Projekt gegen Neo-liberalismus und Massenarbeitslosigkeit
Die bürgerlichen Parteien befinden sich gegenwärtig in einer Identitäts- und Vertrauenskrise, nicht nur in Deutschland. Mit ihrer Politik Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum als Antwort auf die Finanzkrise, auf Massenarbeitslosigkeit, sinkende Masseneinkommen und steigende Armut reißen sie offensichtlich niemanden mehr vom Hocker. Schließlich haben sie in den letzten 40 Jahren, davon fast 15 Jahre zusammen mit der neoliberalisierten Sozialdemokratie, sogar im hegemonialen Konsens Wachstum gepriesen, die Reichen entlastet, jedoch die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigt, sondern vervielfacht und dazu noch die zweite Weltwirtschafts- und Finanzkrise heraufbeschworen. Die deutsche Sozialdemokratie stößt inzwischen auf etwas mehr Wählerzustimmung, weil sie gegenwärtig dabei ist, sich aus dem Sumpf des Neoliberalismus herauszuziehen, in den sie sich selbst hinein vergaloppiert hatte. Ob es ihr gelingt, zu einer modernen und zukunftsfähigen Reformpartei zurückzufinden, bleibt allerdings offen.
Welche Antwort haben aber die Linken in ihrer ganzen Breite, aber auch die Partei DIE LINKE, auf die gegenwärtigen Herausforderungen, nachdem das neoliberale Projekt weltweit einen sozialen und ökologischen Scherbenhaufen hinterlassen hat? Hier befindet sich offensichtlich noch vieles im Fluss. Die Grünen favorisieren den »Grünen New Deal« als ihr strategisches Projekt und scheinen offensichtlich die soziale Frage, insbesondere das Problem der Massenarbeitslosigkeit, aus den Augen verloren zu haben. Zwar sind innerhalb der Partei Die LINKE Bestrebungen für ein umfassendes sozialökologisches Programm erkennbar, es sind jedoch Zweifel angebracht, ob die zur Diskussion gestellten Ansätze zu einem politischen Handeln weit über das ganze linke Spektrum hinaus führen können.
In einem Beitrag versucht – um ein Beispiel zu nennen – Ralf Krämer, Mitglied der Programmkommission der LINKEN, in Abgrenzung von wachstumskritischen Positionen innerhalb der Linken die Elemente eines Programms zu entwickeln, die »für Durchsetzungschancen linker Politik und einen sozialökologischen Umbau« von zentraler Bedeutung sind und die auch gewährleisten sollen, »dass die Gewerkschaften und die Mehrheit der abhängig Beschäftigten für eine solche Politik gewonnen werden«.1 Der sozialökologische Umbau muss nach Krämer verbunden werden »mit Abbau der Arbeitslosigkeit, der Sicherung der Einkommen der Beschäftigten, der Schaffung guter neuer Arbeit für diejenigen, deren Arbeitsplätze im Zuge eines ökologischen Umbaus verloren gehen […] Eine solche linke Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik bedeutet aber BIP-Wachstum, und es wäre unernsthaft und falsch, dies zu leugnen oder zu verschweigen.« (ebd. 22f.) Diese Argumentation steht sicherlich in der Tradition der gewerkschaftlich orientierten Linken und ist nicht nur deshalb ernst zu nehmen, sondern weil sie auch den ökologischen Umbau über den klassisch linkskeynesianischen Ansatz hinaus in eine gesellschaftspolitische Alternative integrieren will. Doch wirft dieser Ansatz neue Fragen auf, bevor er überzeugende Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen der Massenarbeitslosigkeit und der ökologischen Krise liefert:
Erstens bedarf es einer plausiblen Erklärung dafür, wie es dazu kommen konnte, dass die rot-grüne Koalition ziemlich genau mit der von Krämer für die Zukunft favorisierten Strategie 1998 die Wahlen haushoch gewonnen hat, aber dann, mit dem ihr erteilten Vertrauen im Rücken, in den Sog des Neoliberalismus hineingeraten ist und nicht nur die Massenarbeitslosigkeit und die ökologische Krise verschärft, sondern mit ihrer Agendapolitik auch den größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betrieben hat. Und was begründet die Gewissheit, dass eine rot-rot-grüne Koalition mit einer von Krämer vorgeschlagenen sozial-ökologischen Programmatik sich aus dem neoliberalen Kontext herauslösen und einen qualitativen Politikwechsel durchsetzen könnte? Und zweitens sollte eine Politik, die zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit auf Wachstum setzt, nicht verschweigen, woher das Wachstum mit Raten von 4-5% jährlich, die über einen längeren Zeitraum dazu erforderlich wären, eigentlich kommen sollte?
