Die Neuvermessung der SPD

Gegenwärtig erleben wir die dritte grundlegende Orientierungskrise der politischen Linken seit dem Bestehen der Bundesrepublik. Zwei Mal wurde sie mit einem Weg in die „Mitte“ der Gesellschaft beantwortet. Dieses Mal besteht im Weg zur „Mitte“ das Problem, nicht die Lösung.

Die Öffnung zur „Mitte“ als sozialdemokratische Antwort auf verheerende Wahlniederlagen, die hochfliegende politische Hoffnungen bitter enttäuschten, begann 1958 auf dem Stuttgarter Parteitag mit der Abschaffung des besoldeten engeren Parteivorstandes und der Stärkung der Bundestagsfraktion. Ein Jahr später folgte die Verabschiedung eines neuen Grundsatzprogramms auf dem Parteitag in Godesberg. Mit ihm kam die SPD in der Wirklichkeit der Bundesrepublik an. Die Umwandlung der klassischen Arbeiterpartei in eine linke Volkspartei enthielt ein Versprechen an die aufsteigenden Mittelschichten der modernen Industriegesellschaft: Wir vereinbaren erfolgreich soziale Sicherheit mit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit; wir geben dem Wettbewerbsgedanken mehr Raum neben einem demokratischen, aktiven, vorausplanenden Staat; wir befreien das Individuum von einengenden Traditionalismen und ermöglichen ihm sozialen Aufstieg auf der Basis einer größeren und gerechteren Bildungsbeteiligung. Und nicht zuletzt: Wir führen die Bundesrepublik heraus aus der sterilen Konfrontation des Kalten Krieges und entfalten eine neue Ostpolitik, die den Wandel durch Annäherung und nicht länger durch Abgrenzung sucht.

Hinter der Godesberger Wende steckte ein unwiderstehliches Angebot an eine FDP, die den Sozialstaatskompromiss akzeptierte und sich außenpolitisch aus dem Fahrwasser der Union herausmanövriert hatte. Für Willy Brandt und viele andere war die sozial-liberale Koalition von 1969 denn auch mehr als ein Gelegenheits- oder gar Verlegenheitsbündnis: Sie war eine historische Konstellation, in der die sozialdemokratische Arbeiterbewegung endlich mit dem aufgeklärten Bürgertum zusammenfand, um die Bundesrepublik 20 Jahre nach ihrem Entstehen ein zweites Mal zu gründen. Die zweite Gründergeneration wollte sich als eine „Neue Mitte“ (Willy Brandt) verstehen.1

Doch das sozial-liberale Projekt besaß Ende der 70er Jahre keinen gültigen Richtungskompass mehr und verkannte die Richtungsfragen der Zeit. Deswegen verlor es bei der Bewältigung der zweiten Rezession, in der Außen- und Rüstungspolitik ebenso wie in der Umweltdebatte, an Unterstützung. Klassische Arbeiterwähler wandten sich genauso ab wie Arbeitnehmer aus den Mittelschichten; zwischen alten und neuen sozialen Bewegungen steuerte ziellos die SPD. Sie stürzte in die zweite große Orientierungskrise nach 1945 und brauchte 16 Jahre, um im Bund wieder regierungsfähig zu werden – mit einem ähnlichen wie dem Godesberger Konzept.

Die zweite Krise als Krise des Fordismus

Diese zweite Krise begann anders als in den 50er Jahren nicht in der Daueropposition, sondern in der Regierung. Und sie traf auch nicht nur die deutsche Sozialdemokratie, die wie die PS in Frankreich zum ersten Mal nach dem Krieg in die Regierungsverantwortung gelangt war. Anfang der 80er Jahre endete eine beispiellose Phase sozialdemokratischer Mehrheiten in den westlichen Industrieländern. Die Labour Party (1979), die US-Demokraten (1980), die SPD (1982) wurden abgewählt und auch das linkssozialdemokratische Experiment in Frankreich (1984) endete. Allein in Skandinavien konnten sich die sozialdemokratischen Parteien an der Regierung halten, und auch in Südeuropa herrschte mit einiger Verspätung für die sozialistischen Parteien Aufbruchsstimmung.

