Rassifizierung ohne „Rasse”

Biologisch begründeter Rassismus im Wissenschaftsbetrieb

Ein biologisch begründeter Rassismus spielt im Wissenschaftsbetrieb weiter eine Rolle. Das zeigt der neu erschienene Sammelband „Gemachte Differenz“ der Berliner „AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften“. Eine GID-Redakteurin sprach mit der AG über ihren Aktivismus, über Rassismus und Genetik, und darüber, wie man in Deutschland Rassismus kritisieren kann, wenn der Begriff „Rasse“ diskreditiert ist.

 

Gespräch mit Karsten Mayer und Alex Pisarek von der AG gegen Rassismus in den

Lebenswissenschaften.

 

+++ Dieser Artikel ist Teil des Themenschwerpunkt "Rassismus in den Lebenswissenschaften" im aktuellen GID (Nr. 197) http://www.gen-ethisches-netzwerk.de/+++

 

 

Susanne (GID): Hinter Euch liegen einige Jahre des politischen Aktivismus, ein gut besuchter Kongress in 2006 und ein Buchprojekt. Gab es einen konkreten Anlass, warum Ihr Eure AG vor einigen Jahren gegründet habt?

 

Alex: Im Wintersemester 2004 nahmen wir an einem interdisziplinären Seminar der Biologie, Philosophie und Gender Studies an der Humboldt-Universität Berlin teil. Schon beim zweiten Termin erklärte ein Biologie-Professor dort, es wäre klar, dass es Menschen-Rassen gebe. Es kam zu einer Auseinandersetzung; er beharrte auf seinem Standpunkt. Schließlich forderten mehrere Studis, dass sie nicht mit dem Seminarplan fortfahren, sondern erstmal dieses Thema besprechen wollten. Als dies scheiterte, verließ die Hälfte der 70 Teilnehmenden das Seminar und gründete ein autonomes Seminar, aus dem dann unsere AG hervorging.

 

Susanne: Was habt Ihr weiter unternommen?

 

Karsten: Der Stress an der Uni zeichnete sich von Anfang an ab und manche hatten Angst. Es gab dann ein anonymes Flugblatt, das ziemlichen Wirbel verursachte. Die Unileitung wiegelte von Anfang ab und erklärte uns zum eigentlichen Problem. Der Vizepräsident und VertreterInnen der verschiedenen Fachbereiche veröffentlichten zum Beispiel ganz schnell ein Statement, in dem sie uns vorwarfen, wir betrieben eine Verleumdungskampagne. Wir hatten den Biologieprofessor aber nicht als Rassisten beschimpft, sondern skandalisiert, was er tatsächlich gesagt hatte.

 

Alex: Es ging uns ja gar nicht so sehr um seine Person. Unsere Forderung war vielmehr, Rassekonzeptionen in den Biowissenschaften allgemein zu problematisieren. Darauf ging die Unileitung aber überhaupt nicht ein.

 

Susanne: Da wären wir ja schon beim Thema: Weit verbreitet ist die These, dass ein biologisch begründeter Rassismus heute höchstens noch bei den Ultrarechten eine Rolle spielt. Heute hätten wir es eher mit einem kulturalisierten Neorassismus zu tun. Ist diese Analyse falsch?

 

Karsten: Diese Analyse ist falsch und richtig. Kultur hat die Biologie nicht abgelöst. Es gibt eher Verschiebungen in einer Kontinuität des Sowohl-als-Auch. Denn einerseits wurde „Rasse“ schon in Zeiten, als biologische Rassetheorien dominant waren, auch mit Bezug auf Kultur erklärt. Andererseits ist die biologische Begründung von Rasse heute sowohl im Alltagsdiskurs als auch im wissenschaftlichen Diskurs weiter allgegenwärtig - trotz der Tendenzen der Kulturalisierung. Im Alltagsdiskurs wirkt Rassismus nach wie vor auf der Grundlage biologischer Eigenschaften. Insbesondere der Hautfarbe wird weiterhin viel Bedeutung zugeschrieben. In den Lebenswissenschaften haben sich biologische Rassekonzepte zwar verändert und werden anders begründet. Es wird nicht mehr so explizit hierarchisch gedacht. Aber die Denkweise, dass es „Rassen“ oder nach „Rassen“ einteilbare Menschengruppen gibt, hat sich gehalten. Und das gilt, auch wenn heute mit Euphemismen wie „Metapopulation“, „Ethnizität“ oder „Migrationshintergrund“ hantiert wird.