Krämer lässt nicht nur diese Fragen offen, er vertröstet auch die linken Wachstumskritiker hinsichtlich einer echten naturverträglichen Wirtschaft auf die Zeit nach der »Überwindung der kapitalistischen Eigentums-, Produktions- und Verteilungsverhältnisse« (ebd. 20). Auch »die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit« hält Krämer erst unter den neuen nichtkapitalistischen Bedingungen für ein »zentrales Element«, da dann die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) »keine wichtige Rolle mehr (spielt), weil bzw. wenn die Steigerung der Einkommen kein vorrangiges Motiv und Bedingung größeren Wohlstands mehr ist« (ebd. 16). Diese Sicht auf eine Reformperspektive vertagt die historischen Antworten auf die großen Herausforderungen der Massenarbeitslosigkeit und der ökologischen Krise in der Konsequenz auf die postkapitalistische Ära. Erforderlich ist jedoch die Perspektive für einen Politikwechsel, der jetzt stattfinden müsste, nachdem der Neoliberalismus inhaltlich gescheitert und daher die Zeit dafür reif ist, ihn auch politisch zu entmachten. Erforderlich ist dazu allerdings ein hegemoniefähiges sozialökologisches Projekt, das imstande ist, die gesellschaftlichen Kräfte zur Ablösung des Neoliberalismus zu bündeln. Um eine derartige Perspektive zu skizzieren, bedürfte es m.E. folgender analytischen Schritte, die Gegenstand dieses Beitrags sind:
Erstens die Reflexion der historisch veränderten Rahmenbedingungen, die zur Ablösung des Keynesianismus durch den Neoliberalismus führten. Zweitens die Analyse der Grundzüge des hegemonialen Projektes des Neoliberalismus und drittens die Begründung eines sozialökologischen Gegenprojekts zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und zur Wachstumsumschichtung.
Die goldenen Wachstumsjahre und ihre Grenzen
Die drei Jahrzehnte zwischen 1950 und 1980 waren unbestritten nahezu in allen kapitalistischen Staaten die »Goldenen Wachstumsjahre«. Durchschnittliche Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in diesem Zeitraum von jährlich über 5%, in Japan sogar über 10%, waren so gut wie selbstverständlich (siehe Abbildung 1). Für diese Entwicklung waren mehrere Faktoren verantwortlich: Erstens beträchtliche Wachstumsressourcen, zweitens die keynesianische Wirtschaftspolitik, die sich zur Mobilisierung der Wachstumspotenziale als sehr wirkungsvoll erwies, drittens eine beträchtliche Nachfrage zur Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Jahrzehnten der Entbehrungen als Folge der beiden Weltkriege, viertens die Entwicklung der Demokratie und vor allem die Stärkung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht und schließlich fünftens eine moderne Sozial- und Wohlfahrtspolitik, die die Massenkaufkraft sukzessive anhob.
Der Dreh- und Angelpunkt der klassisch keynesianischen Wirtschaftspolitik ist eine auf Verschuldung beruhende staatliche Ausgabenpolitik, die solange funktioniert, wie die Refinanzierung der Schulden durch Wachstum gewährleistet ist. Gerade aber weil ab Ende der 1970er Jahren im hochentwickelten Kapitalismus unbestritten sowohl die Wachstumsreserven zur Neige gingen wie aber auch eine relative Konsumsättigung erreicht wurde,2 geriet das Modell ins Stocken und Versuche, durch weitere Staatsausgaben Arbeitsplätze zu schaffen, führten eher zu Inflation. Tatsächlich hatten die goldenen Wachstumsjahre ihren Zenit längst hinter sich.
Der Siegeszug des Neoliberalismus und die Stunde der falschen Propheten
Bereits Mitte der 1970er Jahre ist die Phase der Vollbeschäftigung (in Deutschland, Frankreich und Japan) bzw. der niedrigen Raten der Arbeitslosenquote (in Italien, Großbritannien, USA) vorbei. Mit der einzigen Ausnahme der USA schnellt überall die Arbeitslosigkeit sprunghaft in die Höhe und bewegt sich über mehrere Dekaden auf hohem Niveau zwischen 6 und 12% (Abbildung 2). Für diese Entwicklung waren außer der historischen Tatsache von schrumpfenden Wachstumsreserven und zunehmender Sättigung des Konsums zwei weitere Faktoren maßgebend: (a) anhaltend steigende Produktivität als Folge der dritten technologischen Revolution und (b) steigende Beschäftigungsnachfrage seit Ende der 1960er Jahre vor allem bei den Frauen.3 In Deutschland wurden bereits Anfang der 1980er Jahre ca. 1 Mio. Arbeitslose gezählt – ein erster Höhepunkt nach Jahrzehnten der Vollbeschäftigung.
