Miss Tschörmänie

Am Ausgang der Moderne war klar, das Unpolitische war nicht selten sehr
politisch, und das ständige Hervorheben des Politischen konnte sehr unpolitische
Folgen haben. In bezug auf das Verlagswesen heißt das: Die weitreichendsten
politischen Wirkungen haben oft gerade nicht die Richtungsverlage mit
Texten, die sich einer geistigen oder politischen Strömung zurechnen lassen
müssen, sondern die anderen. Der Verleger Vito von Eichborn spricht von »Publikumsverlagen« und davon, daß es keinen Sinn hat, auf »Zielgruppen« zu
schielen. »Images« seien wichtig, könnten aber nicht künstlich hergestellt werden.
Logische Konsequenz ist die Aufforderung: »Richten Sie sich ausschließlich
nach ihrem Geschmack!« Oder ist das auch falschherzig?
Als Eichborn das 2005 dem »Börsenblatt des deutschen Buchhandels« erzählte,
war er gerade dabei, seine Anteile an dem damaligen Europa Verlag
Hamburg aufzugeben. Dort hatte er seit 1999 Unterhaltungsliteratur wie Romane
von Lily Prior oder Elizabeth Buchan und Krimis von Franca Permezza
verlegt, aber auch Texte von Noam Chomsky. Es war das Konzept, das
Eichborn bereits mit dem von ihm 1980 gegründeten Eichborn Verlag verfolgt
hatte. Mit dem Bildband über die Hamburger Prostituierte Domenica
und das Kleine Arschloch des Comic-Zeichners Walter Moers finanzierte er
Die Andere Bibliothek, die einstmals Hans Magnus Enzensberger gegründet
hatte. 1997 verließ er den Eichborn Verlag.
Der Verlag behielt den Namen und blieb bei dem Konzept: Angeboten sind
unter der Rubrik des Ernsthaften aktuell die Neufassung des Simplicissimus
und ein Werk Winston Churchills über den »Kreuzzug gegen das Reich des
Mahdi«, gleichsam als Aufklärung in Sachen politischer Islam, und im Bereich
Unterhaltung »Yoga für Kühe« oder »Allah verzeiht, der Hausmeister nicht«.
Außerdem wird ein besonders aktuelles Werk angepriesen: »Miss Tschörmänie.
Wie aus Angie unsere Kanzlerin wurde«. Die Ankündigung des Werkes
ist überschrieben mit: »Zur optimalen Vorbereitung auf die Bundestagswahl
2009«. Und dann heißt es weiter: »Am 27. September ist Bundestagswahl.
Bereiten Sie sich vor!« Die Bildergeschichte hat eine Jetzt-Ebene: Gerhard
Schröder und Edi Stoiber sitzen am Nachmittag des Wahltages in einer Bar in
Berlin, trinken Bier beziehungsweise Wein, reden über die Kanzlerin und
warten auf die Wahlprognose um 18 Uhr. Sie hoffen natürlich, daß sie es nicht
schafft, doch zum Schluß schaut sie ins Bild und sagt: »Ihr Jungs seid nur Vergangenheit,
ich aber bin Geschichte.« Die Wiederwahl wird vorausgesetzt, sie
ist die Pointe des Comic-Buches.
Auf der Erzählebene wird über Angela Merkels Leben berichtet, wie sie in
der DDR studierte und promovierte, in der Wende in die Politik kam, »Kohls
Mädchen« wurde, ihn dann ausmanövrierte, wie auch alle politischen Konkurrenten
in der CDU, Parteivorsitzende und schließlich Kanzlerin wurde. Alles
schön erzählt, sicher nichts sachlich falsch, der Grundtenor: »Sie lernte,
wie gewohnt, schnell.« Die Zeichnungen sind von dem Karikaturisten Heiko
Sakurai, die Texte von der Journalistin Miriam Hollstein. Auf der Webseite des Verlages wird der Titel in der Ankündigung nochmals
variiert: »Wie konnte bloß aus Kohls Mädchen Deutschlands Mutti werden?«
Jetzt regiert sie nicht mehr nur, jetzt ist sie auch schon unser aller »Mutti«. Ist
hier nur der Comic komisch – oder schon der Text? Absichtlich oder unfreiwillig?
Es scheint ernstgemeint: »Der erste Comic über die deutsche Bundeskanzlerin.
Wie aus der Pfarrerstochter aus der Uckermark die erste Frau auf
dem Kanzlerstuhl wurde und wie sie ihre zahlreichen männlichen Parteifreunde
dabei aus dem Weg räumte. Deutschland, in den Stunden vor der Wiederwahl
der Angela Merkel …«
Dann folgen Pressezitate. Bild.de fordert: »Unbedingt lesen!« (Mit obligatem
Ausrufungszeichen.) Die Deutsche Welle ist auf gleicher Wellenlänge: »Pflichtlektüre
für den Wahlkampf«. Im Tagesspiegel heißt es nicht nur, dies sei »ein
erhellender Schnellkurs über die Dynamik politischer Macht«, sondern auch, es
sei »für jene Comic-Fans, die sich sonst wenig für Politik interessieren«.
Spätestens hier wird klar, womit wir es zu tun haben. Die CDU fürchtet, ihre
hohen Umfragewerte nicht bis Ende September halten zu können. Nun sollen
auf neuen Wegen neue Wähler angesprochen werden; junge Leute, die Comics
mögen und Wahlplakate wahrscheinlich nicht, sollen veranlaßt werden, der
Wiederwahl von Angela Merkel ihre Stimme zu geben. Auch wenn Vito von
Eichborn meint, es ginge nicht um Zielgruppen, hier ist es genau das. Gewiß,
es wird nicht vordergründig so sein, daß die CDU-Wahlkampfzentrale das direkt
bestellt hat. Hier macht »die Klasse an sich« für sich Wahlkampf.
Ein Schmäckerchen am Rande: Die Texterin arbeitet für die Welt am Sonntag.
Und in jenem Blatt schrieb Alan Posener, jahrelang Kommentarchef:
»Dieser Comic beweist erneut: Heiko Sakurai ist der beste politische Karikaturist
Deutschlands. Besser geht’s nicht.« Damit meint er auch, Miriam Hollstein
sei die beste Texterin. Das hat er so nicht gesagt, aber es ist der Sinn.
Das Kleine Arschloch ist übrigens auch wieder im Angebot. Falls jemand
eine Alternative sucht.