 

Alex: Außerdem gibt es eine Erneuerung und Veränderung in der Weise, wie sich die Biowissenschaften mit „Rasse” beschäftigen, was sich mit Begriffen wie Genetifizierung und Molekularisierung beschreiben lässt. Gerade im letzten Jahrzehnt sind sehr viele Biostudien entstanden - es lässt sich wirklich von einem Boom rassifizierender Differenzforschung sprechen.

 

Susanne: Was heißt das konkret?

 

Alex: Die Geschichte der Rassentheorien lässt sich grob periodisieren: Zunächst gab es die klassischen Konzeptionen, die oftmals typologisch vorgegangen sind, sich also nur an Kriterien des Äußeren abgearbeitet haben und entsprechende Messungen vorgenommen haben. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts widmeten sich die ForscherInnen dann vorwiegend populationsgenetischen Konzepten der Rasseforschung. Die Populationsgenetik geht ja nicht mehr von reinen Merkmalen aus, die eine „Rasse“ typisieren würden, sondern von der Wahrscheinlichkeitsverteilung einzelner genetischer Unterschiede. In den letzten 20 Jahren herrschen nun Forschungen vor, die sich im Bereich der Molekulargenetik abspielen. Von einer Genetik der Rasse hat man zwar auch schon Anfang des 20. Jahrhunderts geredet. Aber erst durch technische Neuerungen seit den 80er und 90er Jahren sind Projekte möglich, die versuchen, so etwas wie „Rasse, „Ethnizität“ oder „Nationalität“ auf der Ebene der DNA abzubilden. Diese Molekularisierung von Rasseforschung findet in verschiedenen Bereichen statt: in der Forensik, der Medizin, der Ahnenforschung und der Pharmakologie.

 

Susanne: Anscheinend stürzt sich heute die Genomforschung auf die 0,1 Prozent des Genoms, die das Humangenomprojekt vor einigen Jahren überhaupt als unterschiedlich zwischen den Menschen identifiziert hat. Manche befürchten, dass diese sogenannte Diversitäts-Forschung allgemein einer Wiederbelebung von Rassekonzepten Vorschub leistet. Denn auch diejenigen, die auf eine personalisierte Medizin abzielen, entwickeln schließlich Kriterien zur Unterscheidung von Menschengruppen.

 

Alex: Der Boom an neuen Studien kann als Anzeichen dafür gewertet werden. Und noch etwas ist wichtig: Mit der Möglichkeit, Menschen auf der Grundlage von Gen-Daten klassifizieren zu können, also etwa auf Grundlage der SNPs, der Punktmutationen oder ähnlicher Marker, wurde ein großer Traum der Rassenforschung letztendlich wahr - nämlich, über eindeutige Unterscheidungsmerkmale zwischen Personen zu verfügen. Bisher war dies nur graduell möglich - so etwa anhand von Schädelmessungen oder Farbtabellen. Heute gibt es die Vision einer binären Unterscheidungsmöglichkeit: Ist eine bestimmtes Nukleotid an einer spezifischen Stelle der DNA vorhanden oder nicht?

 

Susanne: Es gibt ja für die Kritik ein Problem: Gesellschaftstheoretische Rassismusanalysen zeigen, dass „Rasse“ ein soziales Konstrukt ist. In der Biologie gibt es aber auch Strategien, den Begriff der „Rasse“ in Frage zu stellen, indem biologisch anerkannte Unterschiede zwischen Menschengruppen von nicht anerkannten - „wie Rasse“ - unterschieden werden. Welche wissenschaftspolitische Haltung habt ihr dazu? Sollte man sich auf die Suche nach biologischen Unterschieden zwischen Menschen überhaupt einlassen?

 

Alex: Das ist eine schwierige Frage.