In Deutschland glaubte Helmut Schmidt, der letzte keynesianische Bundeskanzler, um ein Beispiel hervorzuheben, dennoch allen Ernstes, die Massenarbeitslosigkeit durch einen Einwanderungsstopp (die populistische Parole lautete damals »das Boot ist voll«), vor allem aber durch Wachstum überwinden zu können. Unbeirrt setzte er durch eine klassisch keynesianische Ausgaben- und Schuldenpolitik auf Wachstum und konterte den Vorwurf seiner neoliberalen Widersacher, er sei der erste Kanzler des Nachkriegsdeutschland, dem steigende Inflation keine Sorgen bereiteten, mit dem Argument, ihm seien »5% Inflation lieber als 5% Arbeitslosigkeit«. Die Alternative zwischen Pest und Cholera, die Helmut Schmidt anbot, war nicht nur ein Offenbarungseid des Kanzlers, sie öffnete dem Neoliberalismus den Weg, das wirtschaftspolitische Vakuum auch in Deutschland zu füllen, das der klassische Keynesianismus im Begriffe war zu hinterlassen – in Margaret Thatchers Großbritannien und Ronald Reagans USA wütete der Neoliberalismus schon längst. Die zur Speerspitze des deutschen Neoliberalismus gewendete FDP, mit dem amtierenden Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff an vorderster Front, beendete im Oktober1982 die sozialliberale Bundesregierung Schmidt-Genscher und hob mit der konservativ-liberalen Regierung von Kohl-Genscher das neoliberale Zeitalter in der drittwichtigsten kapitalistischen Ökonomie der Welt aus der Taufe.
Hatten die Sozialdemokraten den Umstand der zur Neige gehenden Wachstumsreserven missachtet und übersehen, dass unter diesen Bedingungen klassisch keynesianische Instrumente, wie eine expansive Ausgabenpolitik, zu mehr Inflation, aber nicht zu mehr Arbeitsplätzen führen, so machten die Neoliberalen nicht die sinkenden Wachstumsreserven, sondern ganz und gar ideologisch den Keynesianismus und die Staatsintervention für das Scheitern der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik verantwortlich. Mehr noch: Auch sie versprachen, die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit durch Wachstum und dieses allerdings – ganz im Sinne der neoliberalen Ideologie – durch weniger Staat und mehr Markt erzielen zu wollen. Der Neoliberalismus konnte sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch deshalb als Alternative zur Sozialdemokratie und zum Keynesianismus anbieten und mit geringem Aufwand beides ablösen, weil er nahtlos an den allgemeinen Konsens des Fetischs Wachstum als Allheilmittel aller gesellschaftlichen Probleme anknüpfen konnte.
Das so genannte Lambsdorff-Papier vom 9. September 19824 – so etwas wie das erste neoliberale Manifest in deutscher Sprache – wurde nicht zufällig unter der Überschrift Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Umlauf gebracht. Bereits in diesem Papier werden die inzwischen als neoliberal bekannten Maßnahmen wie Sozialabbau, Lohnsenkung, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Verlängerung der Arbeitszeit, Entlastung der Unternehmer etc. – freilich verklausuliert unter verharmlosenden bis positiven Begriffen wie Anpassung, Konsolidierung, Bürokratieabbau, Anreize, verpackt – aufgelistet. Diese Maßnahmen wurden bekanntlich allesamt, kurioserweise am konsequentesten unter der rot-grünen Bundesregierung Schröder-Fischer mit ihrem Programm Agenda 21, auch umgesetzt.
