Zum Streik der Justizbeamten in Frankreich
Stéphane Hessel schreibt in »Empört Euch«: »Die Résistance forderte, ›dass alle französischen Kinder die effektive Möglichkeit haben sollen, die bestmögliche Erziehung zu erhalten‹, ohne Diskriminierung. Die 2008 vorgeschlagenen Reformen sind nicht damit in Einklang zu bringen. Jungen Lehrerinnen und Lehrern, sie sich – was ich unterstütze – weigerten, diese Reformen umzusetzen, wurden zur Strafe die Gehälter gekürzt. Sie haben sich aufgelehnt, den Gehorsam verweigert, weil sie diese Reformen nicht im Einklang mit dem Ideal der republikanischen Schule sahen, die zu sehr einer Gesellschaft des Geldes dient und nicht genügend Raum für Kreativität und kritisches Denken gibt.
Dieses gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance ist heute in Frage gestellt. (...) Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? (...) Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung. Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegung und der Kampfgruppen des Freien Frankreich, rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiterzugeben. Mischt Euch ein, empört euch! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, den Frieden und die Demokratie zu gefährden.«[1]
Unabhängig davon, dass man diese Analyse sicher auch als holzschnittartig und einseitig auf die Finanzmärkte bezogen kritisieren könnte, kann man das kleine Manifest des 93-jährigen Stéphane Hessel durchaus als eine Zusammenfassung all der Manifeste aus den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen lesen, die in den letzten Jahren und Monaten den Protest, das Unbehagen und die Unzufriedenheit der Lohnabhängigen und Erwerbslosen in Frankreich ausgedrückt haben (siehe den Artikel von Marc Zitzmann oben). Das aktuellste Phänomen ist die spontane Empörung und Bewegung der Justizbeschäftigten. Sie machen ihre Überlastung öffentlich und drehen damit gegenüber Präsident Sarkozy den Spieß um.
Was war passiert?
Der Mord an Laetitia Perrais (18) aus Nantes erschütterte Anfang des Jahres ganz Frankreich. Der Tat dringend verdächtig ist ein 31 Jahre alter Mann, der bereits 15 Mal verurteilt wurde, unter anderem wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und schwerer Körperverletzung. Dieser Mann ist vor einem Jahr auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen worden – und zwar ohne dass die Justiz seine ersten Schritte in Freiheit überwacht hätte.[2] Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie die Öffentlichkeit, die Medien und die Rechten darauf reagierten. Anscheinend schon auf Wahlkampf und, unter anderen, auf die Auseinandersetzung mit der rechtsradikalen Marine Le Pen gepolt, attackierte Präsident Nicolas Sarkozy die Justiz in Nantes scharf, indem er den Richtern eine Mitschuld am Tod der jungen Frau gab: »Wenn man jemanden wie den mutmaßlichen Schuldigen aus dem Gefängnis entlässt, ohne ihn zu überwachen, ohne Bewährungshelfer, dann ist das ein Fehler. Diejenigen, die diesen Fehler gemacht und zugelassen haben, werden bestraft werden.«[3]
Daraufhin warfen die Richter – die in Frankreich ebenso wenig streiken dürfen wie in Deutschland – in Nantes ihre Roben in die Ecke und begannen einen Streik, der sich schnell auf andere Städte ausweitete. In vielen Gerichten fielen Anfang Februar die Verhandlungen aus, stattdessen fanden Vollversammlungen statt. Die Richter und Beschäftigten in der Justiz fangen nun ihrerseits öffentlich an, unzumutbare Zustände – von den maroden Gebäuden bis zur zunehmenden Überlastung und dem fehlenden Personal – aufzudecken, die Resultat der rigorosen Sparpolitik Sarkozys sind. In kaum einem anderen Land in Europa ist die Justiz bezogen auf die Einwohnerzahl finanziell so schlecht ausgestattet wie in Frankreich unter Sarkozy. In Nantes z.B. betreuen drei Richter und 17 Bewährungshelfer 3300 Fälle. Diesen Zustand prangern die Richter als einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz an[4] und geben umgekehrt Sarkozy und seiner Sparpolitik, die in manchen Fällen nicht einmal mehr Bewährungshelfer erlaube, die Schuld am Tod von Laetitia. Immer wieder würden neue Gesetze gemacht, aber keine Mittel zur Verfügung gestellt, diese auch umzusetzen. Ironisch nennen nun die Richter und Justizangestellten Sarkozy den »Wiederholungstäter«.
