzer, die Zusammenarbeit vertrauensvoller.
Die Erinnerung daran, wie bei den Blockaden das scheinbar Unmögliche möglich wurde, wirkt immer wieder beflügelnd. Zumal die innere Struktur der Blockaden bewiesen hat, dass demokratische Verfahren gerade auch in komplizierten Situationen praktizierbar sind. Mich ermuntert dies in meiner politischen Praxis, statt auf autoritäres Ansagertum auf Teamgeist und selbstorganisierte Vielfalt zu setzen. Kurzum: Die Gipfelproteste haben bei mir zu einem großen Vorrat an Zuversicht geführt. Das macht mutiger und radikaler - im besten Sinne des Wortes.
six hills: Meine Gruppe hat sich zwei Jahre vor Heiligendamm für die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel gegründet. Einige von uns sind in der antirassistischen Bewegung aktiv. Teile davon haben sich mit dem migrationspolitischen Aktionstag an den G8-Protesten beteiligt. Nach Heiligendamm hat sich mein Fokus verändert. Neben der antirassistischen Politik interessiert es mich jetzt viel stärker, die verschiedenen Bewegungen zusammen zu bringen. Deswegen würde ich es auch begrüßen, wenn es 2008 nicht getrennte Klima- und migrationspolitische Camps gäbe, sondern ein großes - vielleicht parallel zum G8 in Japan.
Die Dynamik und Kraft, die in den Camps und auf den Feldern, bei den Blockaden rund um Heilgendamm entstanden ist, fand ich beeindruckend. Es wäre eine vertane Chance, hier nicht anzuschließen. Aber nicht nur, was das Aktionistische angeht, sondern auch hinsichtlich der inhaltlichen Klammern, wie es z.B. mit den globalen sozialen Rechten versucht wird. Solche Punkte gilt es, gemeinsam zu finden. Ich hoffe, dass viele die Perspektiventage dafür nutzen werden, denn hier besteht die Möglichkeit, dass noch einmal richtig viele Menschen zusammen kommen, die rund um Heilgendamm aktiv waren.
Christoph Kleine: Die zwei Jahre G8-Vorbereitung waren für mich eng mit dem Projekt IL verbunden; dem Versuch, die undogmatische Strömung in der radikalen Linken sichtbar und handlungsfähig zu machen. Konkret in der Anti-G8-Kampagne bedeutete dies, einen bundesweiten Akteur auf Augenhöhe z.B. mit attac oder der Linkspartei zu schaffen. In dem relativen Erfolg dieses Versuchs spiegelt sich die Veränderung meiner politischen Arbeit vor Heiligendamm. Dass bei der Entwicklung einer bundesweiten Struktur Kollektivität und lokale Verankerung nicht verloren gehen, ist dabei große Herausforderung und gleichzeitig eine der Kernaufgaben linksradikaler Organisierung.
Von den Erfahrungen in Heiligendamm bleibt die Kreativität und die Entschlossenheit der Blockierenden. Mit diesem "Wissen, dass es geht" im Rücken werden die Aktionen und Kämpfe der nächsten Jahre anders sein - das ist schon jetzt spürbar.
Auch wenn einige nach "Gewaltfreiheit" rufen (und damit oft genug nur das staatliche Gewaltmonopol affirmieren), auch wenn andere überall nur Verrat und Distanzierung sehen können und deshalb blind sind für die neue Qualität der Bewegung: Nach Heiligendamm muss die strategische Bündnisorientierung, die die Gipfelproteste 2007 getragen hat, fortgesetzt und weiterentwickelt werden. Das wird im Erfolgsfall die dauerhafteste Veränderung unserer (und damit meiner) politischen Arbeit sein.
Außer von der etwas nostalgischen Euphorie blieb nach dem Sommerloch nicht mehr all zu viel von den G8-Protesten übrig, oder? Waren die Proteste doch weniger nachhaltig, als oft behauptet? Wo sollte es strategisch eurer Meinung nach hingehen?
six hills: Ich glaube, ihr seid da etwas vorschnell, es geht ja noch weiter und die Erwartungen sollten auch nicht zu hochgesteckt sein. Auf lokaler Ebene gab es viele überraschende Bündnisse und Plena, die z.T. weiter arbeiten. Drei größere Auswertungs- bzw. Folgeveranstaltungen sind z.B. der "... ums Ganze!"-Kongress im Dezember, die Perspektiventage im Januar und die IL-Konferenz im März/April. Da wird auf ganz unterschiedliche Weise noch mal etwas zusammengefasst und mit verschiedenem Fokus behandelt: die theoretisch-analytische Ebene auf dem "... ums Ganze!"-Kongress, die basisorientierte Bewegungsebene auf den Perspektiventagen und die Organisierungsebene auf der IL-Konferenz. Nicht zu vergessen den Jugendumweltkongress "Jukss" zum Jahreswechsel; hier werden sich viele der jungen Leute von den G8-Blockaden wieder finden.
