Iran steht vor einer neuen Revolution. Die Wahlen und deren offensichtlicher Betrug haben die Spaltung des Landes zu Tage gefördert. Die theokratische Herrschaft kann sich nur noch durch einen ölgeförderten Klientelismus am Leben erhalten und steht nun dort, wo der Schah vor dreißig Jahren gestanden hat. Nur durch eine kluge Politik, die auch Versöhnung bietet, kann ein friedlicher Machtwechsel herbeigeführt und die Demokratisierung des Landes ermöglicht werden.
Es ist nun einige Monate her, seit im Iran eine neue revolutionäre Situation entstanden ist. Dabei hat sich die Führung der Islamischen Republik offensichtlich dafür entschieden, die
Theokratie nur noch mit der Macht der Bajonette und der Öleinnahmen für eine Weile künstlich am Leben zu erhalten. Es steht fest: Ayatollah Khamenei hat bei der überwältigenden Mehrheit des durch und durch islamischen Volkes seine Legitimation verloren. Weniger im Lande selbst, wohl aber im Ausland, wo die Meinungen über den Hintergrund der neuen Staatskrise über die zentralen Akteure und die Perspektive des
Aufstandes weit auseinandergehen. Am stärksten ist die Verwirrung bei einem Teil der internationalen Linken. Genährt wird sie durch eine oberflächliche Wahrnehmung von Ahmadinedschad als Beschützer der Armen, durch schlechte Erfahrungen mit so zahlreichen orangenen Revolutionen in Osteuropa und der erklärten Absicht der US-Neocons, im Iran einen Regime Change herbeizuführen. Durch eine selektive Kombination von wirklichen und vermeintlichen Fakten sind Argumentationsmuster schnell gestrickt: Die Reformbewegung sei erstens weiterhin islamisch geprägt, zweitens hinsichtlich ihrer Intention nicht viel besser als Khamenei und Ahmadinedschad, da auch sie sich letztlich an den Öleinnahmen bereichern wolle.
Manche aus dem linken Lager mögen auch enttäuscht sein, dass Mussawi nicht zur sozialistischen Revolution aufruft, sondern in aller Bescheidenheit lediglich für mehr Demokratie und weniger Theokratie eintritt. Bei derart oberflächlicher Betrachtung übersieht man jedoch allzu leicht, dass die gegenwärtige Volksbewegung ihrem Wesen nach die Fortführung der unterbrochenen Revolution von 1979 ist und dass Khamenei – und somit auch die Theokratie – heute genau dort steht, wo der Schah und die Monarchie vor dreißig Jahren standen. Klientelismus und die Entstehung der Islamischen Theokratie Schon der monarchistische Staat hatte ein rentierstaatlichklientelistisches Gerüst. Der Schah hatte einen auf Gewalt beruhenden monopolistischen Zugang zu den Ölrenten. In der Illusion, die Monarchie dank der Öleinnahmen für alle Ewigkeit festigen zu können, hatte er in den 1970er Jahren die iranische Armee massiv ausgebaut und den Armeeangehörigen im Austausch gegen Loyalität, ganz im Sinne klientelistischer Machtabsicherung, allerlei Privilegien gewährt. Just in dem Moment, als der Schah-in-Schah (König der Könige) den Gipfel seiner Macht erklommen hatte, brach die antimonarchistisch- islamische Revolution aus und das System fiel im Februar 1979 wie ein Kartenhaus zusammen. Die Monarchie und ihr Herrschaftssystem wurden unwiderruflich beendet und ihrer systemtragenden Elite blieb keine andere Wahl, als in die USA zu flüchten. Im selben Jahr wurde durch ein Referendum mit Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Iraner die Islamische Republik ausgerufen. Sie entstand mit aktiver Beteiligung