 

Karsten: Wir haben uns um diese Frage ein bisschen gedrückt. Wir mussten uns ja auch keinen Kopf machen, weil sozialwissenschaftliche Kritik in den Lebenswissenschaften sowieso wenig Gehör findet. Kein Genetiker und keine Genetikerin tritt mit uns in Dialog und fragt, wie man jenseits von Rassekonzepten in den Lebenswissenschaften Differenz fassen könnte. Diese Frage ist aber wichtig. Ich würde sagen, dass es in einer Gesellschaft, wo „Rasse“ strukturell eine hohe Bedeutung hat, wo Rassismus unser Denken durch und durch bestimmt, sehr schwierig ist, sich jenseits von Rasse auf körperliche Unterschiede zu beziehen, wenn diese mit Rasse total aufgeladen sind. Meiner Meinung nach sollte immer abgewogen werden zwischen dem Nutzen einer bestimmten Forschung und der Gefahr, dass damit Rassekonzepte wieder auf den Plan gerufen werden. Wenn etwas als nützlich angesehen wird, zum Beispiel, dass die Forschung zu Vitamin-D-Mangel nach Hautfarbe unterscheidet, dann ist es erstmal wichtig, nicht mit „rassischen“ oder ethnischen Kategorien zu arbeiten, sondern konkret zu benennen, nach welcher Eigenschaft man differenziert.

 

Alex: Ich würde das noch mehr zuspitzen und sagen: Menschen in den Lebenswissenschaften nach Rasse zu differenzieren ist notwendigerweise unzureichend. Die Populationsgenetik sagt seit über 40 Jahren, dass Unterschiede zwischen Menschen innerhalb aller Populationen viel größer sind als die Unterschiede zwischen den Populationen. „Rasse“ kann somit kein adäquates Mittel sein, um Unterschiede darzustellen.

 

Susanne: Wenn ich das richtig verstehe, benutzt Ihr den Begriff „Rasse“, auch wenn in Deutschland kaum jemand diese Kategorie explizit benutzt. Ihr wollt zeigen, dass zwar die Rede ist von Ethnizität, Nationalität oder Migrationshintergrund, dass diese Kategorien aber implizit trotzdem die alten Rassevorstellungen in sich tragen?

 

Karsten: Gut ist, dass es in Deutschland ein gesellschaftliches Problembewusstsein um den Begriff der „Rasse“ gibt, weswegen er auch kein gängiger Begriff in den Lebenswissenschaften ist. Der Nachteil ist, dass es somit auch keine angemessene Benennung dessen gibt, was wir Rassifizierung nennen. Denn „Rasse“ hat als soziales Konstrukt weiterhin eine enorme Wirkmächtigkeit und ist Realität. Rassismus durchzieht unsere Gesellschaft, weist Menschen bestimmte Positionen zu und hat soziale Ungleichheit zur Folge. In der deutschsprachigen Postkolonialen Theorie gibt es deswegen auch Debatten darum, ob es sinnvoll wäre, wieder einen analytischen Rassebegriff einzuführen, um das überhaupt benennen zu können.

 

Susanne: Ihr seid derzeit in Deutschland wahrscheinlich die einzige politische Gruppe, die dieses Thema in die Öffentlichkeit trägt. In den USA haben sich in der letzten Zeit einige NGOs und WissenschaftlerInnen kritisch zu Rassismus und Genetik geäußert. Sie weisen darauf hin, dass das Thema zumindest auf den ersten Blick politisch ambivalent ist. Es sind AfroamerikanerInnen, die sich besonders für Abstammungsgentests interessieren, weil ihre Genealogien durch den Sklavenhandel unterbrochen wurden. Oder es gibt das Argument, dass gruppenspezifische Medikamente besonders der afroamerikanischen Bevölkerung zugute kommen könnten, die sonst sozial und gesundheitlich benachteiligt sind. Wie reagiert Ihr auf diese politischen Ambivalenzen?