Die verschiedenen Gewerkschaften der Justizangestellten unterstützen das Aussetzen von Verhandlungen und die Arbeitsniederlegungen landesweit – ein Vorgang, den es in der Richterschaft in diesem Ausmaß noch nie gab. Am 15. Februar haben viele Gewerkschaften unterschiedlicher politischer Couleur einen öffentlichen Aufruf verabschiedet, der an den Justizminister adressiert ist: »Immer aktiv für eine qualitativ hochwertige Justiz«[5], in der sie auf den Untersuchungsbericht im Fall Laetitia reagieren. Der Bericht bestätige die schlechte Ausstattung der Justiz. Die Vertreter der unterzeichnenden Organisationen, von Richtern über Anwälte, Verwaltungsbeamte und Bewährungshelfer, erklären sich solidarisch mit den Beamten in Nantes, wo sich ein Bewährungshelfer um 130, statt wie im landesweiten Durchschnitt um 108 Personen kümmern müsse und die man deshalb für diese Mängel nicht verantwortlich machen könne.
Sie wollen weiter mobilisieren und für eine qualitativ hochwertige Justiz kämpfen – alle dort Beschäftigten sind eingeladen mitzumachen. Gegenüber den Argumenten von Sarkozy und der Regierung, dass die Bevölkerung das nicht verstehe und auch nicht unterstützen könne, legen sie dar, dass diese Verbesserung des Öffentlichen Dienstes im Interesse der Justiz, der Opfer und der Bürger sei.
Der Aufruf endet mit einem Appell,
- noch vor Ende März Sachstandsberichte zu erstellen über die Schwierigkeiten, Dysfunktionalitäten, die Arbeitsbelastung und die Mittel, die nötig wären, sich diesen Problemen zu stellen;
- Parlamentarier, lokale Abgeordnete, Medien und Bürger einzuladen, um die Realität des Strafvollzugs in Augenschein nehmen zu können;
- die Bewegung auszuweiten
- vorgeschriebene Arbeitszeiten und Prozessdauer einzuhalten usw.
Zum Schluss rufen sie einen nationalen Aktionstag für Ende März aus.[6] Wir werden die Geschehnisse im express weiter verfolgen...
Unter vergleichbaren Bedingungen haben übrigens auch Richter in Deutschland zu arbeiten. Wir erinnern an die Richter-Proteste gegen die geforderte Verschärfung des (Jugend-) Strafrechts anlässlich der U-Bahn-Attacken von Jugendlichen Anfang 2008. Schon damals wehrte sich der Deutsche Richterbund gegen eine populistische Politik, die auf höhere Strafen und schnelleren Vollzug setze, während sie dem Justizsystem zugleich immer mehr Ressourcen, insbesondere im Bereich Prävention, entziehe. An der personellen Unterbesetzung und ihren Konsequenzen für eine seriöse Verfahrensführung hat sich nichts geändert – im Gegenteil: Ohne die Mittel aufzustocken hat die Bundesregierung nach erneuten Rügen der EU wegen zu langer Verfahrensdauern ein Gesetz beschlossen, das Geldstrafen für Fristüberschreitungen vorsieht. Und ausgerechnet die in Sicherheitsfragen gerne martialisch auftretende hessische Landesregierung propagiert Stellenabbau und Schließungen in der Justiz sowie eine Fusion von Verwaltungs-, Sozial- und Arbeitsgerichten als Formen »intelligenten Sparens«. Spezialisten für Atom- und Baurecht dürften sich demnach künftig mit der Angemessenheit von Hartz IV-Regelsätzen oder Tarifregelungen befassen. Immerhin schriftlich hatten sich darüber die Neue Richtervereinigung, der Deutsche Richterbund und ver.di in einer gemeinsamen Erklärung empört. Zum Streik hat es bislang aber nicht gereicht.
NR/KH
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/11
express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express
[1] Stéphane Hessel: »Empört Euch!«, Berlin 2010, S. 8ff.
[2] Christoph Wöß: »Richter streiken nach Präsidenten-Schelte«, in: www.tagesschau.de (22. Februar 2011); Gerd Niewerth: »Mordfall Laetizia: Sarkozy gibt Justiz Mitschuld an Mord«, Der Westen, 4. Februar 2011, in: www.derwesten.de
[3] Christoph Wöß: »Richter streiken nach Präsidenten-Schelte«, a.a.O.
[4] Vgl. »Les magistrats, en colère contre Sarkozy, se mobilisent«, Le Monde, 7. Februar 2011 (www.lemonde.fr)
[5] »Toujours mobilisés pour une justice de qualité«, in: www.union-syndicale-magistrats.org
[6] Vgl. »Toujours mobilisés pour une justice de qualité«, a.a.O.