Um diese Jugendlichen wurde viel Wirbel gemacht. Wo kamen sie her und wie lassen sie sich einbinden? Eine entscheidende Frage ist, ob über diese Folgeveranstaltungen hinaus, Orte geschaffen und genutzt werden, um strategische Bündnisfragen weiter zu behandeln. Wo und wie, ist noch völlig offen. Die BUKO bietet sich hier an, aber auch eine Neubelebung der Sozialforen wäre eine Möglichkeit. Doch ob solche Orte gebraucht und genutzt werden, hängt auch direkt mit der politischen Praxis zusammen und ob hier eine stärkere Bündelung und Bezugnahme gewollt ist. Diese gilt es weiter zu entwickeln.
Katja Kipping: Nach den Gipfelprotesten hat sich der Arbeitsschwerpunkt bei vielen erst einmal wieder hin zur eigenen Organisation verlagert. Das ist verständlich. Erstens ist die inhaltliche Arbeit in der eigenen Organisation wegen der Gipfelproteste zu kurz gekommen. Zweitens leben die globalisierungskritischen Proteste ja gerade von ihrer Vielfalt. Dazu gehört eine organisatorische Vielfalt. Drittens hat es einige organisationspolitische Neuerungen gegeben, z.B. die Gründung der LINKEN bzw. bei der IL.
Ich halte nichts vom großen Katzenjammer, dass nach Heiligendamm erst mal kein größeres Bewegungshighlight stattfand. Es liegt im ureigensten Wesen von Protestbewegungen, dass sie zyklisch verlaufen. Nach einem großen Mobilisierungserfolg folgt meist mengenmäßig ein Abflauen. Ich finde ja, die Kunst des nachhaltigen Protestierens beginnt gerade in der Phase des Abklingens. Insofern kann es durchaus Ausdruck der Nachhaltigkeit sein, wenn jetzt innerhalb der einzelnen Organisationen Weiterentwicklungen anstehen.
Bleibt zu hoffen, dass das Perspektiventreffen Mitte Januar in Berlin eine zentrale Auswertungsveranstaltung wird, die der Breite des Bündnisses gerecht wird. Dies wäre ein Ort, um die Diskussionen in den einzelnen Spektren wieder zusammenzuführen. Zudem schält sich meiner Meinung nach sehr wohl ein Thema heraus, dass das Potenzial dazu hat, Spektren übergreifend - und zwar von kein Mensch ist illegal über medico und Greenpeace bis hin zur IG Metall - Diskussionen möglich zu machen: Globale Soziale Rechte.
Christoph Kleine: Wir sollten aufpassen, die G8-Proteste nicht anhand von Kriterien für gescheitert zu erklären, die so niemand aufgestellt hat.
Erstens halte ich die "nostalgische Euphorie" für wertvoll und wichtig. Die Aufbewahrung von Erfahrungen in Erzählungen des Sieges und der Begeisterung stiftet Mut, Zuversicht und Ausdauer für kommende Kämpfe. Für mich lag eine ähnlich intensive und motivierende Erfahrung jedenfalls sehr lange zurück.
Zweitens hat Heiligendamm die Neuorientierungs- und Organisierungsprozesse in vielen Spektren der Linken befördert. Sicher sagen kann ich das für die Strömung der IL, aber es gilt nach meiner Wahrnehmung auch für viele andere. Hier bereits Ergebnisse sehen zu wollen, wäre verfrüht.
Drittens werden die Erfahrungen, insbesondere die von Block G8, in verschiedenen Kampagnen aufgegriffen und weiter entwickelt: Bei den Blockadeaktionen gegen das faschistische "Fest der Völker" am 8. September 2007 in Jena ebenso wie bei der Aktion G13 am 6. Oktober für ein neues Ungdomshuset in Kopenhagen. Gemeinsam ist allen diesen Aktionen, dass nach neuen Wegen gesucht wird, Aktionen gleichzeitig offensiv und anschlussfähig zu gestalten.
