Die politische Situation in Hessen ist noch immer geprägt von einer beträchtlichen Wut gegen die Regierung von Roland Koch, die sich seit 2003 in breiten Schichten der Arbeiter,
Schüler und Studierenden aufgestaut hat. Diese Wut hat sich entzündet
am Ausstieg Hessens aus dem Tarifvertrag der Länder; an der Kürzung von
einer Milliarde Euro im Landeshaushalt, die vor allem den Sozialbereich
schmerzhaft traf; an der Privatisierung der beiden Landesunikliniken
Gießen und Marburg; am Verkauf von zahlreichen Immobilien der
Landesregierung; an erheblichen Verschlechterungen im Naturschutz; an
den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten des Landes; an der
Beschneidung bzw. Abschaffung von Mitbestimmungsrechten für
Studierende, Eltern, Personalräte und an vielem mehr.
Enge Finanzspielräume
Die Finanzspielräume für eine mögliche Regierung Ypsilanti sind äußerst
eng, weil ihre eigene Partei im Bund seit 1998 dafür sorgt, dass die
Länder unterfinanziert sind. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD)
und der hessische Ministerpräsident Koch (CDU) sind die Architekten der
Unternehmenssteuerreform 2008, die allein dem hessischen Haushalt
jährlich eine Milliarde Euro weniger und den Kapitalisten bundesweit
15 Milliarden mehr einbringt. Steinbrück hat die Kasse geplündert und
Ypsilanti erklärt der LINKEN nun, dass sie leider leer ist.
Diese Arbeitsteilung muss die LINKE öffentlich kritisieren! Die
Bundestagsfraktion der SPD ist bereit, eine Steuerkürzung nach der
anderen für Unternehmen und Reiche zu erlassen und die Rüstungsausgaben
zu erhöhen. Sie ist aber nicht bereit, den Ländern die Mittel zu
gewähren, um dringend nötige Reformen zu finanzieren. Die LINKE darf
sich nicht zum Sachwalter einer solchen perversen Logik machen lassen -
nicht in Hessen, aber auch nicht in Thüringen, im Saarland oder
Sachsen. Die Kassen werden auch nicht voller, wenn die LINKE in den
Ländern statt fünf Prozent 30 Prozent der Stimmen gewinnt.
Rezessionsgefahr
Für die Finanzierung neuer Reformprojekte stehen in Hessen rund 100
Millionen Euro zur freien Verfügung. Das reicht nicht einmal, um den
Universitäten den Ausfall der Studiengebühren zurückzuerstatten. Die
Aussichten für die Finanzlage der Länder sind eher düster. Das zweite
Quartal 2008 hat eine wirtschaftliche Stagnation gebracht.
Dementsprechend werden die Steuereinnahmen zurückgehen. Das wird auch
den hessischen Landeshaushalt treffen.
DIE LINKE muss unter allen Umständen die Stimme von Gewerkschaftern,
Studierenden, Eltern und Schülern, sowie der Angestellten im
Öffentlichen Dienst bleiben. DIE LINKE sollte die neue Regierung nicht
nur an deren Wahlversprechen, sondern vor allem an den Hoffnungen und
Erwartungen der Menschen in Hessen messen.
DIE LINKE darf deshalb nicht in vorauseilendem Gehorsam ihre eigenen
Forderungen runterfahren auf das, was unter den gegebenen Bedingungen
finanzierbar ist. Es macht keinen Sinn, an einem zu kurzen Tischtuch zu
ziehen. Und es macht folglich auch keinen Sinn, in dieser Lage in die
Regierung zu gehen. Bei jeder Forderung würde die LINKE dann sagen
müssen, wie sie diese gegenfinanzieren - also anderswo kürzen - wollte.
Im Wahlkampf hat DIE LINKE für einen Politikwechsel gefochten, nicht
für die Fortsetzung neoliberaler Politik mit anderen parlamentarischen
Mehrheiten. Dabei muss es bleiben.
Politisches Profil schärfen
Die LINKE muss vor allem darauf achten, dass sie nicht ihr eigenes
politisches Profil schleift. Zu diesem Profil gehören unsere
Forderungen aus dem Landtagswahlprogramm, das unter dem Motto „Menschen
vor Profite - für ein soziales Hessen" stand: Die Schaffung von
landesweit 25.000 Arbeitsplätzen, 20.000 Lehrstellen, die
flächendeckende Einführung ganztägiger Gemeinschaftsschulen, die
Tarifbindung der Landesbeschäftigten, kein Ausbau umweltschädlicher
Flughäfen und die Wiederverstaatlichung der Universitätskliniken Gießen
und Marburg. Ohne Zugriff auf die Stellschrauben der Finanzpolitik auf
Bundesebene wird ein solcher Politikwechsel jedoch nicht finanzierbar
sein, und diese Schrauben werden erst dann gedreht werden, wenn es
große soziale Kämpfe gibt.