Der Fordismus, eine sozialökonomische Konstellation aus Massenproduktion und Massenkonsum, abgesichert durch technologischen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und den Ausbau des Sozialstaats, geriet in eine Strukturkrise. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften als fordistisch geprägte Organisationen gerieten angesichts wirtschaftlicher Stagnation, dem Untergang der Schwerindustrie, revolutionärer Produktionsmodelle („Toyotismus“), dem Siegeszug der Dienstleistungsgesellschaft, neuen Wertorientierungen, Bedürfnisstrukturen und Lebenskulturen mit in eine Krise, in der neokonservative und neoliberale Antworten auf einmal ökonomisch plausibel und zukunftsgerichtet erschienen.2 Der Sozialdemokratisierung der Industriegesellschaften wurden so nicht nur die Geschäftsgrundlagen entzogen; die Kultur des neuen Kapitalismus köderte den flexiblen Menschen auch mit einem Freiheitsversprechen jenseits korporatistischer Verkrustungen und sozialstaatlicher Gleichförmigkeiten, so dass sich für die irritierten Mittelschichten ein neues Reich der Freiheit aufzutun schien.3

Diese zweite Orientierungskrise der SPD wurde durch den Zusammenbruch des Kommunismus, der den Kapitalismus von einer Systemalternative befreite, noch verlängert. Der traditionelle „Dritte Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der demokratische Sozialismus, verlor eine seiner beiden Leitplanken. Nicht wenige sahen die sozialistische Idee diskreditiert, beruhigten sich aber mit der Feststellung, der Kapitalismus habe weniger weltweit gesiegt als dass er vielmehr nur „übrig geblieben“ sei – mit all seinen fragwürdigen Vorzügen und nicht eingelösten Versprechen. Angesichts langwieriger Selbstvergewisserungsprozesse stellte Peter Glotz schlicht fest, dass die Linke „in einer Strategie der Opposition stehen geblieben sei und nicht in der Lage war, eine Strategie der Konstruktion einer neuen Ordnung“ auf den Weg zu bringen.4 Diese Einschätzung bestätigte sich insofern, als es bis in die zweite Hälfte der 90er Jahre dauerte, bis die Sozialdemokratie in Europa wieder mehrheitsfähig wurde – in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und anderswo. Die SPD hatte inzwischen zahlreiche Anleihen bei den skandinavischen Schwesterparteien genommen und diese programmatische Erneuerung mit dem Berliner Grundsatzprogramm von 1989 abgeschlossen. Doch sie kam damit zu spät – nicht nur wegen der deutschen Einheit. Inzwischen feierte der globale Kapitalismus seinen weltweiten Siegeszug, befeuert durch eine neoliberale Ideologie, die die Kräfte des Marktes radikal wie seit den Zeiten des Manchester-Kapitalismus entfesselte.

Dritter Weg zum dritten

Als Antwort auf diese neue Lage wurde in den 90er Jahren der „Dritte Weg“ umgeschrieben. Gesucht wurde nunmehr nach einer Positionierung der SPD gegenüber einer neoliberalen Bewegung, die die politische Agenda auch in Deutschland zunehmend diktierte.5 Dieser „neue Dritte Weg“, eine Positionsbestimmung zwischen der rot-grün orientierten Sozialdemokratie und dem Neoliberalismus, war dem Konzept der „Triangulation“ (Dick Morris)6 nachempfunden, also des Zusammenführens unterschiedlicher Politikentwürfe zur Gewinnung der Mehrheit, was 1985 in den USA mit der Gründung des Democratic Leadership Council (DLC) unter dessen erstem Vorsitzendem, Bill Clinton, begonnen worden war.