 

Alex: Tatsächlich geht es der Rasseforschung heute nicht mehr um den Beweis der Minderwertigkeit der Anderen, sondern vorherrschend sind nun diese Rechtfertigungsstrategien für eine nach „Rasse“ beziehungsweise äquivalenten Kategorien differenzierende Forschung - in dem Sinne: Das ist gut für die anderen, die wir da beforschen. Wie weit diese aktuellen Forschungen tatsächlich derzeit in Deutschland oder auch in vielen anderen europäischen Ländern sind, darüber gibt es hier kaum sozialwissenschaftliche Untersuchungen. In unserem Sammelband haben wir versucht, einen Überblick zu geben. Auf jeden Fall gibt es im deutschsprachigen Raum das 1000 Genome Projekt und forensische Genomanalysen (siehe Kasten S.15). In der Schweiz gibt es einen Ableger des weltweit größten Anbieters für Abstammungsanalysen. Da können sich die KundInnen bestimmen lassen, von welchem  „Urvolk“ - jüdisch, germanisch, keltisch und so weiter - sie abstammen. In der Medikamentenforschung gibt es auch in Deutschland Beispiele, bei denen nach „Rasse“ differenziert und etwa für Personen mit dunkler Hautfarbe eine andere Dosierung empfohlen wird. Leider gibt es bisher zu wenig eine kritische Beobachtung.

 

Susanne: Wie ist es möglich, in Deutschland Politik zu Rassismus und Genetik zu machen, wenn dies eher eine verdrängte Frage ist? Habt Ihr ein paar Tipps für uns?

 

Karsten: Meines Erachtens müsste eine wirkliche Auseinandersetzung um Rassetheorien und Rassismus in den deutschen Lebenswissenschaften noch nachgeholt werden. Unser Buch zeigt, dass es eine Kontinuität in Deutschland nach 1945 gab, dass Leute, die etwa in der Rassenhygiene gearbeitet haben, weiter beruflich und wissenschaftlich aktiv bleiben konnten. Zwar forschten sie irgendwann nicht mehr so offen auf der Basis von Rasse-Kategorien und benutzten andere Begriffe. Aber es gab keine Auseinandersetzung darüber, wie solche lebenswissenschaftlichen Konzepte ja zu extrem gewaltsamen geschichtlichen Ereignissen führen konnten.

 

Susanne: Wo könnte diese Auseinandersetzung stattfinden?

 

Karsten: Sie muss Teil der Lebenswissenschaften werden. Es müsste dafür Stellen, Seminare und Konferenzen geben. Bisher wird unsere Kritik immer als etwas Gesellschaftswissenschaftliches verstanden und abgebügelt. Dabei geht es auch darum: Wie kann man andere lebenswissenschaftliche Methoden und Epistemologien entwerfen, die nicht rassifizierend wirken? Und es geht darum, Rassismus als strukturell zu verstehen. Wenn die Lebenswissenschaften Rassismus überhaupt thematisieren, dann nicht als strukturelle Frage, als etwas, das unsere gesamte Gesellschaft durchzieht und ordnet, sondern als etwas, was in der extremen Rechten vorkommt, oder als Gewalt und Diskriminierung, die nur diejenigen betrifft, die als „anders“ ethnisiert oder rassifiziert werden.

 

Susanne: Noch eine letzte Frage: Gab es im Laufe Eurer Arbeit irgendeine Überraschung, etwas, das ihr vorher nicht vermutet hattet?

 

Alex: Unsere gesamte AG startete damals mit der Überzeugung: „Rasse“ hat keine wissenschaftliche, also biologische Bedeutung mehr, sie ist von der Genetik zurückgewiesen worden. Es war für mich eine überraschende Lernerfahrung, feststellen zu müssen - erst durch die Untersuchung einzelner Forschungen, dann aber auch in der Breite verschiedener Forschungsbereiche -, dass diese mit einem zwar erneuerten aber kontinuierlich bestehenden und entwickelten Verständnis von „Rasse“ hantieren. Frappierend fand ich auch, wie wenig Kritik es auch innerhalb des Antirassismus dazu gibt. Umso besser, dass sich immerhin die Gentechnik-Kritik dem widmet.

 

Susanne: Danke für die Lorbeeren!

 

Das Gespräch führte Susanne Schultz.

 

 

Der Sammelband der AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hg.): Gemachte Differenz. Kontinuitäten biologischer „Rasse“-Konzepte, Unrast Verlag, Münster, ISBN: 978-3-89771-475-5, 19, 80 Euro.