Wachstum durch Umverteilung
Das keynesianische Wachstumsmodell beruhte immerhin auf Wertschöpfung und substanzieller Wertsteigerung. Wie wollten aber die Neoliberalen Wachstum generieren und ihr Versprechen von neuen Arbeitsplätzen einlösen? Bei einer rückblickenden Betrachtung lautete die Antwort: erstens durch Verbilligung der Arbeit und zweitens durch Verbilligung der Natur. Auf diese Wachstumsstrategie zielten Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, Liberalisierung des Handels und Privatisierung der öffentlichen Güter. Indem Neoliberale nicht müde wurden, mehr Wachstum und Arbeitsplätze, mehr Wohlstand, mehr Freiheit, mehr Glück und was nicht noch alles von diesen Wunderinstrumenten abhängig zu machen, ist es ihnen, wie wir wissen, tatsächlich auch gelungen, bei Parteien und Regierungen, weit über ihr eigenes traditionelles politisches Lager hinaus, den neoliberalen Geist weltweit zu etablieren und die gesamte Elite und die Massenmedien ihrer kulturellen Hegemonie unterzuordnen.
Die Verbilligung der Arbeit war die Reaktion hoch produktiver Ökonomien wie die deutsche Wirtschaft auf sinkende Wachstumsreserven innerhalb der eigenen Volkswirtschaft einerseits und auf die wachsende Konkurrenz von weniger produktiven Niedriglohn-Ökonomien (Süd- und Osteuropa und Schwellenländer wie China) andererseits. Diese Strategie wurde in Abhängigkeit von der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht (s.u.) mit unterschiedlichem Erfolg durchgesetzt. So stiegen die Löhne im Zeitraum 2000-2009 in Deutschland durchschnittlich um 21%, in Frankreich um 32%, im EU-Durchschnitt um 35%, in Süd- und Osteuropa und China – hier allerdings ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau – um deutlich mehr. Damit gelang es den hoch produktiven Ländern wie Deutschland, ihre Marktanteile in Konkurrenz zu China – weiterhin ein Niedriglohnland – auf den internationalen Märkten, vor allem in den USA, zu halten oder sogar auszubauen.
Doch beruht diese Strategie nicht auf einem Wachstum durch Wertschöpfung, sondern auf Umverteilung und zwar im doppeltem Sinne: zum einen durch Umverteilung von unten nach oben innerhalb der eigenen Volkswirtschaft mit der Folge einer sinkenden Massenkaufkraft, und zum anderen durch Verdrängungswettbewerb und Wachstumsumverteilung – im Ergebnis also einem Nullsummenspiel – zulasten anderer Staaten. Einige Länder, wie die Niederlande, Österreich vor allem aber Deutschland, erzielten in diesem Prozess Export- und Devisenüberschüsse, die Verliererstaaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland mussten dagegen Importüberschüsse, Leistungsbilanzdefizite und steigende Verschuldung verbuchen. Besonders drastisch wirkte sich diese Politik für Griechenland aus und war – nach übereinstimmender Auffassung kritischer Ökonomen – der entscheidende Grund für den drohenden Bankrott dieses Landes mit Folgen auch für andere südeuropäische Staaten.5 Um Pleiten in Südeuropa zu vermeiden, war die EU gezwungen, mit einem gigantischen Rettungspaket im Umfang von über 700 Mrd. Euro zu intervenieren. Doch dieses Rettungspaket enthält nichts anderes als neue Schulden, vor allem für die Steuerzahler jener EU-Staaten, deren Lohnabhängige zur Finanzierung der absurden Politik des Wachstums durch Umverteilung und des Verdrängungswettbewerbs bluten mussten. Genau genommen sind Gewinner und Verlierer am Ende dieser Kette von Umverteilungen nicht die Volkswirtschaften von Deutschland bzw. Griechenland. Vielmehr sind Gewinner die reichen Eliten und die Verlierer die Lohn- und Gehaltsabhängigen in beiden Staaten.