bzw. Zustimmung fast aller sozialen und politischen Strömungen, einschließlich diverser linker Gruppierungen. Aus der ursprünglich Islamischen Republik entwickelte sich im Laufe der 1980er Jahre jedoch die islamisch-theokratische Republik. Neben den demokratisch-republikanischen und direkt vom Volk gewählten Institutionen wie dem Parlament, dem Staatspräsidenten und dem Expertenrat wurde der Wächterrat – im 1. Verfassungsentwurf als durch das Parlament gewähltes Kontrollorgan gedacht – mit entsprechenden Verfassungsänderungen zu einem alles beherrschenden Machtinstrument in der Hand des Revolutionsführers etabliert. Es handelt sich um eine vereinfachte Darstellung der Struktur des politischen Systems der Islamischen
Republik. Zu weiteren Institutionen und Organen gehören der Schlichtungsrat, die Judikative, die Streitkräfte und staatliche Funk- und Fernsehanstalten, die alle (mit Ausnahme des Schlichtungsrats) direkt vom Revolutionsführer kontrolliert werden. Der Revolutionsführer selbst herrscht gemäß Artikel 57 der Verfassung über alle drei Staatsgewalten (Legislative, Judikative und Exekutive) und ernennt ganz allein die Leitung der Armee und der staatlichen Medien. Die und wir – Ein theokratisches Apartheidsystem Die neu gefestigte Theokratie verwandelte das politische System in einen theokratischen Apartheidstaat. Die Theokratie spaltete das Volk fortan in zwei Teile, in Khodi (die Unsrigen oder Systemtreue) und in Ghaire Khodi (Fremde oder Systemgegner). Die Spaltung der Gesellschaft zog sich durch alle sozialen Gruppen, durch die Familien, ja sogar durch jeden Einzelnen, der nun gezwungen war, mit zwei Gesichtern zu leben: im öffentlichen Leben anders als privat, gegenüber den Vorgesetzten anders als gegenüber dem eigenen Wissen und Gewissen. Unzählige hoch
ausgebildete Fachkräfte konnten dieses Leben in Lüge nicht ertragen und kehrten dem Land den Rücken. Die politische Spaltung in zwei Lager entstand, indem der Wächterrat nur Systemtreue als Kandidaten bei den Wahlen für alle republikanischen Institutionen zuließ. Indem aber die theokratische Herrschaft, vor allem nach Khomeinis Tod und mit Khamenei als neuem religiösen Führer, ihre Legitimation auf den „systemtreuen“ Teil des Volkes reduzierte und die „Fremden“, also Systemgegner, systematisch ausschloss, schaufelte sie letztlich auch ihr eigenes Grab, an das sie in den letzten zwanzig Jahren immer näher heranrückte. Und in dem Maße, wie der Wächterrat und der Revolutionsführer, der Logik der Willkür folgend, immer neue Gruppen und Personen – letztlich das gesamte Reformlager – als Systemgegner ausgrenzte, vergrößerten sie auch die Lücke der eigenen
politischen Legitimation. Bei der Wahl des neuen Staatspräsidenten am 12. Juni 2009 ging es nicht um eine Wahl zwischen Reichen und Armen, Nord und Süd, Stadt und Land, sondern ausschließlich darum, die theokratische Herrschaft zu erhalten oder sie zu überwinden und die Islamische Republik sozusagen zu republikanisieren. Alle Prognosen, die einige Wochen vor dem Wahltag Ahmadinedschad als Favoriten deklarierten – und darauf beziehen sich alle Argumente für die Authentizität der offiziell verkündeten Wahlergebnisse
– mögen mit seriösen Methoden ermittelt worden sein, für die Beurteilung der Wahlergebnisse sind sie jedoch untauglich. Sie konnten allesamt nämlich jenen Stimmungswechsel in den letzten zwei Wochen vor der Wahl, der wellenförmig von Teheran aus bis in die entlegensten Gegenden Irans hinüberschwappte, eben nicht erfassen. Die durch die Theokratie ausgeschlossene Zivilgesellschaft und große Mehrheit der Bevölkerung