Unbeachtet blieb hingegen die radikale Umgestaltung der Sozialistischen Partei Italiens durch Bettino Craxi. Er brachte die eurokommunistische PCI von ihrem Kurs der Verständigung mit der Democrazia Cristiana (DC) ab und richtete stattdessen seine eigene Partei auf eine Dauerkoalition mit dieser aus. Dafür formte er den PSI um in ein bis dato einzigartiges Konstrukt aus „sozialdemokratischen Strukturen, sozialistischen Traditionen und neoliberalen Tendenzen“ (Wolfgang Merkel). Die eigentliche inhaltliche Leere wurde mit pompös inszenierten Parteikongressen überdeckt und durch ostentative Reformrhetorik übertönt. Der haltlose politische Opportunismus lockte zahlreiche Karrieristen an, die sich Aufstiegsmöglichkeiten in staatliche Funktionen erhofften. Craxi machte aus dem PSI eine autoritär geführte Partei mit neoliberalem Programm, die die Konfrontation mit den Gewerkschaften suchte und deren Funktionäre sich als zeitgemäße Manager eines schlanken Staates mit engen Verbindungen zur Wirtschaft verstanden.7

Immerhin war dieser Politik Erfolg beschieden. Sie hielt sich von 1980 bis 1994 in wechselnden Regierungen und stellte von 1983 bis 1993 sogar den Ministerpräsidenten. Es mag am Zusammenbruch der Ersten Republik mit ihrem im Kalten Krieg geformten Parteiensystem gelegen haben, dass dieses Experiment von anderen europäischen Linksparteien nicht als nachahmenswert empfunden wurde. Und als der PSI im Strudel staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen („mane pulite“) unterging, war dieses Parteienexperiment schon bald vergessen.

Der Blick richtete sich daher auf die USA. Hier machten die New Democrats unter den Clintons vor, wie man die neokonservative Vorherrschaft der Republikaner brechen, Wahlen gewinnen und die Macht sogar für eine zweite Amtszeit behaupten konnte. Dies fand Nachahmung in Gestalt von New Labour und der „Neuen Mitte“ der SPD. Nach dem Ende des „Rheinischen Kapitalismus“ und angesichts eines sich etablierenden globalen Kapitalismus, der versprach, wirtschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Früchte abzuwerfen, bestand die Versuchung darin, Sozialdemokratie und Marktliberalismus miteinander zu verbünden, um diesseits von CDU/CSU/FDP neue Mehrheiten zu sammeln.

Politisch knüpfte das daraus erwachsene Konzept an die Erfahrung an, dass politische Macht nur noch in punktuellen Bündnissen zu organisieren sei und nicht mehr auf strukturelle Mehrheiten aus gefestigten sozialen Milieus bauen könne. Deswegen zielten der „Dritte Weg“ und Progressive Governance machtpolitisch im Kern auf die Mitte der Gesellschaft, um die „flexiblen“ Mittelschichten für die Idee und die Partei der Sozialdemokratie zu begeistern.8

Der „Dritte Weg“ setzte dabei auf eine neue Synthese aus Modernisierungsanstrengungen und Gerechtigkeitsversprechen. Konkret manifestierte sich diese Synthese in der Verlagerung von Macht und Steuerungsleistung in die Gesellschaft hinein (Deregulierung); der Verlagerung von Verantwortung auf das Individuum (Workfare statt Welfare); und – damit zusammenhängend – in der veränderten Rolle des Staates („schlanker Staat“).

Das hat eine Zeit lang funktioniert: in Deutschland, in Großbritannien, in Schweden – ja fast in ganz Europa und in den USA. Heute müssen wir feststellen: Nicht nur die Reformbilanz ist widersprüchlich. Der angestrebte Kompromiss zwischen dynamischem Finanzkapitalismus, strauchelndem Sozialstaat und schwächelnder Demokratie kam nicht zustande, weil der Marktradikalismus ihn gar nicht wollte. Die großen sozialdemokratischen Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität wurden unter diesen Bedingungen gleichsam täglich dementiert.

Denn das Konzept der New Economy war weder mit sozialstaatlich ausgewogenen Leistungen zu vereinbaren, noch waren die Apologeten des entgrenzten Marktes bereit, sich dem Primat demokratischer Politik zu beugen. Die Bedingungen der Zusammenarbeit diktierten mächtige Lobbyisten und nicht die „Normalbürger“, maßlose Finanz- und Wirtschaftseliten und nicht demokratisch legitimierte Vertreter des Allgemeininteresses.