Deshalb wäre es auch kontraproduktiv, wenn Gewerkschaften und soziale
Bewegungen jetzt aus Rücksicht auf eine rot-grüne Landesregierung die
Füße still hielten. Rot-Grün hat sich nur dort bewegt, wo es in den
letzten Jahren in Hessen gesellschaftlichen Widerstand gab: bei Beamten
und Angestellten, bei Lehrern, Eltern und Schüler, bei Studierenden.
Diese Lehre gilt es zu ziehen und zu verallgemeinern.
Drahtseilakt
Die LINKE Hessen steht vor einem Drahtseilakt, bei dem sie nach links
und nach rechts abstürzen kann. Nach links abstürzen hieße, Bedingungen
für die Wahl Ypsilantis stellen, die große Teile unserer Wählerschaft
nicht nachvollziehen können.
Die größere Gefahr besteht freilich in einem Absturz nach rechts. Das
wäre der Fall, wenn wir unter der Parole „Alles ist besser als Koch" in
eine „Kleinere-Übel"- Position verfielen. Denn es gibt Schlechteres als
Koch: das wären Berliner oder italienische Verhältnisse in Hessen. Dort
hat sich die Linke jeweils aus dem Lager des gesellschaftlichen
Widerstandes verabschiedet. In Berlin hat die Beteiligung der LINKEN im
Senat an einer Politik des Sozialabbaus dazu geführt, dass sich ihr
Stimmenanteil gegenüber der letzten Abgeordnetenhauswahl nahezu
halbiert hat. In Italien hat die Schwesterpartei der LINKEN, die
Rifondazione Comunista, als Teil der Mitte-Links-Regierung unter Romano
Prodi (2006-08) eine Politik der Kriegsbeteiligung, des Sozialabbaus
und der Verarmung durch Steuererhöhungen mitgetragen. Immer hat die
Parteiführung argumentiert, man müsse dies tun, weil sonst das „größere
Übel" in Gestalt einer Rechtsregierung Berlusconi zurückkehren werde.
Man wollte das „kleinere Übel" retten und hat gerade dadurch die
Rückkehr des angeblich „größeren Übels" beschleunigt.
Kein Freibrief
Die LINKE darf sich nicht in die babylonische Gefangenschaft einer
rot-grünen Minderheitsregierung begeben. In Sachsen-Anhalt hat die PDS
sich zwischen 1994 und 2002 mit einem Tolerierungsvertrag die Freiheit
der Opposition nehmen lassen, ohne selbst an der Regierung
teilzunehmen. Unter einem solchen Vertrag in Hessen müsste die LINKE
auch Maßnahmen zustimmen, die sie in Widerspruch zu ihrem eigenen
Wahlprogramm brächten. Schlimmer als Koch wäre ein Verrat der LINKEN an
den jetzt entstehenden Hoffnungen und Erwartungen der Wähler. Davon
würde - wie das Beispiel Italien zeigt - die konservative Rechte um
Roland Koch, möglicherweise aber sogar eine rassistische,
neofaschistische Rechte profitieren. Die LINKE kann nicht verhindern,
wenn auch die hessische SPD Selbstmord auf Raten begeht. Aber sie darf
diesem Beispiel nicht folgen.
Freiheit zur Opposition bewahren
Die LINKE muss sich deshalb ihre Freiheit erhalten, einen unsozialen
Haushalt auch so zu nennen, ihn zu kritisieren und nötigenfalls auch
auf der Straße dagegen zu mobilisieren. Andernfalls muss sie beizeiten
die Fronten wechseln und sich gegen all die Menschen stellen, die zu
Recht für ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen. Die LINKE hat
ihr Wort gegeben, Koch abzuwählen, und das heißt gegenwärtig, der SPD
eine ehrliche Chance auf einen Politikwechsel zu geben - mehr nicht.
Ein wirklicher Politikwechsel wird nur möglich sein, wenn es soziale
und politische Kämpfe gibt, wie sie ansatzweise in den Protesten gegen
Studiengebühren in Hessen sichtbar geworden sind.
Ulrike Eifler ist Landesvorsitzende von DIE LINKE.Hessen.
Janine Wissler ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Hessischen Landtag.