hielt intuitiv ihre Stunde für gekommen, um der Theokratie durch ihr Votum für einen Außenseiter eins auszuwischen. Genau das war auch 1997 der Fall, als die Wähler mit ihrem
spontanen Votum und entgegen allen Vorhersagen den damaligen Außenseiter Khatami zum Präsidenten wählten und ihn zum Idol der Reformbewegung machten. Damals wie heute spielten Frauen wie Jugend mit ihrem kreativen Einsatz eine entscheidende Rolle. Insofern ist es wissenschaftlich unseriös, sich auf „seriöse Wahlprognosen“ von mehreren Wochen vor dem Wahltag zu berufen. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben – anonym aus dem Innenministerium herausgeschleusten Informationen zufolge – für Ahmadinedschad
ca. 5,7 Millionen – für einen gescheiterten Präsidenten immer noch sehr viel –, für die Gegenkandidaten insgesamt über 35 Millionen, darunter für Mussawi über 19 Millionen Wähler, gestimmt. Die Stimmen für Ahmadinedschad stammen – dank sprudelnder Ölrenten – von Millionen klientelistisch Privilegierter unter den sogenannten Revolutionswächtern, paramilitärischen Bassidsch, Teilen der Staatsangestellten, ideologisch Verblendeten, religiös
Gutgläubigen und uninformierten Landbevölkerung, die auf den Populismus und die Gerechtigkeitsphrasen Ahmadinedschads hereingefallen sind. Für neue Hoffnungsträger und die Gegner der Theokratie stimmten aus allen sozialen Schichten fromme Moslems wie Laizisten, traditionalistische wie moderne Frauen und Männer, Ältere wie vor allem Jungendliche, Intellektuelle wie Arbeiter, Reiche wie Arme, also alle jene Menschen, die der
gesellschaftlichen Spaltung, der alltäglichen Erniedrigung durch Propaganda und der offensichtlichen Plünderung der Staatskasse überdrüssig geworden waren, die Ahmadinedschad bis zum Exzess betrieben hat. Der gigantische Wahlbetrug machte selbst
einen Teil von Ahmadinedschads Wählern zu seinen Gegnern und erschütterte vollends die Legitimation von Ayatollah Khamenei und der theokratischen Herrschaft. Von den neun Großayatollahs des Landes – das moralische Rückgrat der Islamischen Republik – steht bisher ein einziger hinter dem religiösen Führer. Quelle des Klientelismus: Das Öl Die theokratische Herrschaft beruht, wie die monarchistische Herrschaft, auf denselben zentralistischen Staatsstrukturen; sie speist sich aus derselben ökonomischen Quelle: den Ölrenten. Daher verwundert es kaum, dass seit Ende der 1980er Jahre mit der Wahl von Khamenei – als Nachfolger von Khomeini – zum religiösen Führer, das rentierstaatlich-klientelistische System der Schah-Herrschaft, allerdings im religiösen Gewand, restauriert
wurde. Für die spezifisch theokratische Erscheinung des Systems müssen allerdings weitere Faktoren berücksichtigt werden:
(a) der von Gott hergeleitete theokratische Alleinvertretungsanspruch;
(b) die schwach entwickelte Demokratiekultur und die Geringschätzung pluralistischer Koexistenz von Meinungen und Lebensstilen mit tiefen Wurzeln in vor- und nachislamisch-orientalischen Kulturen à la orientalischer Despotie; und vor allem
(c) das Interesse am Zugang zu den Öleinnahmen (Renten), das die monopolistisch-zentralistische Herrschaft begünstigt, die Demokratisierung dagegen massiv behindert.
