Geschlechter in Bewegung

Zur biologischen Geschlechterforschung

in (03.10.2012)

«Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken: Ganz natürliche Erklärungen für eigentlich unerklärliche Schwächen» - der Titel dieses vor über 10 Jahren erschienenen Bestsellers reiht sich ein in eine Schwemme von Publizistik, die unter dem Deckmantel naturwissenschaftlicher Objektivität Unterschiede zwischen Männern und Frauen festschreibt. Durch solche Biologismen wird menschliches Verhalten und Aussehen nach Geschlechterkategorien normiert und Abweichung hiervon als abnormal oder krankhaft abgestempelt.

 

Dieser Differenzforschung stehen Ansätze der Geschlechterdekonstruktion gegenüber. Sie trennen den Begriff Geschlecht in die englischen Begriffe sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht). Sodann wird gezeigt, dass zunächst gender - und weiterhin auch sex – keine natürlichen Gegebenheiten darstellen, sondern erst gesellschaftlich erzeugt werden.

Die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit auf biologischer Ebene wird dabei nur selten inhaltlich kritisiert. Genau diese ist es jedoch, die mit Schlagzeilen in populärwissenschaftlichen Magazinen und Fernsehsendungen eine immense gesellschaftliche Wirkmächtigkeit entfaltet. Alternativen zur bipolaren Geschlechterordnung lassen sich daher nur auf dem Stand der (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnis in Stellung bringen.

 

Männlichkeitsgen im Schaltkreis

Entgegen verbreiteter Annahmen ist das biologische Geschlecht eines Menschen nicht immer eindeutig zuzuordnen. Die verschiedenen Merkmale, die zur Geschlechtsbestimmung herangezogen werden, stimmen nicht notwendig überein.

So treten bei den Geschlechtschromosomen Abweichungen von der üblichen Zuordnung (XX: weiblich, XY: männlich) auf: Zum einen existieren pathologisierte Kombinationen, wie das Klinefelter- (XXY) und das Turner-Syndrom (XO), zum anderen stimmt die Geschlechtsidentität der Chromosomen bei einigen Menschen nicht mit weiteren biologischen Merkmalen überein, die zur Bestimmung des Geschlechts herangezogen werden. Dies sind die inneren sowie äußeren Geschlechtsorgane, die maßgeblich für die Fortpflanzungsfähigkeit sind, sowie der Hormonspiegel an Androgenen und Östrogenen. Menschen, bei denen diese Merkmale nicht übereinstimmen werden als Intersexuelle bezeichnet. Auch das soziale Geschlecht kann von einigen oder allen genannten Merkmalen abweichen.

 

Trotz dieser anerkannten Faktenlage, scheint die biologische Geschlechterforschung stetig darauf hinzuarbeiten, die bipolare Geschlechterordnung festzuschreiben. Dies mag zum Einen in der individuellen Motivation der Forscher_innen begründet liegen, die die entsprechenden Studien anfertigen. Hier ist zu beachten, dass die Forscher_innen und damit auch ihre Fragestellungen vom gesellschaftlich dominanten Geschlechterbild beeinflusst werden.

Zum Anderen stärken politische und gesellschaftliche Mechanismen dieser Forschung den Rücken: In den Medien lassen sich gefundene Unterschiede besser verkaufen als die Gleichheit der Geschlechter. Dient dies in populärwissenschaftlichen Zeitschriften einer Sensationslust, die die Verkaufszahlen steigert, ist es in Fachzeitschriften die Notwendigkeit, ein «signifikantes» Ergebnis zu präsentieren. Werden keine Unterschiede gefunden, so ist die Annahme der Forscher_innen widerlegt und der Ansatz wird als «gescheitert» betrachtet.

Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene Ansätze entwickelt, um die Entwicklung von Geschlecht und Geschlechtszuschreibungen auf eine biologisch überprüfbare Basis zu stellen. Ein Meilenstein schien hier das Auffinden des Sry(sex determining region Y)-Gens zu sein, das ab 1990 als das Gen gehandelt wurde, das eine männliche Entwicklung verursacht. Bald stellte sich heraus, dass von dieser Erklärung zahlreiche Abweichungen existieren, sodass das Modell sich als nicht haltbar herausstellte. Wissenschaftliche Modelle, die die Geschlechtsentwicklung genetisch erklären sind heute erheblich komplexer. Allein die Komplexität der genetischen Schaltkreise verdeutlicht, dass eine Einteilung in die zwei Endprodukte «Mann» und «Frau» unterkomplex ist. Trotzdem wird das Sry-Gen in der Populärwissenschaft weiterhin als geschlechtsdeterminierendes Gen angeführt.

 

Bunte Bilder von grauen Zellen

Durch den zunehmenden Fortschritt im Bereich medizinischer Bildgebung haben in den vergangenen Jahren Studien in der Hirnforschung an Bedeutung gewonnen. Weite Verbreitung hat beispielsweise die These gefunden, die Gehirnhälften des weiblichen Gehirns seien besser vernetzt als bei Männern. Oder auch, dass Frauen aufgrund ihres biologisch veranlagten mangelnden räumlichen Vorstellungsvermögens schlechter Autos einparken könnten.

