Gewerkschaftsmacht. In der Krise

Editorial - Das Argument 284, 6/2009

In den letzten 50 Jahren arbeiteten empirische Gewerkschaftsforschung und kritische Gesellschaftstheorie nur dann Hand in Hand, wenn eingeschliffene Praxen der institutionellen Arbeiterbewegung erodierten und ›autonome Arbeiterpolitik‹ in Konturen sichtbar wurde - so im Gefolge der Bewältigungsstrategien der Krise von 1966/67. Eine konzertierte Aktion von Kapital, Gewerkschaften und ›keynesianischem Staat‹ glaubte, mit einer moderaten Lohnpolitik diese überwinden zu können. Belegschaften lehnten sich dagegen auf und zwangen die korporatistischen Gewerkschaftsspitzen, ihre Forderungen wenigstens in Ansätzen aufzunehmen.

Auf diesem Hintergrund entstanden Foren einer marxistischen Gewerkschaftsdiskussion neu. In der ›geordneten Welt‹ der Nachkriegsprosperität scheinbar unwiederbringlich überwunden geglaubte Positionen kamen zurück, wurden revidiert oder erneuert. 1972 erschien im Fischer Taschenbuch Verlag die erste Nummer des von Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch und Eberhard Schmidt herausgegebenen Kritischen Jahrbuchs unter dem Titel »Gewerkschaften und Klassenkampf«. Es kombinierte aktuelle Analysen der Gewerkschaftspolitik mit Berichten und Dokumentationen aus den Betrieben. »Dass Gewerkschaften etwas mit Klassenkampf zu tun hätten«, so liest man im Vorwort zu dieser Ausgabe, sei »zumal in der Bundesrepublik Deutschland schwer einzusehen«. Gerade aber die »praktische Kritik der Lohnabhängigen« in den Klassenkämpfen in Westeuropa[1] habe gezeigt, dass »gewerkschaftliche Erneuerung eine Chance hat«. Die Verfasser lassen bei aller Kritik an den tradierten Gewerkschaftsapparaten keinen Zweifel daran, dass »abstrakte Verneinung der Gewerkschaften« letztlich »ohne Chance« sei. Begleitet wurde das Kritische Jahrbuch durch ein von Claudio Pozzoli im gleichen Verlag herausgegebenes Jahrbuch Arbeiterbewegung, das sich geschichtlich-theoretischen Hintergründen widmete (u.a. Über Karl Korsch, 1973; Marxistische Revolutionstheorien, 1974; Faschismus und Kapitalismus, 1976). Mit dem Jahrbuch 6, das Grenzen gewerkschaftlicher Politik behandelte, endete diese Reihe.

Charakteristisch für den Zusammenhang von Gesellschaftskritik und Gewerkschaftsforschung dieser Zeit wurde vor allem eine Skepsis gegenüber reformistischen Illusionen (vgl. dazu die Hefte zur »Gewerkschafts-Diskussion« des Argument 107 u. 108, beide 1978), die durch die erste »große Krise« des »Goldenen Zeitalters« nachkriegskapitalistischer Entwicklung genährt wurde. Gewerkschaftsorientierte Wissenschaft, so Frigga Haug, kann nicht erst anfangen, »Lösungen zu erarbeiten, wenn das Gewinnmaximierungsprinzip als Voraussetzung akzeptiert ist« (Das Argument 112, 1978).

Die Neuauflage der Kritischen Jahrbücher als Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch ab 1977/78 im Rotbuch-Verlag reflektiert zugleich veränderte Bedingungen kritischer Gewerkschaftsforschung. Das erste ›neue‹ Jahrbuch trug den Titel »Gewerkschaftspolitik in der Krise«. Von Aufbruchs- und Erneuerungstendenzen in den Gewerkschaften konnte angesichts intensivierter korporatistischer Krisenpolitik, um die Branchen- und Strukturkrisen im Schiffbau oder in der Stahlindustrie abzufedern, immer weniger die Rede sein. Die Lust an der gesellschaftstheoretischen und -kritischen Durchdringung der empirischen Gewerkschaftsforschung ließ deutlich nach. Walther Müller-Jentsch notierte in seiner im Kritischen Gewerkschaftsjahrbuch 1983/84 veröffentlichten Chronik der Arbeitskämpfe 1982/83 lakonisch, dass »wenn einem zu Gewerkschaften, denen nichts mehr einfällt, auch nichts mehr einfällt, [...] die Chronistenpflicht« bliebe. Er übersah, dass der letzte erfolgreiche Kampfzyklus der westdeutschen Arbeiterbewegung jedoch erst ein Jahr später mit dem Konflikt um die 35-Stunden-Woche beginnen und zugleich beendet werden sollte. Das Jahrbuch erschien immerhin noch bis 1988/89. Und inzwischen war - bis Mitte der 1980er Jahre auch mit der Finanzierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft - eine ganze Bibliothek an kritischer empirischer Gewerkschaftsforschung entstanden.