Konkurrenz verschiedener Machtflügel Die theokratische Herrschaft wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Konkurrenz verschiedener Machtflügel in der Islamischen Republik und der sich um diese herum gescharten Fraktionen der staatskapitalistischen Ökonomie. Khamenei als Staatspräsident (1981-1989) machte sich zum Interessenvertreter der einfachen
Mullahs, der unteren Schichten der Revolutionswächter und eines Teils der Basar-Händler. Rafsanjanis Klientelismus während seiner Präsidentschaft (1989-1997) zielte auf einflussreiche Geistliche, auf das Führungspersonal im Machtapparat (einschließlich der
Revolutionswächter), auf die Großhändler und auf die Wirtschaftselite, die dank seiner kuriosen Privatisierung der Staatsbetriebe über Nacht zu Geld und Eigentum kamen. Ahmadinedschad schließlich trieb in seiner Amtszeit (2005-2009) den Klientelismus
dank hoher Ölpreise und sprudelnder Öleinnahmen auf die Spitze. Als erste Amtshandlung entließ er das gesamte Führungspersonal im Staatsapparat (ca. 200.000) und besetzte die Posten mit seinen, in der Regel unerfahrenen Anhängern. Er öffnete vor allem der Führung der Revolutionswächter und der im achtjährigen Krieg gegen den Irak kämpfenden Generation Tür und Tor, um ein riesiges Wirtschaftsimperium mit Filialen im Ölsektor, im Bausektor und in anderen Wirtschaftszweigen aufzubauen und sich endlich ihren eigenen Anteil an den Öleinnahmen zu holen. Diejenigen, die sich acht Jahre lang im Krieg gegen den
Irak bis an die Grenze der Selbstaufopferung für ihr Vaterland eingesetzt hatten, wollten nicht länger nur die Zuschauerrolle spielen, während die reichen Eliten wie Rafsanjani und andere, die Hunderttausende junge Männer in den Krieg geschickt hatten, sich weiter bereicherten. Nicht nur an die Krieger von gestern, sondern auch auf seinen Reisen in die Provinz verteilte Ahmadinedschad, an allen Kontrollorganen des Systems vorbei, Almosen
nach eigenem Gutdünken und einer archaischen Gerechtigkeitslogik. Er stürzte dadurch die iranische Wirtschaft in die Krise und erteilte der Inflation und Bodenspekulation einen neuen, noch nie dagewesenen Auftrieb. Aura des Unbestechlichen Seine gnadenlose Kampfansage an Rafsanjani und dessen korruptes Umfeld diente lediglich als willkommener Vorwand,
seinen eigenen Klientelismus zu kaschieren bzw. als gerecht zu legitimieren. Die undurchsichtige Zurückhaltung Rafsanjanis im Kampf der Volksbewegung gegen die Theokratie wirft ein Licht auf sein Dilemma und das seines sozialen Umfelds: Einerseits
lehnt er die Radikalität von Khameneis Theokratismus wegen dessen desaströser Außenpolitik und seiner Allianz mit seinem Hauptgegner Ahmadinedschad ab, andererseits könnte auch er nach einem Machtwechsel ein erstes Opfer der Demokratisierung
werden. Denn dann müsste er für seine Rolle während des irakisch-iranischen Krieges ebenso Rechenschaft ablegen wie über seine Verantwortung für den Terror an den kurdischen Spitzenpolitikern (Mykonos-Affäre) und die „Kettenmorde“ an Oppositionellen während seiner Regierungszeit. Daher istes auch irreführend, Rafsanjani als Lenker Mussawis und der Demokratiebewegung hochzustilisieren.
Als einziger Staatspräsident erteilte Khatami in seiner Regierungszeit (1997-2005) dem rentierstaatlichen Klientelismus eine Absage und zog dadurch den Zorn der Öleinnahmenprofiteure auf sich, die nahezu alle seine Reformprojekte blockierten und
ihn scheitern ließen. Auf Khatamis Vorschlag hin beschloss das Parlament, nach dem norwegischen Modell, die Einrichtung eines Öleinnahmefonds, aus dem die Regierung Gelder nur mit Zustimmung des Parlaments entnehmen dürfe. Gerade weil aber Ahmadinedschad sich dieses Fonds widerrechtlich bediente und sich obendrein weigerte, dem Parlament darüber Rechenschaft abzulegen, zielten die Wahlprogramme aller Reformkandidaten
und Gegner von Ahmadinedschad bei der letzten Wahl im Juni 2009 auf diese willkürlich-klientelistische Politik des Präsidenten und prangerten offen die theokratische Herrschaft an, die mit dem Wächterrat das Hauptübel und Rückgrat der klientelistischen Staatsstrukturen darstellt. Gerade in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Reformbewegung ihrem Wesen nach eindeutig von anderen Flügeln des Systems, die sich aus Furcht, ihre Alimentierung
zu verlieren, fest an die Theokratie klammern und diese, solange es geht, mit Klauen und Zähnen verteidigen wollen. Rolle der Demokratiebewegung und Regime Change Manch einer mag glauben, die angeblich von außen gesteuerte Demokratiebewegung würde das Regime schwächen und Israel sowie den USA eine Steilvorlage dafür liefern, endlich den