Die Botschaft des „Dritten Weges“ hatte jedoch ursprünglich gelautet: „Sicherheit durch Wandel“. Das hieß zum Beispiel: Umbau der Sozialsysteme, damit wohlfahrtsstaatliche Leistungen auch in Zukunft finanzierbar sind, mehr Arbeit durch die Ökonomisierung bislang vom Wettbewerb nicht erreichten Geländes. Doch der Geländegewinn des Marktes führte nicht unbedingt zu mehr Arbeitsplätzen, eher dagegen zu prekären und unterbezahlten Arbeitsverhältnissen, gegen die unter anderem durch die Einführung von Mindestlöhnen mühsam angesteuert wurde. Über die Modernisierung der nationalen Wohlfahrtsregime bestand anfänglich kaum Streit, aber weil zu oft mehr Flexibilität mit zu wenig Sicherheit erkauft wurde, begann auch hier der Versuch des Nachsteuerns mit klassischen Mitteln wie der Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I oder der Fortdauer von Frühverrentungssystemen. So wurden die Folgen eines Kompromisses repariert, der niemals einer war.

Wie aus der Öffnung zur Mitte eine haltlose Orientierung an der Neuen Mitte wurde

Der dritte Zyklus sozialdemokratischer Ermattung und Orientierungslosigkeit paart sich zudem mit einer erneuten Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft. Immer wenn die deutsche Sozialdemokratie regierte, hatte dies eine unliebsame Konsequenz: eine politische Partei, die sich links von ihr etablierte. Das war im Burgfrieden des Ersten Weltkriegs mit der USPD der Fall, in der Weimarer Republik mit der KPD, in den frühen 80er Jahren mit den Grünen, und das geschieht jetzt mit der Linkspartei. Das ist im Übrigen nicht allein in Deutschland so. In ganz Europa erleben wir eine Zunahme von Linksparteien. Das gilt für Schweden, Dänemark, Frankreich, Spanien. Allein die Bildung von kommunistischen Parteien erwies sich als ein folgenschwerer historischer Irrtum, der inzwischen beseitigt ist.

Wie konnte die neuerliche Aufsplitterung der Linken in kleinere Linksparteien als Konkurrenten zu den gewachsenen sozialdemokratischen Parteien geschehen? Weil aus der Öffnung zur Mitte eine haltlose Orientierung an der Neuen Mitte wurde! Von der SPD notdürftig kaschiert durch den Appell an eine „solidarische Mehrheit“, die gegen den Marktradikalismus jedoch nicht wirklich mobilisiert wurde.9 Die „Neue Mitte“ entpuppte sich denn auch politisch als wandelndes Debakel: Im Dezember 2008 nannten auf die Frage, welche Partei besonders kraftvoll handele und mit ihren Ideen und Anregungen die Debatten am stärksten präge, 9 Prozent die SPD, 40 Prozent die Union. Ebenso hatten nur 23 Prozent der SPD-Anhänger den Eindruck, ihre Partei beeinflusse den Diskurs der Republik stärker als andere, während die CDU-Anhänger davon zu zwei Dritteln überzeugt waren.10

Beide großen Volksparteien stehen in einer doppelten Modernisierungskrise. Die Union hat sich 2001 gesellschaftspolitisch liberalisiert und 2005 wirtschaftspolitisch sozialdemokratisiert mit der Konsequenz, dass sich das neoliberale Wirtschaftsbürgertum und die katholische Stammwählerschaft heimatlos fühlen. Die SPD hat sich ökonomisch liberalisiert, den Sozialstaat ökonomisiert und die Verteilungsfragen programmatisch neutralisiert. Dies hat zur politischen Heimatlosigkeit vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Gewerkschaften geführt oder sie in eine „neue Heimat“ getrieben. Gegen diese doppelte Modernisierungskrise wirkt nur Politik – das heißt: Parteien müssen wieder Richtungsfragen stellen und im Zentrum von Richtungsdiskussionen stehen.