Gesellschaftskritik und Gewerkschaftsforschung gingen von nun an aber eher getrennte Wege: theoretisch motivierte Gesellschaftskritik kam weitgehend ohne die Thematisierung von sich entpolitisierenden Gewerkschaften aus (vgl. dazu auch: Das Argument 162 von 1987 mit dem Titel »Untergang der Gemeinwirtschaft?«). Mehr noch: eine abstrakte Gewerkschaftstheorie, die - in falscher Deutung von Gramscis Einschätzung der Gewerkschaftspolitik in der Rätebewegung der 1920er Jahre - schon vorher weiß, dass gewerkschaftliche Organisationsformen »wegen ihrer bürokratischen Form dahin [tendieren], die Entfesselung des Klassenkriegs nicht zuzulassen« (»Gewerkschaften und Räte [II]«, 1920, zit.n. Riechers 1967, 69), löste die empirische Gewerkschaftsforschung weitgehend ab[2]. Und die verbleibende Gewerkschaftsforschung ›emanzipierte‹ sich von einem strukturierten Gesellschaftsbegriff, der noch Vorstellungen einer strukturellen Macht-Asymmetrie von Lohnarbeit und Kapital und antagonistischem Interessengegensatz transportierte; sie wurden für die Analyse ›neuer Managementkonzepte‹ und neuer Beteiligungsformen der Lohnarbeit und betrieblichen Interessenvertretungen nun obsolet erklärt.

Erst Ende der 1990er Jahre wurden diese Spaltungslinien erneut aufgebrochen. Eine gewerkschaftliche ›Revitalisierungsforschung‹ entstand, von der aus ein neues Zusammengehen von theoretischer Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und empirischer Gewerkschaftsforschung möglich schien (vgl. dazu auch Das Argument 256/2004: »Sich arm arbeiten? Das große Roll-back«). In den durch ›neoliberale Konterrevolutionen‹ zerschlagenen Gewerkschaften in den anglo-amerikanischen Gesellschaften und den durch die Krise des ›Kerngeschäfts‹ entpolitisierten Gewerkschaften des ›koordinierten Kapitalismus‹ regte sich Widerstand. Die Entstehung eines ›Prekariats‹ und die zu beobachtende Zunahme von Arbeitskämpfen - Abwehrkämpfe von Belegschaften und Gewerkschaften gegen Betriebsschließungen oder Angriffe auf bestehende Tarife und Keimformen der kollektiven Interessenpolitik jener subalternen Klassen, denen die Fähigkeit zur Organisation gemeinhin abgesprochen wurde, etwa im Kampf der migrantischen Erntearbeiter und -arbeiterinnen auf dem westlichen Peloponnes, in Florida oder Brasilien - bildeten ihre Basis. Dass die Maifeier - inzwischen von der gesellschaftskritischen ›Linken‹ ohnehin als bloßes ›Ritual‹ ad acta gelegt - »die einzige nichtparlamentarische Aktion der Massen geblieben« ist, wie Rosa Luxemburg (GW 3, 474) noch zu Beginn der institutionellen Arbeiterbewegung notierte, konnte so nicht länger behauptet werden.

