Allgemein begreiflich, oder?

Ein Wiener Staatsanwalt findet den Mordversuch an einer Ehefrau "allgemein begreiflich". In der Rechtssprechung bleibt "Normalität" männlich.

Im Rahmen eines Scheidungsverfahrens übergab die Ehefrau ihrem Gatten im Oktober 2009 eines Tages die Scheidungspapiere, worauf er zu einem Messer griff und mehrfach auf sie einstach. Anschließend verprügelte er sie noch mit einem Stahlrohr. Sie überlebte nur knapp.
Im Strafprozess gegen den Täter, der im Jänner 2010 in Wien stattfand, argumentierte der Staatsanwalt in seiner Anklage, die Tat sei aus einer „allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung“ heraus passiert, weshalb er, der Staatsanwalt, statt auf Mordversuch nur auf versuchten Totschlag plädiere – immerhin ein Unterschied von mehreren Gefängnisjahren. „Gerade Ausländer oder Personen mit Migrationshintergrund“, so die Anklagebegründung, „befinden sich häufig in besonders schwierigen Lebenssituationen, die sich, auch begünstigt durch die Art ihrer Herkunft, in einem Affekt entladen können.“ Das Gericht folgte der Anklage, verurteilte den Mann zu sechs Jahren Haft wegen versuchten Totschlags und schöpfte damit nicht einmal den Strafrahmen von zehn Jahren aus.
Die Folge: Eine heftige politische und juristische Debatte, auf die .Justizministerin Claudia Bandion-Ortner mit einem Erlass reagierte. Dieser betont, dass „der Grad der Heftigkeit der Gemütsbewegung“ – also der Affekt – nach denselben Kriterien bemessen werden soll wie bei einem in Österreich geborenen Mann.
Allerdings legte Bandion-Ortner danach noch eins drauf und sprach sich dafür aus, in Zukunft „religiös motivierte Gewalt“ als Erschwernisgrund bei der Strafbemessung hinzuzufügen. Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek forderte stattdessen „Gewalt in der Familie gegen Schwächere“ als Erschwernisgrund, denn die Motive für männliche Gewalt in der Familie seien ihr „prinzipiell wurscht“.
Kern der rechtspolitischen Diskussionen war und ist aber die Formel „allgemein begreiflich“. Wäre die „heftige Gemütsbewegung“, die (angeblich) zur Attacke auf die Frau geführt hatte, nämlich nicht „allgemein begreiflich“ gewesen, hätte die Anklage auf versuchten Mord lauten müssen. Juristisch gesehen ist die Formel „allgemein begreiflich“ das entscheidende Tool, das StaatsanwältInnen dabei helfen soll, diese zentrale Entscheidung zwischen einer Mord- und einer Totschlaganklage zu treffen. Damit soll erörtert werden, ob der individuelle Rechtfertigungsdiskurs des Täters/der Täterin auch gesellschaftlich akzeptiert wird. Das ist allerdings des Pudels Kern: Wer ist diese Allgemeinheit, die ein Verhalten wie in diesem Fall als begreiflich ansieht?
Die Schweizer Historikerin und Staatsrechtlerin Regula Ludi stellt fest, dass „eine der Hauptfunktionen des Strafrechts darin besteht, den gesellschaftlich unerwünschten Exzess der an und für sich als normal geltenden männlichen Aggressivität zu absorbieren“. Wenn männliche Aggressivität also die Norm ist, an der sich das Strafrecht orientiert, dann kann es sich bei jener „Allgemeinheit“, die den Grad dieser Aggressivität „begreiflich“ findet, wohl auch nur um eine männliche handeln. Dass das nicht nur theoretisch so funktioniert, belegt z.B. die Presseaussendung der Väterrechtler-Gruppe „Forum Kinderbeistand“ zum Mord an einer Rechtspflegerin am Bezirksgericht Hollabrunn im Dezember 2009 durch einen Mann, der nach seinem Scheidungsurteil die zuständige Richterin erschießen wollte. Das „systematische Unrecht gegen Männer, insbesondere Väter, durch Familienrichterinnen“ rufe, so heißt es in der Aussendung, den „Zorn der Männer“ hervor, und genau hier ende das „rechtsstaatliche Selbsthilfeverbot“ (sprich: das Verbot der Selbstjustiz).
Hätte der Täter von Hollabrunn statt der Gerichtsangestellten seine geschiedene Gattin umgebracht, käme ein so inniges Verständnis sicherlich nicht nur von ganz rechts außen, dann würde womöglich ein anderer Staatsanwalt wieder eine „allgemein begreifliche Gemütsbewegung“ feststellen und aus einem Mord einen Totschlag machen.
Der Rest der Argumente im obigen Fall („Art der Herkunft“, „fremde Sittenvorstellungen“ oder „religiös motivierte Gewalt“) ist einfach nur rassistisch – oder aber ein schwer missglückter Versuch, auf Lebensverhältnisse zu rekurrieren, unter denen MigrantInnen ja tatsächlich vielfach leiden, nämlich ökonomisch und sozial prekär leben zu müssen. Missglückt deswegen, weil einerseits häusliche Gewalt nicht klassenspezifisch ist und weil andererseits der Verweis auf die „Herkunft“ mit dem Gedanken an besonders „affektgesteuerte Südländer“ spielt.
Was bleibt ist die Einsicht, dass zumindest in der Rechtsprechung „normal“ immer noch „männlich“ bedeutet. Um das zu verändern, braucht es massive hegemoniale Verschiebungen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs, denen die Rechtsprechung dann auf Dauer folgen würde.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at