Seit der neoliberalen Wende sind in allen Ländern die Reichen tatsächlich reicher und die Armen ärmer geworden.6 In Deutschland ist die bereinigte Lohnquote in den alten Bundesländern von 71 (1980) auf 65,2% (1991) gefallen. Auch im vereinigten Deutschland setzte sich dieser Trend fort, die bereinigte Lohnquote sank von 71 (1991) auf 69,8% (2009).7 Nach Berechnungen der Wirtschaftsabteilung von ver.di betrug die Umverteilung von unten nach oben »in den letzten zehn Jahren jeweils 500 Milliarden Euro«.8
Die neoliberale Politik zielte außerdem auch auf Wachstum durch Verbilligung der Natur. Dazu diente nicht nur die Liberalisierung der Rohstoffmärkte, sondern auch die verschärfte Ausbeutung der Energie- und Rohstoffreserven ungeachtet aller ökologischen Folgen und der Forcierung von Geopolitik – Kriege in den letzten 30 Jahren, vor allem im Mittleren Osten, mit eingeschlossen.9
Das strategische Projekt des Neoliberalismus:Entmachtung von Gewerkschaften und Zementierung der Massenarbeitslosigkeit
Ausgehend vom Ergebnis und bei einer retrospektiven Betrachtung kann festgestellt werden, dass die neoliberale Wachstumsstrategie der Verbilligung der Arbeit zu einem Systemwechsel vom keynesianischen zum neoliberalen Kapitalismus führte und dass umgekehrt diese Strategie ohne diesen Systemwechsel unmöglich hätte durchgesetzt werden können. Dieser Wechsel setzte allerdings die Unterminierung der tarifpolitischen Machtbalance, damit die Zerschlagung des sozialen Fundaments zwischen Gewerkschaften und Unternehmern, voraus. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften im keynesianischen Kapitalismus mit einer nie da gewesenen Stärke sollte ein für allemal beendet werden. Statt der Machtbalance und einer ausgeglichenen Verteilung der Wertschöpfung sollte ein Machtgefälle zugunsten der Unternehmerseite und einer kapitalverträglichen Verteilung als Dauerzustand etabliert werden. Statt Tarifverhandlungen auf Augenhöhe zu führen, sollte die Kapitalseite in die Lage versetzt werden, die Gewerkschaften vor sich her zu treiben, ihnen ihre Handlungslogik – das wichtigste Gut, das sie im Kapitalismus besitzen – schleichend zu nehmen, ihnen bei Tarifverhandlungen ihre Ziele zu diktieren und sie zu Gefangenen ihrer Taktik zu machen. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass den Gewerkschaften keine andere Möglichkeit verbleibt, als in der strukturellen Defensive zu verharren und zuzusehen, wie die sozialen Errungenschaften eine nach der anderen abgebaut werden. Hatten die Gewerkschaften ihre Stärke und ihre Kampfkraft im keynesianischen Kapitalismus durch Vollbeschäftigung erreicht, so wurde Massenarbeitslosigkeit zur Achillesferse der gewerkschaftlichen Entmachtung und des neoliberalen Wachstumsmodells. Denn sie, die Massenarbeitslosigkeit, ist es, die den fruchtbarsten sozialen Boden für die Schwächung der Gewerkschaften liefert, sie ist es auch, die die noch Beschäftigten dauerhaft in Angst und Schrecken versetzt, den eigenen Job zu verlieren, die bei ihnen die Bereitschaft entstehen ließ, alle möglichen Zugeständnisse auf der Lohnseite, bei den Sozialleistungen, bei der Arbeitszeit hinzunehmen, um ja nicht in die Arbeitslosigkeit und in Hartz IV abzustürzen. Unter eben diesen Bedingungen konnte auch eine rigorose Machtverschiebung durchgesetzt werden, die den betroffenen Lohn- und Gehaltsabhängigen als ein quasi naturnotwendiger, unvermeidlicher und alternativloser Vorgang erschien – und leider immer noch erscheint –, der angeblich von den »Märkten« herbeigeführt worden sei, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Tatsächlich rechtfertigten die Neoliberalen alle ihre »Reformen« auf dem Arbeitsmarkt mit dem Vorwand, die Arbeitslosigkeit abzubauen, erreicht wurde aber das Gegenteil. Die Neoliberalen haben zu keinem Zeitpunkt allen Ernstes erwogen, Vollbeschäftigung zu erreichen. Ihre Politik zielte vielmehr bewusst auf die dauerhafte Spaltung der Gesellschaft in Arbeitslose und noch Beschäftigte, in brave, weil zu allen möglichen Zugeständnissen bereite Lohn- und Gehaltsabhängige und in »faule, arbeitsunwillige« Menschen, die selbst an ihrem Schicksal der Arbeitslosigkeit Schuld seien. Wie ist denn sonst zu erklären, dass auf dem Höhepunkt des neoliberalen Siegeszuges ausgerechnet eine Maßnahme wie die Verlängerung der Arbeitszeit zum wirtschaftspolitischen Dreh- und Angelpunkt für vermeintlich mehr Arbeitsplätze gemacht und auch in allen Bereichen, einschließlich des öffentlichen Sektors, durchgesetzt wurde, obwohl gerade diese Maßnahme am unmittelbarsten zu noch mehr Arbeitslosigkeit geführt hat.