erwünschten Regime Change herbeizuführen. Israel hat definitiv kein sonderliches Interesse an einer iranischen Demokratiebewegung, sehr wohl aber – so paradox es auch erscheinen mag – am Feindbild Ahmadinedschad. Seit über zwei Jahrzehnten ist einerseits die Angst vor der „iranischen Bedrohung“ das wichtigste Instrument der innerisraelischen Konsensherstellung und Ablenkung von der eigenen Besatzungspolitik in Palästina. Andererseits spielt auch die antiisraelische Propaganda im Iran eine ähnlich legitimierende Funktion für die Theokratie. Irans Demokratiebewegung ist somit nicht nur eine Gefahr für die Theokratie im Iran, sondern auch eine große Gefahr für Hardliner außerhalb. Im Unterschied zu Israel besteht dagegen zwischen dem neuen US-Präsidenten und der Demokratiebewegung Irans durchaus ein politisch positiver Zusammenhang. Dank Obamas versöhnlicher Rede in Kairo, die für Sympathie und Vertrauen in der gesamten islamischen Welt warb, gewann die aus dem politischen System ausgeschlossene iranische Zivilgesellschaft einen zusätzlichen Auftrieb zur Teilnahme an den Wahlen und die Unterstützung für den mutigen Reformer Mussawi. Möglicherweise hat die Angst Ahmadinedschads, Mussawi würde mit Obama den Atomkonflikt kreativ anpacken, anstatt dass er selbst endlich direkt mit diesem verhandelt, oder aber seine Angst, das Feindbild Amerika – ein weiteres wichtiges Bindemittel für die theokratische Herrschaft im Iran – zu verlieren, ihn und die Theokratie noch zusätzlich dazu bewogen, einen Wahlsieg Mussawis mit allen Mitteln zu verhindern. Es gibt jedenfalls keinerlei Anzeichen dafür, dass Obama
zusammen mit Israel einen Regime Change im Iran anstrebt. Gemeinsamer Nenner der Reformbewegung Wie das Lager der Theokratie ist auch das Lager der Reformbewegung
nicht monolitisch. Dieses erfasst mehrere Strömungen: Erstens die Befürworter einer Islamischen Republik ohne die theokratische Herrschaft (Velayate Faqih: Staat der Rechtsgelehrten), jedoch unter Beibehaltung eines parlamentarisch legitimierten Wächterrates, der die Übereinstimmung der Gesetze mit islamischen Normen feststellt; zweitens die Anhänger einer Islamischen Republik bei Trennung von Staat und Religion, jedoch mit begrenztem Einfluss des Islams; drittens die Verfechter einer parlamentarisch-demokratischen Republik nach westlichem Muster und viertens die Anhänger eines diffusen Sozialismus. Gemeinsamer Nenner aller dieser Strömungen ist „Nieder mit der Diktatur“, eine Parole, die man bei den Demonstrationen am häufigsten hört. Zu den wichtigsten Ereignissen gehört die Fatwa von Großayatollah Montazeri am 11. Juli 2009 – einen Monat nach der Wahl –, die er anlässlich einer theologischen Anfrage von Mohssen Kadivar, eines Schülers von ihm und eines der philosophischen Köpfe der Reformbewegung, erließ. Darin heißt es u. a.:
Eine Obrigkeit, die auf Knüppeln, auf Ungerechtigkeit und Rechtsverletzungen basiert, die sich der Wahlstimmen bemächtigt und diese manipuliert, die mordet, verhaftet und wie im Mittelalter und mit stalinistischen Methoden foltert, die ein Klima der Unterdrückung schafft, Zeitungen zensiert, Kommunikationswege stört, die gebildete Elite der Gesellschaft unter absurden Vorwänden inhaftiert und falsche Geständnisse erpresst, eine solche Obrigkeit
ist aus religiöser Sicht und in den Augen eines jeden Vernünftigen zu verurteilen und besitzt keinen Wert. Mit anderen Worten ist die herrschende Theokratie aus theologischer
Sicht illegitim, auch wenn sie weiterhin regiert. Diese Fatwa muss ernst genommen werden. Sie hat keine sofortige, mittelund
langfristige, aber sehr wohl eine nachhaltige Wirkung. Es gibt noch Millionen frommer Iraner und Iranerinnen, die mit sich und ihrem Gewissen ringen ob der islamisch fragwürdigen
Befehle des geistlichen Oberhaupts, dem sie mit ihrer Revolution zur Macht verholfen haben. Inzwischen haben 700 ehemalige und gegenwärtige Parlamentarier in einem Brief an den Vorsitzenden des Expertenrates, Rafsanjani, gefordert, den Expertenrat zur Abberufung von Ayatollah Khamenei einzuberufen. Ohne sich auf Montazeris Fatwa zu beziehen, wiederholen die Parlamentarier in ihrem Brief dessen Anschuldigungen als Grund für
die Illegitimität der herrschenden Obrigkeit. Wie Montazeris Fatwa – nach derjenigen von Großayatollah Khorassani von 1907, der die Ghajariden-Herrschaft für illegitim
erklärte, sowie die Fatwa von Ayatollah Khomeini 1979 gegen die Legitimität der Herrschaft des Schahs, zum dritten Mal gegen eine Regierung in der neueren iranischen Geschichte erlassen – hat auch der Brief der Parlamentarier nahezu alle Tabus gebrochen, die die Velayate Faqih (Herrschaft der Rechtsgelehrten) als Mauer der Unantastbarkeit um sich gezogen hatte.