Die SPD kam manchem vor wie ein schlecht geführtes Kaufhaus, in dem ständig das Sortiment umgeräumt wurde. Sie bot für jeden irgendetwas, aber für niemanden etwas Richtiges. Vor allem aber hatte das Kaufhaus den ihm ursprünglich innewohnenden Pioniergeist verloren und wurde nur noch als Marke am Markt hin- und herplatziert.11 Aus dem Konzept der Neuen Mitte erwuchsen so mehr Fragen als plausible Antworten, geschweige denn eine überwölbende Botschaft oder die nötige Kraft für ungelöste oder neu anstehende Probleme. Dieses Dilemma hat dazu geführt, dass entweder Traditionalisten und Sozialromantiker an Einfluss gewannen, der Neoliberalismus in Form der FDP fröhlich Wiederauferstehung feiern konnte oder aber konservative Parteien Erfolge erzielten – all dies können wir in der Bundesrepublik, aber auch in anderen Ländern derzeit beobachten. Die sozialdemokratischen Parteien erscheinen in dieser Konstellation als wenig konsistent; eher als ein bisschen von allem. Obwohl klar ist: Ein Zurück zur Geborgenheit vor 1989 gibt es ebenso wenig wie zur Jungfräulichkeit der New Economy, ein konservatives Aussitzen von Strukturproblemen so wenig wie das Verleugnen von Richtungsfragen.

Wandel durch Sicherheit

Heute geht es um „Wandel durch Sicherheit“. Die Bereitschaft der Menschen, Veränderungen zu unterstützen und ihnen eine Richtung zu geben, hängt davon ab, dass ihnen nicht falsche Sicherheit vorgegaukelt wird, während die Verantwortung beim Einzelnen abgeladen wird. Nicht der ermöglichende Sozialstaat, auch nicht der fürsorgende Sozialstaat, sondern der vorsorgende und gewährleistende Sozialstaat ist die Aufgabe. Progressive Governance braucht Progressive Government.

Der Neoliberalismus hat sich blamiert, der Staat ist rehabilitiert. Aber er ist schwächer als sich ihn viele inzwischen wünschen: Wirtschaftliche Krisendynamik, gesellschaftliche Krisenwahrnehmung und staatliche Krisenbewältigung fallen auseinander. Viele Bürgerinnen und Bürger stehen staatlichen Rettungsversuchen nicht deshalb skeptisch gegenüber, weil sie marktliberale Ansichten übernommen haben; sie befürchten einfach, dass sich der ausgezehrte Staat gerade jetzt übernimmt, wo er als letzte Rückversicherung gegenüber einer aus den Fugen geratenen Wirtschafts- und Finanzwelt gilt. Weiter befürchten die Bürger, dass die Lasten der Verschuldung der öffentlichen Hände ungerecht verteilt werden und sie die Leittragenden einer lang währenden staatlichen Handlungsunfähigkeit sind. Mit anderen Worten: Sie fürchten die Staatskrise mehr als die Wirtschaftskrise.

Die politische Linke muss dagegen deutlich machen: Wir brauchen einen aktiven und einen gestaltenden Staat, der über die nötigen Ressourcen verfügt. Alle Versuche der Mitteorientierung haben dazu geführt, dass hierüber Unklarheit bestand. Dies war der erste große Fehler. Der zweite bestand darin, so zu tun, als ob es rechts oder links nicht mehr gebe. Dies führte keineswegs zu einer Beruhigung der politischen Lage, sondern vielmehr zu einer nachhaltigen politischen Verunsicherung und dem Verlust an Perspektiven.