Tatsächlich stieg auch die Arbeitslosigkeit in allen Industriestaaten nach der neoliberalen Wende Ende der 1970er Jahre fast überall drastisch an (Abbildung 2). In Deutschland erreichte die Arbeitslosigkeit in 2004 mit fast 5 Mio. den Höchststand seit der neoliberalen Wende. Sie ist nach offiziellen Statistiken bis 2010 auf 3,24 Mio. gesunken, allerdings nicht, weil neue Arbeitsplätze geschaffen wurden, sondern weil ca. 1,4 Mio. Arbeitslose durch definitorische Umgruppierungen aus der offiziellen Statistik herausgenommen wurden. Ohne Berücksichtigung dieser Manipulation bleibt die Arbeitslosenzahl weiterhin auf dem Höchststand von 4,8 Mio.10 Dabei ist in dieser Zahl die millionenfache Umwandlung von Vollzeitjobs in Teilzeit-, Midi- und Minijobs – davon sind vor allem Frauen betroffen – nicht eingerechnet. Dies gilt auch für 4,9 Mio. »geringfügig Beschäftigte« und für zahlreiche »Aufstocker«, die ohne Hartz IV nicht auskommen (ebd.). Auch die über 3 Mio. Hartz IV-Empfänger sind in Wirklichkeit Arbeitslose, die im neoliberalen Kapitalismus aus der Gesellschaft ausgegliedert und sich selbst überlassen werden. Auch sie gehören insofern zum System, weil ihre menschenunwürdige Lage als Schreckgespenst die Jobbesitzer sehr wirkungsvoll zu allen Zugeständnissen nötigt.
Das Ergebnis dieses systematisch herbeigeführten Zustandes der ständigen Unsicherheit und Angst ist bekannt: die Schaffung eines Niedriglohnsektors, die Forcierung des Leiharbeitssystems, die Praxis befristeter Einstellungen auch im Staatssektor, der Missbrauch der Praktikantenstellen mit Hungerlöhnen für Daueraufgaben etc., die allesamt dazu dienten, Lohndumping strukturell festzuschreiben und die Umverteilung von unten nach oben aufrechtzuerhalten. Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der Hauptverantwortliche SPD-Politiker für das neoliberale Projekt Agenda 2010, rühmte sich beim Weltwirtschaftsforum in Davos am 28.1.2005 unverhohlen seines Erfolges bei der Vorreiterrolle zur Schaffung des Niedriglohnsektors in Europa: »Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt … Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. Es hat erhebliche Auseinandersetzungen mit starken Interessengruppen in unserer Gesellschaft gegeben. Aber wir haben diese Auseinandersetzungen durchgestanden. Und wir sind sicher, dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird…«
In diesem System des neoliberalen Kapitalismus wurden die Gewerkschaften tatsächlich geschwächt, in die Defensive gedrängt, zur Geisel des Neoliberalismus degradiert und letztlich auch der Möglichkeit einer offensiven Gewerkschafts- und aktiven Gesellschaftspolitik beraubt.
Hegemoniales Gegenprojekt: Arbeitszeitverkürzung und Wachstumsumschichtung
Die Bilanz des neoliberalen Akkumulationsmodells ist verheerend: Statt Überwindung der Arbeitslosigkeit brachte der Neoliberalismus weltweit Massenarbeitslosigkeit, sinkende Löhne, eine gigantische Umverteilung von unten nach oben und vom Süden nach Norden, schließlich die zweite Weltwirtschafts- und Finanzkrise und eine allgemeine Verschuldung unvorstellbaren Ausmaßes zulasten von Lohn- und Gehaltsabhängigen, von Mittelschichten und künftigen Generationen hervor. Hinzu kommen eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, die Schwächung von Gewerkschaften, die Entsolidarisierung zwischen regulär Beschäftigten und Leiharbeitern, zwischen Jobbesitzern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, schließlich krankmachende Verlustängste um Arbeitsplatz, um Status und soziale Beziehungen. Statt Wachstum und mehr Wohlstand bescherte die neoliberale Politik der Menschheit eine wachsende Schere zwischen Armen und Reichen, ein Verschuldungs- und CO2-Wachstum, ein Atommüllwachstum und ein Wachstum von globalen Konflikten um Marktanteile und Ressourcen. Nicht zufällig fallen auch Phänomene wie der Kampf der Kulturen und fundamentalistische Bewegungen an den extremen Polen der Weltgesellschaft genau mit dem Aufschwung des Neokonservatismus und des Neoliberalismus seit Beginn der 1980er Jahre zusammen.