In den Untersuchungen der Hirnforschung lassen sich jedoch oft massive methodische Schwächen aufzeigen. Experimente werden mit der Vorannahme der Zweigeschlechtlichkeit gemacht. Die Testpersonen werden den zwei Kategorien «Mann» und «Frau» zugeordnet und Ergebnisse nur in Gegenüberstellung dieser beiden Kategorien beurteilt. Unterschiede innerhalb einer Gruppe werden unter den Tisch gekehrt, obwohl die breiten Varianzen ein deutlicher Hinweis darauf sind, dass andere Gründe als Ursache für die gefundenen Unterschiede herangezogen werden müssten.

Die so gefundenen Messwerte werden dann gemittelt in knallbunten Bildern dargestellt, die deutliche Ergebnisse suggerieren. Hier haben die Forscher_innen eine enorme Freiheit, die Parameter und Farbwahl bei der Darstellung so zu wählen, dass das von ihnen gewünschte Ergebnis erkennbar wird.

Weiterhin wurden Experimente, die eine große gesellschaftliche Bedeutung erlangten, oft mit sehr geringen Stichproben durchgeführt. So wurde eine Studie des Ehepaars Shaywitz aus dem Jahr 1995 mit lediglich 19 Männern und 19 Frauen durchgeführt. Die Untersuchung wird bis heute als Beweis für die stärkere Bilateralität des weiblichen Hirns angeführt, obgleich sie sich ausschließlich auf die Aktivität bestimmter Bereiche des Hirns bei der Reimerkennung bezog. Eine spätere Studie einer andere Forschungsgruppe mit je 50 Männern und Frauen konnte keine signifikanten Unterschiede feststellen.

 

Embodying – Körper in der Gesellschaft, Gesellschaft im Körper

Der zentrale Kritikpunkt an den experimentellen Methoden der Hirnforschung liegt jedoch in der Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch und ihrer tatsächlichen Aussagekraft: Ihr Anspruch ist oft, naturgegebene und unveränderliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen festzustellen. Tatsächlich werden jedoch Momentaufnahmen der Gehirne von Menschen gemacht, die einen bestimmten individuellen Erfahrungshintergrund in einer Gesellschaft haben, in der sie von Geburt an in ihrer Geschlechterrolle sozialisiert wurden.

In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass das menschliche Gehirn eine hohe Plastizität aufweist – dass es sich also durch äußere Einflüsse verändert. Diese Tatsache gilt in ähnlicher Weise auch für andere Körperteile, seien es Muskel- und Knochenbau, die Aktivität von Hormondrüsen oder die Aktivierung und Deaktivierung von Genen in den einzelnen Zellen. In den letzten Jahren wurde von feministisch orientierten Forscher_innen das Konzept des Embodiment entwickelt. Dieses kann beschrieben werden als «die Konstituierung des individuellen Körpers, seiner Strukturen und Funktionen in einem Netzwerk gesellschaftlicher und kultureller Praxen ».¹ Noch einen Schritt weiter geht der Ansatz des Embodying, der verstärkt auf die Wechselwirkung körperlicher und gesellschaftlicher Prozesse eingeht: Nicht nur gesellschaftliche Einflüsse schreiben sich in unseren Körper ein, auch unsere Körper beeinflussen unser Denken und Handeln und wirken so zurück auf gesellschaftliche Prozesse.²

 

Unzweideutige Geschlechter

Hier zeigt sich, dass auch in der biologischen Forschung ein simples bipolares Geschlechterbild nichtmehr haltbar ist und Alternativen hierzu entwickelt werden. Obgleich Forschung, die auf den Nachweis der Zweigeschlechtlichkeit in der aktuellen Wissenschaftswelt und der populärwissenschaftlichen Verbreitung strukturelle Vorteile genießt, lohnt es sich, auch innerhalb dieser Forschungszweige darum zu kämpfen, dass emanzipatorische Forschungsansätze gehört werden.

 

Eine pauschale Ablehnung von lebenswissenschaftlicher Forschung, wie sie in Teilen der Linken verbreitet ist, behindert genau dies: Eine kritische Analyse der gesellschaftlich wirkmächtigen Forschung wird verhindert, und das Feld wird rückschrittlichen Medien und Forscher_innen überlassen, die um der Sensation Willen die naturgegebenen Gegensätze zwischen den (zwei) Geschlechtern belegen wollen.

Eine kritischer Umgang mit Geschlechterforschung erfordert deshalb neben einer theoretischen Kritik auch einen tieferen Blick auf die (natur-)wissenschaftlichen «Erkenntnisse», die in populären Wissenschaftsmedien zur Aufrechterhaltung normierender Zweigeschlechtlichkeit angeführt werden. Dazu muss das Expert_innentum und die vermeintliche Objektivität der beteiligten Wissenschaftler_innen in Frage gestellt werden. Vor allem aber müssen die Umstände und Ziele der Forschung offen thematisiert werden, um die Ergebnisse als das zu verstehen, was sie sind: Ergebnis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, in die es zu intervenieren gilt.

 

Zum Weiterlesen: Voß, Heinz-Jürgen: Geschlecht. Schmetterling Verlag, 2011

 

¹ Schmitz, Sigrid: Wie Kommt das Geschlecht ins Gehirn? Über den Geschlechterdeterminismus in der Hirnforschung und Ansätze zu seiner Dekonstruktion, in: Forum Wissenschaft 4/2004

² VGL. Schmitz, Sigrid & Degele, Nina (2010): Embodying - ein dynamischer Ansatz für Körper und Geschlecht in Bewebung. In: Degele, Nina: Schmitz, Sigrid, Mangelsdorf, Marion & Gramespacher, Elke (Hrsg.) Genderes Bodies in Motion. Budrich UniPress: Leverkusen, 13-36.