Doch scheint das geistliche Oberhaupt der Islamischen Republik, Khamenei, unbeirrbar keine Abstriche an der Theokatie zulassen zu wollen. Ahmadinedschad präsentierte inzwischen,
ungeachtet seiner zweifelhaften Legitimität, sein 19-köpfiges Kabinett. Die 16 Männer auf der Kabinettsliste stammen mehrheitlich aus dem Militärapparat, sie sollen – obgleich ohne
Erfahrung und Qualifikation – offensichtlich für ihre Loyalität mit Ministerposten belohnt werden. Des Weiteren standen auf der Kabinettsliste zum ersten Mal in der Islamischen Republik auch drei Frauen (von denen zwei vom Parlament abgelehnt wurden) aus dem erzkonservativen Lager. Sie sollten, ganz im Stil des populistischen Präsidenten, den Anlass für ein Scheingefecht mit frauenfeindlichen radikalen Mullahs liefern, um vom
eigenen Legitimitätsproblem des Präsidenten abzulenken. Gibt es eine Chance für einen friedlichen Machtwechsel? Khamenei steht nun, wie eingangs gesagt, genau dort, wo der
Schah vor dreißig Jahren gestanden hat. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass erstens jetzt – wie damals die Monarchie insgesamt – nicht die Islamische Republik als Ganzes, sondern zunächst die Theokratie in der Islamischen Republik zur Disposition steht und dass zweitens die mächtigen Revolutionswächter und die gewaltbereiten Bassidsch, im Unterschied zur Armee des Schah, mit ihrem sozialen Anhang mehrere Millionen an
der Zahl, eine mächtige gesellschaftliche Gruppe darstellen und zum Teil mit Überzeugung hinter der Theokratie stehen – jedenfalls noch. Völlig offen ist jedoch, wie lange es bei dieser
Unterstützung bleiben wird. Unter den Revolutionswächtern befinden sich nämlich immer noch viele nicht Korrumpierbare und ehrlich Religiöse, die sich am Tag X aller Wahrscheinlichkeit nach gegen die Theokratie stellen würden. Immerhin hatte 1997 die Mehrheit unter den Revolutionswächtern für den Reformer Khatami gestimmt.
Eine kluge Politik, die nach südafrikanischem Vorbild die Perspektive der Versöhnung nach einem friedlichen Machtwechsel verbindlich verkünden würde, könnte dazu führen, dass der
Theokratie der wichtigste Machttrumpf – eben die Revolutionswächter – abhanden kommt. Das Versprechen eines fairen Umgangs mit den heutigen Profiteuren des Systems nach dem
Machtwechsel, genau dieses wichtige Versöhnungsinstrument, hat nicht nur in Südafrika, sondern auch im frankistischen Spanien zum friedlichen Übergang und zu einem günstigen Ausgang für die Demokratisierung geführt. Erst mit der friedlichen Überwindung der Theokratie kann im Iran die entscheidende Etappe der Transformation von der monarchistischen Diktatur zu einer pluralistisch-parlamentarischen Republik abgeschlossen sein. Der Islam wird auch dann ein wichtiger Faktor bleiben.