Mein Lieblingsmärchen

Im Alter freigesetzt: Ludwig Bechsteins „Undank ist der Welt Lohn“

Als Kind tröstete das Märchen nur den tierlieben Knaben. Die Geschichte vom Schicksal verstoßener alter Tiere, die sich um einen Bäckergesellen sammelten, der die Gesetzes kapitalistischen Wirtschaftens ignorierte, „die Semmeln und Fastenbrezeln dem Herrn zu groß machte“ und ergo entlassen wurde: „Ich bin der Meister und vor der Tür ist dein.“ Ich übersah, welche Warnung darin steckte. Eigenes Scheitern eingestehend vis-à-vis meiner Schulkameraden aus dem lippischen Blomberg, die zum Außenminister oder kommandierenden General der multinationalen Brigade in Afghanistan avancierten, obwohl sie - im Unterschied zu mir – als Abiturienten Anfang der siebziger Jahre noch nicht durch politisches Engagement auffielen, da ahnte ich erst als Erwachsener, was Gesell, Esel, Hund, Katze und Hahn grummeln ließ, Undank sei der Welt Lohn. Lauter aus der Bahn geworfene Existenzen: Die Katze scheiterte als Ich-AG, der das Frauchen, Inkarnation des neoliberal demontierten Sozialstaats, die Fütterung bei Mäusemangel verweigerte. Interessierte mich - wie den Gesellen – einst nur, „zu prüfen, ob die Tiere nicht dankbarer seien als die Menschen“, so fasziniert heute, eingedenk des Altersrassismus in Betrieben, wie das Ausrangieren der Alten – der Europäische Gerichtshof rügte gerade, dass rot-grüne Reformer Deutsche ab 52 Jahren entrechteten – im Märchen problematisiert wird. Wie verhartzte Montagsdemonstranten erkennen die Ausgesonderten „Eintracht macht stark!“ und richten sich in gegenseitiger Hilfe nach Expropriation der Expropriateure ihre Gegengesellschaft ein: „und alle lebten fortan vergnüglich zusammen und vergaßen den schnöden Lohn der Welt, den schnöden Undank“.

„Deutsche Märchen und Sagen“ von Ludwig Bechstein erschienen 1961 im Aufbau-Verlag Berlin in einer DDR-Ausgabe, die sich im Vorwort „zu einer parteilichen Auswahl, welche die demokratischen, humanistischen und plebejischen Elemente in den Vordergrund treten läßt“, bekannte. Sämtliche Märchen Bechsteins gibt es u.a. in einer Sonderausgabe des Patmos-Verlags aus dem Jahr 2003, die 9,95 Euro kostet.

Verfaßt für FAZ-Reihe Mein Lieblingsmärchen