Grenzgang

Ein Nachruf auf Hermann Scheer

Als wir vom prager frühling Hermann Scheer vor wenigen Monaten interviewten, dachten wir nicht im Traum daran, dass er so plötzlich sterben konnte. Er war Stichwortgeber und Motor für das Institut solidarische Moderne und arbeitete unermüdlich an seinem Aufbau. Wir waren froh mit Hermann Scheer einen politischen Weggefährten zu haben, der ganz dem entsprach, was unser Selbstverständnis als Magazin prägt: Kritik statt Konformismus, Überschreitung statt Selbstgenügsamkeit, „Illusionslosigkeit über das Zeitalter bei gleichzeitigem Bekenntnis zu ihm“ (Walter Benjamin, Erfahrung und Armut (1922). Wir erkannten in Hermann diejenigen Tugenden, die zwischenzeitlich bei den politisch Engagierten oft zu verblassen scheinen oder gar keine Rolle mehr spielen. Nämlich die Bereitschaft Grenzen zu überschreiten, anderen und auch sich selbst gegenüber ein bisschen herausfordernd bis unangenehm zu sein; sich nicht abspeisen zu lassen. Hermann gelang dies in vielerlei Hinsicht beispielhaft. Er überschritt den Horizont der SPD-Parteipolitik und initiierte zivilgesellschaftliche Bewegung, schrieb unentwegt Bücher und hielt Vorträge, um trotzdem im entscheidenden Moment als Parlamentarier subversiven Einfluss zu nehmen. Ein Grenzgang, ein ständiges Überschreiten und Wieder-Einlassen auf die Probleme der Zeit.

Es ist genau jene Logik des Grenzgangs, die ein Leitbild des politischen Engagements innerhalb der gesellschaftlichen Linken bildet. Uns begeistern solche Grenzgänger. Karl Marx war eben kein Partei-Apparatschik, sondern kritisierte das Gothaer Programm, August Bebel und Co. Der italienische Kommunist Antonio Gramsci war Parteifunktionär und arbeitete nebenbei an einer Theorie der kulturellen Hegemonie. Der wohl einflussreichste Theoretiker der globalisierungskritischen Linken Antonio Negri besuchte in den 1960er Jahren vor seinen Vorlesungen Arbeiterversammlungen in Fabriken und Lagerhallen. Wer nach Vorbildern fragt, wird zu allererst nicht Namen wie Ernst Thälmann oder Herbert Wehner hören, sondern wahrscheinlich Namen eben jener Grenzgänger.

Die Entwicklung in den 1960er und 1970er Jahren schaffte den Spielraum dafür, dass selbst in den Parteien des politischen Systems zeitweise Platz für solche Grenzgänger, für Leute wie Hermann Scheer war. Es ist schwer vorstellbar, dass sie heute in den postdemokratisch entleerten Parteien den notwendigen Nährboden für ihren Grenzgang finden würden. Schon ohne postdemokratische Entleerung ist die Lage kompliziert: Die Grenzgänger bleiben in Erinnerung, sie motivieren und scheinen unersetzlich, in der Realität hält man sie natürlich regelmäßig für ersetzbar oder überflüssig. Sie müssen kämpfen, gehen nicht selten auf ihrem Grenzgang kaputt, mutieren zu üblen Apparatschiks oder igeln sich in Zynismus ein. Die große Leistung von Hermann Scheer bestand darin seinen Grenzgang konsequent weitergegangen zu sein und ihn auszuhalten. Er hat viel bewegt. Noch stärker wiegt jedoch das, was er nicht getan hat. Er hat sich die „Bedienung seines eigenen Verstandes“ (Kant) weder selbst verboten noch verbieten lassen. Er ist nicht Teil einer neuen Mitte geworden, die Krieg und Sozialabbau zu „humanitärer Intervention“ und „fördern und fordern“ umgedeutelt hat. Und er hat sich im Gegensatz zu vielen seiner ehemaligen Mitstreiter aus der SPD-Linken und Friedensbewegung trotz fortgeschrittenen Alters nicht in einen altväterlichen Konservatismus zurückgezogen. Mit der Idee einer „solidarischen Moderne“ hat er daran mitgewirkt eine linke Zukunftsorientierung zu mobilisieren, die grundsätzlich mit bestehenden gesellschaftlichen Grundstrukturen bricht und Grenzen zu überschreiten sucht. Mit dem Tod Hermann Scheers stellt sich die dringende Frage, wo der Ort des Grenzgangs ist, den wir so dringend brauchen, um tatsächliche Veränderungen zu bewirken? Wer soll ihn überhaupt gehen und wer geht ihn schon? Wo ist seine Schule?