Der Neoliberalismus konnte sich als Scheinalternative zum klassischen Keynesianismus anbieten und durch Verknüpfung von ökonomischen Zielen wie Wachstum und Arbeitsplätze mit soziokulturellen Werten wie mehr individueller Freiheit, weniger Staat, Abbau der Bürokratie etc. gesellschaftliche Kräfte für das eigene hegemoniale Projekt bündeln. Erst durch eine langanhaltende Massenarbeitslosigkeit und die Verschiebung der Machtverhältnisse durch die Schwächung, besser faktische Entmachtung der Gewerkschaften, setzte sich der neoliberale Geist flächendeckend und tief in den Poren der Gesellschaft durch. Deshalb darf auch die Massenarbeitslosigkeit nicht länger als eine Art naturgesetzliche Konstante hingenommen werden. Nur durch ihre Überwindung dürfte es auch möglich werden, dem Neoliberalismus den Boden, auf dem er 30 Jahre lang gedeihen konnte, zu entziehen. Die Überwindung des Neoliberalismus steht aber und grade jetzt auf der politischen Agenda, nachdem dessen Scheitern wie nie zuvor so offensichtlich geworden ist. 30 Jahre neoliberale Logik sind mehr als genug. Jetzt kommt es darauf an, dass die Opfer dieser Logik anfangen, sich auf die Logik der ureigenen existenziellen Interessen, auf die Herstellung von menschenwürdigen Lebensbedingungen für alle zu besinnen, die den Gewerkschaften in der Nachkriegszeit die Handlungsstärke und der Gesellschaft bis zur neoliberalen Wende insgesamt die notwendige Grundlage für soziale Reformen verliehen haben.
Vollbeschäftigung neuen Typs
Eine Vollbeschäftigung durch Wachstum nach klassischem keynesianischen Muster ist unter den Bedingungen schrumpfender Wachstumsreserven, relativer Konsumsättigung und weiterhin steigender Produktivität unrealistisch. Auch Wachstumsraten von jährlich 1-2%, die in den letzten zwei Dekaden erzielt wurden, kamen nicht durch Wertschöpfung, sondern durch Umverteilung zulasten anderer Volkswirtschaften zustande. Ein weiteres Schielen auf Wachstum durch Exportsteigerungen oder auf kurzfristige Maßnahmen wie Kurzarbeit kommt einer künstlichen Beatmung des Neoliberalismus gleich und verlängert nur noch dessen Leben. Die einzig verbleibende Möglichkeit ist eine Vollbeschäftigung neuen Typs, durch Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Umverteilung der vorhandenen Arbeitsplätze auf alle Arbeitssuchenden.
Damit müsste die flächendeckende Arbeitszeitverkürzung als das Herzstück eines strategischen Gegenprojekts zum Neoliberalismus erklärt und zum Ausgang eines weit über die Tarifverhandlungen hinausgehenden gesamtgesellschaftlichen Projektes gemacht werden. Um in dieser Perspektive die politische und kulturelle Hegemonie zu gewinnen, bedarf es der Bündelung aller zivilgesellschaftlichen Kräfte, die letztlich davon profitieren könnten. Und das sind mit Ausnahme von neoliberalen Ideologen, den Finanzspekulanten und einer dünnen Schicht der Vermögensbesitzer fast alle sozialen Schichten, selbst diejenigen, die aus der Erwerbsarbeit aussteigen wollen. Denn auch ein Ausstieg aus der Erwerbsarbeit und die Option für selbstbestimmte Tätigkeiten – sicherlich ein berechtigtes Anliegen vieler Menschen – hätte erst dann eine realistische Chance, auf breite Zustimmung zu stoßen, wenn Gewerkschaften und alle Reformkräfte ihre volle und im Neoliberalismus abhanden gekommene Gestaltungskraft wieder zurückgewonnen haben würden.
Kulturelle Hegemonie zurückgewinnen, aber wie?