 


Offen ist, ob die ›Renaissance der Kämpfe‹ unter den Bedingungen der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus und den durch sie veränderten Handlungskorridoren von Belegschaften und Gewerkschaftspolitik von Dauer sein wird. Viel Anlass zur Hoffnung geben die neueren Entwicklungen nicht. Sie sollten aber nicht nur geschildert werden. Dazu hat es wenig Sinn, entweder den prinzipiell korporatistischen Charakter der Gewerkschaftsapparate oder die neu ›zusammengesetzten‹ Arbeiterklassen zu »Göttern« der Befreiung zu erheben, was schon Marx und Engels kritisierten (MEW 2, 38). Man muss von den realen Kämpfen und Kompromissen ausgehen, die den Widersprüchen des Kapitalismus entspringen. Mehr noch: bereits im Schoße der alten Ausbeutungsverhältnisse sollten - materialistisch gedacht - sich die Bedingungen ihrer Überwindung durch Selbstbefähigung der subalternen Klassen entfaltet haben. Sonst bleiben sie - um mit Peter Weiss aus der Ästhetik des Widerstands zu sprechen - »für uns ohne Folgen« (Bd. I, 226). Die Arbeiterklasse hatte so nie »Ideale zu verwirklichen, sondern nur Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen« (MEW 25, 879).

Bisherige Argument-Hefte, die sich mit Gewerkschaftsthemen auseinandersetzten, konzentrierten sich immer auf solche historisch-konkreten Analysen der Klassenauseinandersetzungen und der sich darin vollziehenden Klassenbildungsprozesse: H. 61/1970: »Klassenstruktur und Klassenbewusstsein«; H. 62/1970: »Klassenbewusstsein und Klassenkampf«; H. 86/1974: »Klassenkämpfe in der BRD«; H. 164/1987: »Klassenkämpfe um Zeit«. In seinem Aufsatz »Zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Spontaneität und Organisationsentwicklung in der Geschichte der Arbeiterbewegung« im Argument 108 (1978) schrieb Wolfgang Abendroth:

Ohne Bestimmung des eigenen historischen Standorts und der geschichtlichen Entwicklungsformen, die die Klassenbewegung der abhängigen Arbeit hervorgebracht haben und immer erneut hervorbringen, lassen sich strategisch angemessene Anweisungen für ihre Praxis nicht fixieren. Deshalb muss sich die Wissenschaft von der Geschichte der Arbeiterbewegung stets darüber im Klaren sein, dass sie einen einheitlichen, alle seine Vereinzelungen und Besonderheiten umfassenden und in sich einordnenden Prozess darzustellen hat, der hilft, die gleichsam durch die divergierenden technischen Produktionsbedingungen und Produktionsmethoden des kapitalistischen Produktionsprozesses vorgegebenen Schichtendifferenzierungen innerhalb der eigenen Klasse gerade auch in ihren geschichtlichen Verankerungen erkennbar zu machen, ihre jeweiligen Schranken zu thematisieren und dadurch dazu beizutragen, sie im gemeinsamen Klassenbewusstsein aufzuheben.

Dahinter kann und soll nicht zurückgegangen werden, zumal sich eine solche Analyseperspektive im restrukturierten Kapitalismus erneut aufdrängt. In einer solchen Perspektive ist gewerkschaftliche Organisation und Politik, »in denen das Interesse [der Subalternen] sich Gestalt gibt« (Max Horkheimer), zu beständiger Selbstveränderung gedrängt. Nur die Bestimmung des konkreten »historischen Standorts« kann die Strukturprobleme und die Entwicklungsperspektiven von ›Gewerkschaftspolitik in der Krise‹ »fixieren« und darüber praxisrelevant werden.

Engels sprach von dem »stagnierenden Pfuhl des Elends«, der sich im Londoner Eastend ausbreitete, wo sich gewerkschaftlicher Lohnkampf nicht etablieren konnte (MEW 19, 253). Stillstand im Klassenkampf also. Und Gramsci hob hervor, dass es zwar »ein großer Erfolg der Arbeiterklasse« war, »eine industrielle Legalität durchgesetzt zu haben«; auf diesem Erfolg könnten sich die Lohnabhängigen und ihre gewerkschaftlichen Organisationen aber keineswegs ausruhen. Der erreichte Kompromiss müsse vielmehr ertragen werden, »solange die Kräfteverhältnisse für die Arbeiterklasse ungünstig sind« (»Gewerkschaften und Räte [II]«, 1920, zit.n. Riechers 1967, 69). Solche Perspektiven der ›Klassiker‹ richten den Blick also nicht auf die Verhältnisse, die eine momentane Konservierung einer historischen Situation befördern, sondern auf den gesellschaftlichen Prozess, den die momentan erreichten ›Kompromisse‹ für sie eröffnen. Nicht der gewerkschaftliche Abwehrkampf, der nicht ›nach vorne‹ gerichtet ist, ist reaktionär, sondern seine Kritik, die verkennt, dass verlorene Abwehrkämpfe nur die Bedingungen verschlechtern, die nächsten Kämpfe ausfechten zu können.