Und viertens nehme ich trotz aller Tendenzen zur Abgrenzung und Abrechnung, die nach Großkampagnen wohl unvermeidlich sind, bei ganz vielen Akteuren ein gestiegenes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer strategischen Bündnisorientierung wahr. Dazu gehört auch, dass Bündnisse und Kooperation nicht nur aus kurzfristigen, taktischen Erwägungen betrieben werden sollen. Denn keine Strömung wird langfristig eine eigene Stärke aus der Schwächung anderer linker Akteure gewinnen können.
Das hört sich jetzt alles sehr harmonisch an. Wenn das so ist, Christoph, warum geht Avanti nicht in die LINKE, six hills, warum schließt ihr euch nicht der IL an und warum Katja, bist du immer noch im Bundestag?
six hills: Eine gewisse Harmonie oder Verständigung ist gar nicht verkehrt. In Anbetracht der Schwäche der Linken und radikalen Linken ist sie vielleicht angebracht. Wir haben darüber gesprochen, in die IL zu gehen, uns dann aber dagegen entschieden. Wir wollen unsere Kapazitäten nicht zu sehr mit Organisierungsfragen binden, sondern stärker für inhaltliche Kampagnen nutzen wie gegen den 11. Europäischen Polizeikongress. Deswegen finde ich die Frage auch nicht so spannend.
Interessanter ist vielmehr, wie die unterschiedlichen sozialen Kämpfe (u.a. gegen Privatisierung, Arbeitskämpfe, für Rechte, Grundsicherung und Migration) immanent zwischen den verschiedenen Akteuren und themenübergreifend stärker aufeinander bezogen werden können. Die Möglichkeiten verschiedene Kampagnen durch gemeinsames Auftreten, medial durch Großdemonstrationen, -aktionen oder Konferenzen sichtbarer zu machen und trotzdem den unterschiedlichen Akteuren ihren Raum zu lassen, sind denkbar. Es könnte darum gehen, politische Praxis stärker zu verdichten, damit aus ihr eine relevante Kraft erwächst.
Christoph Kleine: Nun, die Harmonie überrascht mich nicht, wenn ak drei Aktivisten zum Gespräch bittet, die sowohl in ihren Spektren als auch in der konkreten Zusammenarbeit für genau die strategische Bündnisorientierung eingestanden sind, die ich oben beschrieben habe.
Aber konkret zur Frage: Avanti steht für eine undogmatische, basisdemokratische Organisierung mit dem Ziel der revolutionären Überwindung des Kapitalismus und aller anderen Formen von Ungleichheit und Unterdrückung. Daraus resultieren ein anderes Verständnis von gesellschaftlichem Antagonismus und ein ganz anderes Organisationsverständnis als ich dies bei der LINKEN wahrnehme, die in ihren überwiegenden Teilen eine sozialstaatsromantische, etatistische, mitunter auch autoritäre Mitglieder- und Wahlpartei ist. Deshalb ist die Vorstellung, dass Avanti in der LINKEN aufgehen könnte, tatsächlich absurd. Nicht absurd ist aber die Anerkenntnis dieser Differenzen als produktiver Widersprüche, die strategische Bündnisse erlauben und erfordern. Insofern soll Katja gern im Bundestag bleiben, meine Stimme dafür hat sie. Und six hills bei der IL - ja, warum nicht?
Katja Kipping: Ich hatte gerade bei den Gipfelprotesten den Eindruck, dass es auch für Proteste hilfreich sein kann, wenn jemand mit Abgeordnetenausweis dabei ist. Die Überwindung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist - und mit weniger möchte mich nicht zufrieden geben - bedarf nun einmal des Zusammenspiels von außerparlamentarischen und parlamentarischen Kämpfen. Um auf ein aktuelles Beispiel Bezug zu nehmen, ich finde der Bundestag braucht eher mehr als weniger Leute, die sich einschalten, wenn junge Erwerbslose in sogenannte Pädcamps gezwungen werden. Bei aller Bescheidenheit, aber ohne mich wäre der Zwang zur Teilnahme an solchen Drillcamps wahrscheinlich nicht eingestellt worden. Und außerdem: Solange wir dieses Wirtschaftssystem haben, bedeutet Lohnarbeit immer sich auf mentale Prostitution und Entfremdung einzulassen. Wer in jeder Akteurskonstellation gänzlich frei von Entfremdung ist, der werfe den ersten Stein ...
Interview: is/mb.
aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 523/14.12.2007