Durch Arbeitszeitverkürzung würde der Gesellschaft insgesamt nicht nur mehr Zeit für die Familie, für gleichberechtigte Kindererziehung, für Gesundheitspflege und allerlei kreative Tätigkeiten zur Verfügung stehen, sondern sie würde auch mit einer neuen sozialen Grundlage ausgestattet werden, die es ermöglicht, die Umverteilung von unten nach oben im Interesse der Steigerung der Massenkaufkraft umzukehren. Die Bündelung der Kräfte setzt allerdings die Unterordnung aller anderen sozialpolitischen Ziele und partiellen Verteilungsfragen zunächst unter das strategische Projekt der Arbeitszeitverkürzung voraus, da sonst der Spaltpilz um sich greifen und das strategische Projekt der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, ganz im Sinne des Fortbestandes des Neoliberalismus, zu Fall bringen würde. Auch dem letzten Egoisten, der nicht bereit ist, mögliche kurzfristige eigene Vorteile gegen Solidarität mit anderen einzutauschen, müsste die Einsicht vermittelt werden, dass er unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit langfristig wie bisher weniger Lohn bei noch mehr Arbeit bekommt und damit auch zu den Verlieren gehört. Gerade hier kommt der Gewerkschaftsführung eine nicht zu unterschätzende Verantwortung zu.
Wachstumsumschichtung und mehr Zeitwohlstand
Die Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung von Arbeit und Einkommen ist gleichzeitig auch die historisch angemessene Antwort auf die Grenzen des Wachstums, weil dadurch die Gesellschaft im Postneoliberalismus, nachdem Prekarität, Perspektivlosigkeit, Verlustängste und viele andere Unzulänglichkeiten weitgehend überwunden wurden, erstmals wieder in der Lage sein dürfte, die einmal nach der Krise des Keynesianismus verpassten Chancen nachzuholen und durch eine solide Wachstumsumschichtung sozialökologische Reformen durchzuführen:11 weg von Exportexpansion und hin zur Stärkung der Binnenpotenziale; weg vom atomar-fossilen Energiepfad und hin zum massiven Ausbau regenerativer Energien; weg vom Individualverkehr und hin zum Ausbau des öffentlichen Verkehrssektors und moderner Mobilitätssysteme sowie ferner Ausbau des öffentlichen Sektors in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Sport, Kultur, Alterspflege und allen Bereichen der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge.
Die Arbeitszeitverkürzung und Vollbeschäftigung neuen Typs ist nach obigen Überlegungen ein hegemonial strategisches Projekt für einen umfassenden sozialökologischen Umbau der Gesellschaft. Es bedeutet eine Reduktion des Erwerbsarbeitsvolumens und damit des Potenzials für das konventionell monetäre Wachstum bei gleichzeitigem Wachstum von qualitativen, monetär aber nicht messbaren Werten in den sozialen und kulturellen Bereichen der Gesellschaft. Steigender Zeitwohlstand ist somit die Quelle eines neuartigen gesellschaftlichen Reichtums, die auch unabhängig von der Überwindung der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse, und zwar schon jetzt, erschlossen werden kann. Und es gibt keinerlei politische und moralische Rechtfertigung, diese Aufgabe zu vertagen.
Anmerkungen:
1 Krämer, Ralf (2010): Wachstumskritik oder sozialistische
Politik?, in:
Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7-8/2010, S. 22.
2 Vgl. dazu Reuter, Norbert (2009): Stagnation im Trend, in: Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär 13/2009.
3 Vgl. Bontrup, Heinz-J./Niggemeyer, Lars/Melz, Jörg (2007): Arbeit fair teilen. Massenarbeitslosigkeit überwinden!, Hamburg, S. 45ff.
4 Lambsdorff, Otto Graf (1982): Sparkonzept, in: Dokumentation Nr. 9/82 des Bundesministeriums für Wirtschaft.
5 Vgl. dazu u.a. Krugman, Paul, in: Frankfurter Rundschau vom 19. Februar 2010; Flassbeck, Heiner, in: Freitag vom 18 Februar 2010.
6 Vgl. Massarrat, Mohssen (2009): Reiche aller Länder, bereichert Euch, in: Krull, Stephan/Massarrat, Mohssen/Steinrücke, Margareta, Schritte aus der Krise, Hamburg.
7 Ausführlicher siehe Schäfer, Claus (2009): WSI-Verteilungsbericht, in WSI Mitteilungen 12/2009.
8 Riexinger, Bernd (2009): Perspektiven des Protests, in: Sozialismus, Heft 7-8/2009
9 Ausführlicher dazu vgl. Massarrat, Mohssen (2006): Kapitalismus – Machtungleichheit – Nachhaltigkeit, Hamburg, vor allem Kapitel 3.
10 Ausführlicher dazu Lunapark, Heft 10, Sommer 2010, S. 2f.
11 Vgl. Massarrat, Mohssen (2009): Weniger wachsen – weniger arbeiten. Eine realistische Alternative, in: Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär 13/2009.