Im gegenwärtigen Krisenkapitalismus schüren Prekarisierungstendenzen der Lohnarbeit und drohende oder faktische Arbeitslosigkeit die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen und unterminieren deren Organisationsmacht - die »Macht der Zahl«, die »durch Uneinigkeit gebrochen« wird (MEW 16, 196). Widerständigkeit der lebendigen Arbeit gibt es nach wie vor. Oft verharren diese Kämpfe aber in »zersplitterten, in der Trübsal des Einzelloses verkümmernden« Formen, wie Rosa Luxemburg (GW 1/1, 603) formuliert hätte. Gewerkschaftspolitik der Zukunft muss sich daran messen lassen, ob es ihr gelingt, die isolierten Klassenkämpfe der Gegenwart in einen »fortlaufenden gesellschaftlichen Vorgang« (Henry Braverman) zu verwandeln, d.h. im globalen Hightech-Kapitalismus letztlich in einen Prozess der transnationalen politischen Konstitution der subalternen Klassen. Schon Gramsci wusste, dass Gewerkschaften als Interessenorganisationen »der Arbeiterklassen« nur durch diese selbst zu einer »bestimmten geschichtlichen Gestalt« finden (»Gewerkschaften und Räte [II]«, in: Ordine Nuovo, 12.6.1920, zit.n. Riechers 1967, 68). Die historisch auffindbaren ›Krisen der Gewerkschaften‹ sind Krisen dieser jeweiligen historischen Form. Im Prozess der Veränderung der Klassen werden gewerkschaftliche Organisationen und Politiken immer wieder in einen Prozess der Selbstveränderung gezwungen, der eine wirkliche historische Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung schafft.

Wie immer - und Rosa Luxemburg wusste das nur zu genau - geht es in solchen Situationen ›historischen Wandels‹, vor der wir aktuell wieder stehen, um das Verhältnis von Bewegung und Organisation. Die gegenwärtige »Große Krise« des Kapitalismus produziert aus sich selbst heraus keine progressiven Lösungen. Auch schafft sie aus sich selbst keine hinreichenden Bedingungen, in denen sich Gewerkschaften aus der Position der Defensive lösen können. Umbruchprozesse kapitalistisch formbestimmter Arbeit und Verschiebungen im politischen System zwingen die Gewerkschaften, sich neu zu positionieren. Und sie zwingen eine gewerkschaftsorientierte Wissenschaft, ihre Vorschläge ausgehend von den jeweils neu sich stellenden Problemen der Gewerkschaftspolitik zu formulieren. »Die Zeit der Krise« - so Marx in einem Brief an Lassalle im Januar 1855 - »ist [...] zugleich die der theoretischen Untersuchungen« (MEW 28, 612). Die Krise sollte zugleich aber auch genutzt werden, die sich wandelnde Fähigkeit der Arbeitenden zur Konstitution als Klasse empirisch zu untersuchen.



[1] So der Titel einer von Detlev Albers, Werner Goldschmidt und Paul Oehlke 1971 in der Reihe rororo-aktuell veröffentlichten Studie zu den Klassenbewegungen in England, Frankreich und Italien; vgl. dazu den Argument Sonderband AS 2 Gewerkschaften im Klassenkampf von 1974.

[2] An anderer Stelle hat Gramsci die ›vernichtende‹ Gewerkschaftsschelte als eindeutig rückwärts orientiert kritisiert: »Wer sich von den Gewerkschaften fernhält, ist heute ein verbündeter der Reformisten, kein revolutionärer Kämpfer: er kann anarchoide Phrasen dreschen, er wird um keinen Deut die eisernen Bedingungen, unter denen sich der wirkliche Kampf vollzieht, verändern können.« (»Die italienische Krise«, 1924, zit.n. Riechers 1967, 119)