Norberto Bobbio hat einmal klargestellt: „Die beiden Begriffe ‚rechts‘ und ‚links‘ sind keine absoluten Begriffe, sondern relative. Es sind auch keine Personen oder Dinge bezeichnenden oder etwa ontologische Begriffe. Noch sind sie innere Eigenschaften des politischen Ordnungssystems. Es sind Orte des ‚politischen Raums‘. Sie stehen für eine bestimmte politische Topologie, die nichts mit politischer Ontologie zu tun hat: ‚Man ist nicht rechts oder links in dem Sinn, wie man sagt, man sei ‚kommunistisch‘ oder ‚liberal‘ oder ‚katholisch‘‘. Anders ausgedrückt: rechts und links sind keine Wörter, die ein- für allemal festgeschriebene Inhalte bezeichnen. Sie können, je nach Zeit und Situation, unterschiedliche Inhalte bezeichnen.“12 Für die politische Linke heißt das, sie kann niemals eine Institution von Dogmen, der zehn Gebote sein. Die Linke muss eine Organisation sein, die in der Lage ist, Räume des politischen Diskurses über politische Alternativen zu entwickeln, und auch, unter Rückgriff auf Themen und den Erfahrungsfundus der eigenen Praxis, neue Antworten zu geben. Gerade dies jedoch hat die „Neue Mitte“ in der Regierungsverantwortung ausgeschlossen: Alternativen zur Regierungspraxis? Unerwünscht! Erst kontrovers diskutieren, dann entscheiden und gemeinsam handeln? Unmöglich!

Mythos Konsens

Der Zwilling der Mitteorientierung ist der Mythos, vor allem Konsens konserviere die Demokratie. Dagegen hält die belgische Soziologin Chantal Mouffe. Ihr Argument lautet: Der Konsensansatz (dem gern in Deutschland gehuldigt wird) schafft mitnichten die Bedingungen für eine versöhnte Gesellschaft, sondern führt geradewegs zu neuen Antagonismen. Dieser Fehlentwicklung kann nur vorgebeugt werden, indem den tatsächlich vorhandenen Konflikten ein legitimer politischer Ausdruck verliehen wird. Kurzum: Richtungsunterschiede müssen in klaren politischen Alternativen statt lediglich in moralischen Kontroversen zum Ausdruck kommen.

Mouffe erklärt somit zum Problem, was viele für die Grundbedingung einer gereiften Demokratie halten. Nicht, dass nicht ein gewisses Maß an Übereinstimmung unter Demokraten in den Nachkriegsgesellschaften europäischer Diktaturen erforderlich gewesen wäre, aber gerade in gefestigten Demokratien ist ein stärkerer Antagonismus zwischen rechts und links notwendig, um gesellschaftliche Klärungen herbeizuführen. Sie demonstriert, dass die Anerkennung der Untilgbarkeit der Konfliktdimension keineswegs das demokratische Projekt untergräbt, sondern vielmehr die „notwendige“ Voraussetzung ist, die Herausforderungen demokratischer Politik in den Griff zu bekommen. Mouffe bilanziert: „Wir erleben gegenwärtig keineswegs das Verschwinden des Politischen in der Dimension der Gegnerschaft, sondern dass heute das Politische vielmehr im moralischen Register ausgetragen wird.“ Mit anderen Worten: Es besteht immer noch eine Unterscheidung, die aber statt in politischen, jetzt in moralischen Kategorien definiert wird. „Statt mit einem Kampf zwischen rechts und links haben wir es mit einem Kampf zwischen richtig und falsch zu tun.“

Für Mouffe sind politische Fragen nicht nur technische Probleme, die von Experten zu lösen sind. Sie erfordern vielmehr immer Entscheidungen und somit auch Alternativen: „Demokratische Politik kann sich nicht auf die Schaffung von Kompromissen zwischen Interessen oder Werten oder auf Überlegungen über das Gemeinwohl beschränken; sie muss einen realen Einfluss auf die Wünsche und Phantasien der Menschen nehmen. Um Leidenschaften für demokratische Entwürfe mobilisieren zu können, muss demokratische Politik einen parteilichen Charakter haben.“13 Ebendies haben viele an sozial-demokratischer Politik vermisst.

Den Fetisch der „Mitte“ überwinden

Die sozialdemokratische Bewegung war stets mehr als eine Bewegung moralischer Empörung und ziellosen Protests. Die SPD war auch nie nur eine Programmpartei. Sie war dann politisch erfolgreich, wenn sie ihr Programm mit gestalterischem Mut vortrug, wenn sie auch Bewegungspartei war, die Themen setzte und für sie mobilisierte.

Die Sozialdemokratie ist heute wieder w